7

Als Fusil kam, sagte ihm der Sergeant vom Dienst, daß der Chief Inspector auf ihn wartete. Fusil blickte auf die Uhr und sah, daß er sich um eine halbe Stunde verspätet hatte.

Kywood, stattlich, mit dem satten, runden Gesicht eines Mannes, der selbstzufrieden ist, ließ es sich nicht nehmen, demonstrativ auf die Uhr zu blicken.

»Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, Sir«, sagte Fusil, als er um den Schreibtisch herumging und sich setzte. »Die Obduktion hat länger gedauert.«

Nach einigem Nachdenken kam Kywood zu der Ansicht, daß die Entschuldigung stichhaltig war. »Können Sie jetzt die beiden Männer identifizieren?«

»Mit großer Sicherheit, Sir.« Fusil zog das Notizbuch aus seiner Tasche. »Einer der toten Männer war ein Meter zweiundsiebzig groß, der andere war über einsachtzig. Aus den Personalunterlagen der Firma geht hervor, daß Bleather einszweiundsiebzig und Locksley ein Meter zweiundachtzig groß war. Der größere der beiden Männer hatte eine Verletzung am Oberschenkelknochen, und vom Manager wissen wir, daß Locksley vor einiger Zeit das rechte Bein gebrochen hatte. Der kleinere der toten Männer hatte ein Gebiß, und die beiden Gebißplatten haben das Feuer so überstanden, daß wir sie untersuchen lassen können. Wir nehmen mit Bleathers Zahnarzt Verbindung auf.«

Kywood zündete sich eine Zigarette an. Er klopfte auf die Zeitung, die auf dem Schreibtisch lag. »Haben Sie schon die Schlagzeilen gesehen?«

»Einige schon. Und die Leute von der Presse waren hinter mir her, um Material für weitere Schlagzeilen zu bekommen. Ich habe für heute mittag eine Pressekonferenz einberufen, weil das die einzige Möglichkeit ist, mir die Reporter vom Halse zu halten. Möchten Sie das übernehmen?«

»Ich bin sicher, daß Sie das ebensogut können«, sagte Kywood.

Kywood übernimmt nie etwas, wenn er fürchtet, er könnte ein falsches Wort sagen, und das auch noch vor Zeugen, dachte Fusil sarkastisch.

»Haben Sie bereits alle Wächter überprüft?« fragte Kywood.

»Wir sind dabei, ihre Konten zu überprüfen.«

»Die Verbrecher müssen ihre Informationen aus der Firma bekommen haben.«

»Das ist schon möglich.«

»Es ist mehr als möglich. Nur die Männer der Sicherheitsfirma kannten die einzelnen Verteidigungsvorkehrungen des gepanzerten Lastwagens; nur sie wußten, wie man sie ausschalten kann. Nur sie wußten, welchen Weg der Wagen von der Bank zur Fabrik fuhr.«

»Die Route ist die einzig vernünftige zwischen der Bank und der Fabrik. Über die Verteidigungsvorkehrungen des Lastwagens konnten sich die Verbrecher auch durch Angehörige der Firma informieren, die die Lastwagen herstellt.«

»Und woher wußten sie, daß gestern besonders viel Geld transportiert wurde?«

»Es ist allgemein bekannt, daß die Fabrik Betriebsferien macht, und daß die Arbeiter ihr Urlaubsgeld für zwei Wochen erhalten.«

Kampfeslustig sagte Kywood: »Und ich sage Ihnen, Bob, daß die Informationen aus der Sicherheitsfirma kamen.«

»Ich habe ja gesagt, daß das möglich ist. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es auch andere Möglichkeiten gibt.« Fusil versuchte, sich die Pfeife anzuzünden. Sie zog nicht richtig, deshalb drehte er den Stiel ab und blies durch.

»Was ist mit den beiden Wächtern, die im Krankenhaus liegen?« fragte Kywood. »Haben sie etwas sagen können?«

»Die Ärzte erlauben noch keine Vernehmung. Ich habe einen Mann im Krankenhaus postiert, der uns sofort anruft, wenn wir mit den beiden reden können.«

Kywood tupfte die Asche seiner Zigarette ab. »Und das Labor?«

»Von denen habe ich noch kein Wort gehört«, erwiderte Fusil. »Es ist aber auch noch früh.«

»Es ist nicht mehr früh, wenn man eine solche Publicity bekommt!« schnarrte Kywood und klopfte wieder auf die Zeitung, die auf seinem Schoß lag.

Fusil riß ein Streichholz an und zündete seine Pfeife an.

»Haben Sie aus Ihren Informanten noch nichts herausbekommen?« wollte Kywood wissen.

»Ich tue, was ich kann. Haben Sie schon gehört, ob der Chief Constable uns ein paar hundert Pfund für gescheite Informationen zur Verfügung stellt?«

»Noch nicht. Das braucht seine Zeit.«

»Es sieht so aus.«

»Was soll das heißen?«

»Nichts, Sir«, sagte Fusil dumpf.

Kywood erhob sich. »Sie haben mir nichts Konkretes gesagt, was ich dem Chief Constable berichten könnte.«

»Warum sagen Sie ihm nicht, daß alles in guten Händen liegt, Sir?«

»Das hoffe ich, Bob.« Er ging.

Fusil lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er wollte ein wenig nachdenken, bevor er sich an die nächste Arbeit machte. Es tat sich nichts. Die Verbrecher waren echte Profis gewesen, und sie hatten alle Spuren vernichtet. Die beiden Wächter mußten Zeit gehabt haben, um der Bande bei der Arbeit zusehen zu können, deshalb waren sie ermordet worden. Das Feuer war mit Magnesium und Benzin gelegt worden. Die Verbrecher konnten sicher sein, daß alles verbrannte, worauf es ihnen ankam.

Seine Pfeife war ausgegangen, und er zündete sie wieder an. Weil er alle Verbrecher haßte und sich persönlich angegriffen fühlte, wenn sie nicht bestraft wurden, wurde er ungerecht und ungeduldig, wenn er in den Ermittlungen nicht weiterkam.

Plötzlich überkam ihn ein Hauch von Optimismus. Daß die Bande aus Profis bestand, daran gab es gar keinen Zweifel. Aber konnte nicht gerade das ein Fehler sein? Es gab wenige Verbrecher in Fortrow, die zu einer solchen Tat fähig waren, und diese wenigen waren leicht zu überprüfen.

Also mußten auswärtige Ganoven den Job geplant und ausgeführt haben. Und sie mußten sich eine ganze Zeit vorher genau umgesehen haben, um sich mit den Gewohnheiten und der Umgebung vertraut zu machen. Ihr Auftauchen mußte doch bemerkt worden sein.

Fusil beschloß, in der Stadt durchsickern zu lassen, daß er zweihundert Pfund für den richtigen Tip ausgeben würde. Wenn der Chief Constable sich dazu durchringen würde, diesen Betrag tatsächlich auszuzahlen, war es gut. Wenn nicht, müßte man dem Informanten dann eben sagen, daß er Pech gehabt hatte.

 

Es war Viertel vor eins, als Kerr über den Bürgersteig ging und sich fragte, was es wohl zu essen gab. Samstag und Sonntag waren schlechte Tage in der Kantine. Die zivilen Arbeitskräfte hatten nichts dafür übrig, an den Wochenenden zu arbeiten, und nur das Angebot der doppelten Bezahlung hatte sie dazu bringen können, am Samstagnachmittag und sonntags einen Notdienst zu versehen. Das Essen schmeckte nach Dosen oder Tiefgekühltem, und wenn es zufällig einen anderen Geschmack hatte, war das ein glücklicher Zufall.

Braddon saß an seinem Stammtisch am Telefon. Als Kerr die unterste Treppenstufe erreicht hatte, rief Braddon ihm entgegen, daß Fusil ihn sehen wollte. Fluchend ging Kerr zurück zum Büro des D. I.

»Wo waren Sie?« schnarrte Fusil.

»Bei Groombridge, Sir, Einbruch-Diebstahl.«

»Ich habe auf Ihren Bericht gewartet.«

»Ich habe Sergeant Braddon gesagt, Sir, daß Miss Railton …«

»Ich weiß genau, was Sie ihm gesagt haben, aber jeder Bericht muß direkt an mich gemacht werden, sobald es möglich ist.«

»Sie waren nicht im Revier, Sir.«

»Verdammt noch mal, ich weiß genau, wo ich nicht war.«

Es entstand eine Pause. Kerr spürte, wie seine gute Laune schwand, und er dachte an seine Prophezeiung, daß die Explosionsgefahr sich noch steigern würde. Fusil, schon an ruhigen Tagen ein scharfer Hund, wurde jetzt rasiermesserscharf.

»Nun?« schrie Fusil.

Kerr riß sich aus seinen Gedanken los und berichtete von seinem Gespräch mit Miss Railton. Er fügte hinzu, daß er den Austin zum Revier zurückgefahren hätte, damit er hier untersucht werden könnte.

Fusil rieb sich das Kinn. »Was für ein Auto war das?«

»Sie konnte es nicht beschreiben, Sir, sie sagte nur, daß es groß und rot gewesen wäre.«

»Ach du lieber Himmel! Ihr wird doch wohl sonst noch etwas aufgefallen sein?«

»Augenscheinlich nicht, Sir.«

»Oder haben Sie das ganze Gespräch versaut, weil Sie es wieder in Ihrer unnachahmlichen und arroganten Art geführt haben?«

»Wenn Sie glauben …« begann Kerr, hielt sich dann aber zurück.

»Wenn ich was glaube?« fragte Fusil, und seine Stimme klang gefährlich.

»Wenn Sie glauben, Sir, daß ich das Gespräch nicht richtig geführt habe, dann wäre es doch ein guter Gedanke, wenn Sie selbst zu ihr gingen.«

Fusil zeigte seine Wut, sagte aber nichts. Das Telefon klingelte. Er hob den Hörer auf, hörte zu, sagte, jemand würde sofort vorbeikommen, und unterbrach die Verbindung.

»Das Krankenhaus sagt, daß die Wächter befragt werden können. Gehen Sie hin.«

»Ja, Sir.«

»Okay, dann gehen Sie schon. Ich will, daß sie heute noch befragt werden, nicht morgen.«

Kerr ging aus dem Zimmer und dann zurück in die Kantine, wo er sich Fischstäbchen, Erbsen und Pommes frites bestellte. Er setzte sich an Braddons Tisch und bemerkte, daß Fusil offensichtlich menschlicher würde, denn er hätte von sich aus vorgeschlagen, daß sein Detective Constable zuerst was Vernünftiges in den Bauch bekäme, bevor er zum Krankenhaus ginge. Braddon blickte erstaunt hoch, sogar mißtrauisch, sagte aber kein Wort.

Im Krankenhaus angekommen, sprach er zunächst mit dem Polizisten, der dort postiert war. Von ihm erfuhr Kerr, wo Fish und Young lagen. Eine Krankenschwester, steif und diensteifrig, führte ihn ins Zimmer.

Fish lag auf dem Rücken; er hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht sah ungesund grau aus. Plötzlich wurde er von einem tiefen, hartnäckigen Hustenanfall geplagt, und er setzte sich auf, um die Schmerzen zu verringern.

Kerr stellte sich vor. Fish hustete weiter. Der Schmerz trieb weiße Farbe in sein Gesicht.

Kerr holte sein Notizbuch aus der Tasche, schlug eine neue Seite auf und trug Datum und Zeit ein. »Können Sie mir kurz mal das erzählen, an was Sie sich noch erinnern können?«

Fish spuckte in einen Napf. Eine Schwester blickte zur Tür herein, lächelte knapp und professionell und ging wieder.

Kerr wollte Fish zum Sprechen bringen. »Hatten Sie einen Verdacht, daß Sie verfolgt wurden?«

Fish schüttelte den Kopf. Er begann wieder zu husten, und nachdem er erneut ausgespuckt hatte, sagte er: »Wir haben nichts geahnt.«

Er verfluchte die Verbrecher in einer Stimme, die nur wenig mehr als ein Flüstern war. Er haßte sie wegen der Schmerzen, die er aushalten mußte, aber noch mehr, weil er das Vertrauen in sich selbst verloren hatte, was in all den Jahren bei der Armee und bei der Sicherheitsfirma niemand geschafft hatte.

»Können Sie mir sagen, an was Sie sich erinnern?«

»Wir fuhren ganz ruhig und normal und kamen an einen Abschleppwagen heran.« Fish lehnte sich gegen seine Kissen zurück und schloß die Augen. »Er fuhr sehr langsam, aber ich habe mir nichts dabei gedacht … Plötzlich blieb er stehen, und ich mußte hart auf die Bremse gehen. Ein Kerl springt heraus, rennt herum und sprüht Gas in den Ventilatorschlauch. Ich wollte was tun, aber … Himmel, ich dachte, ich sterbe!« Wieder bekam er einen schweren Hustenanfall.

»Konnten Sie den Mann genau sehen? Konnten Sie nicht einen Blick auf sein Gesicht werfen?«

»Er hatte einen Strumpf drübergezogen.«

»War es ein großer Mann?«

»Er hielt sich gekrümmt.«

»Aber glauben Sie, daß es ein großer Mann war?«

Fish antwortete nicht.

»Was hat er angehabt?«

»Seine Jacke war … Ich kann mich nicht erinnern.« Er brach ab, weil wieder ein hartnäckiger Husten seinen Körper erschütterte.

»Entschuldigen Sie«, sagte Kerr. »Aber wir wollen die Kerle natürlich schnappen.«

»Das wünscht keiner mehr als ich. Wenn ich diese Schweine in die Finger kriege … und was sie mit den anderen gemacht haben! Einfach erschossen! Tiere sind das, jawohl, diese Mörder sind Tiere!«

Kerr stellte noch ein paar Fragen, dankte Fish und ließ ihn in Ruhe. Er ging zum nächsten Bett und sprach mit Young, der offenbar nicht so mitgenommen war wie Fish; er redete sich seine verbitterte Wut von der Seele, war aber nicht in der Lage, den wenigen Informationen noch etwas Neues hinzuzufügen. Auch er hatte den Abschleppwagen im Auge gehabt und sich gefragt, warum der Fahrer wohl glaubte, die Straße für sich gepachtet zu haben, und kurz darauf flog er schon mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe, weil Reggie Fish so scharf auf die Bremse gehen mußte. Ein Zwerg von einem Mann war aus dem Abschleppwagen gesprungen, und er, Young, hatte gerade die Tür aufreißen wollen, als das Gas hereinzuströmen begann. Wenn das Gas nicht gewesen wäre, dann hätte er sie so verdroschen, daß ihre eigenen Mütter sie für ein halbes Pfund Gehacktes gehalten hätten. Alles war so schnell geschehen, daß er nicht in der Lage gewesen war, sich den Fahrer des Abschleppwagens anzusehen. Er glaubte, daß der Wagen hinter ihnen ein großer Jaguar gewesen war, aber mehr wußte er nicht.

Kerr ging. An der Tür traf er eine Schwester mit rotem Gesicht. Sie sah vielversprechend aus, aber als er sie anlächelte, reagierte sie stocksteif.

 

Rowan ging an einem Juweliergeschäft auf der High Street vorbei, blieb dann aber stehen und ging zwei Schritte zurück, um die Auslagen im Schaufenster zu betrachten. Die Stücke waren nicht sehr gut, aber die kleine antike herzförmige Brosche – die würde Heather gefallen! Einen verlegenen Augenblick lang rechnete er nach, ob er genug Geld hätte, um sie zu kaufen, aber dann schob er diesen Gedanken verärgert von sich. Man kauft keinen Schmuck unter fünfzig Pfund, und woher sollte ein D. C. fünfzig Pfund nehmen? Die hatte er erst übrig, wenn er krumm wie ein Angelhaken war.

Wenn Rowan an Heather dachte, vermischten sich in ihm Verbitterung und das Gefühl herzzerreißender Verlorenheit. War sie ihm untreu, oder tat sie nur so, um ihn zu ärgern? Sie war sehr schön und konnte in jedem Mann die Leidenschaft wecken.

Er ging weiter und kam an den Nebeneingang der zweiten Bank. Er drückte auf die Klingel, und nach einer kurzen Zeit wurde ein kleines Metallstück in der Tür zurückgeschoben. Er wies sich aus, die Tür wurde aufgeschlossen, und er ging hinein. Der Assistent des Filialleiters strahlte Selbstherrlichkeit durch alle Poren aus.

Sie gingen zum Büro des Filialleiters. Der Bankmensch setzte sich hinter den großen Schreibtisch, legte seine Ellbogen auf die Tischplatte und legte die Fingerspitzen aneinander. »Sie möchten etwas über das Konto von Mr. Fish wissen? Er gehört nicht zu unseren großen Kunden.«

Es zuckte um Rowans Mund. Glaubte dieser Bankheini, Rockefeller zu sein?

»Ich habe Fotokopien des Kontos zusammenstellen lassen. Daraus werden Sie sehen, daß die größte eingezahlte Summe bei fünfundzwanzig Pfund liegt.«

Rowan warf einen Blick auf die Fotokopien, aus denen eindeutig hervorging, daß kein größerer Betrag, den Fish für Informationen von den Verbrechern bekommen hätte, eingezahlt worden war.

»Hat seine Frau auch ein Konto bei Ihnen?«

»Nein, auch sonst niemand seiner Familie.«

»Hat er bei Ihnen Wertsachen deponiert?«

»Nein, nichts, Inspector.«

»Constable«, verbesserte Rowan säuerlich.

»Ich bin sicher, daß das nur eine Frage der Zeit ist, bis Sie befördert werden.« Der Assistent des Filialleiters kicherte.

Rowan faltete die beiden Fotokopien zusammen und verstaute sie in seiner Tasche. »Ich muß Ihnen eine Quittung geben.«

»Sparen Sie sich die Mühe.«

»Vorschriften.« Rowan schrieb eine Quittung aus und ging, und er war froh, als er draußen wieder vom Sonnenschein empfangen wurde. Er blieb einen Augenblick stehen und dachte nach. Er hatte jetzt bei zwei Banken nach Fishs und Bleathers Konto gefragt, und er hatte sich auf dem Postamt nach Youngs Sparbuch erkundigt. Überall hatte es sich um kleine Beträge gehandelt, und er war überzeugt, daß es bei der letzten Bank nicht anders sein würde.

Heather arbeitete in diesem Augenblick wieder als Modell. Vor einem Monat hatte er verlangt, daß sie ihre Arbeit aufgab, aber sie hatte ihm nur ins Gesicht gelacht. Wer sollte denn ihren jetzigen Lebensstandard bezahlen, wenn sie nicht ein bißchen Geld dazuverdiente? Aber, dachte Rowan, und ein Schauer lief über seinen Rücken, wie verdiente sie ihr Geld!

 

Welland, der stets gutgelaunte Welland, unterhielt sich mit Mrs. Locksley, der Mutter von Boyd Locksley. Sie saßen im Wohnzimmer, das mit nicht zusammenpassenden Möbelstücken eingerichtet war. Sie war eine ältere Frau, trug schwarz, und auf ihrem Gesicht hatten sich die Linien eines harten, traurigen Lebens eingegraben. Sie sprach mit einer dumpfen Stimme, als ob sich kein Gefühl mehr in ihr regte.

»Boyd war ein guter Junge. Seit sein Vater gestorben ist, hat er sich um mich gekümmert.«

Welland war ein wenig überrascht, daß sie so ruhig war. Er sah ihr nicht in die Augen.

»Er gab mir fünf Pfund in der Woche«, sagte sie. »Er ging sehr viel mit seinen Freunden aus, aber er gab mir immer fünf Pfund.«

»Wissen Sie, wohin er immer ging?«

»Wohin?« Sie warf Welland einen kurzen Blick zu. »Unten auf der Fairlight Road gibt es einen Club, da sind er und seine Freunde immer hingegangen. Wissen Sie, daß er ein Mädchen hatte?«

»Nein, das wußte ich nicht.«

»Sally. Sie ist nicht mehr hier gewesen … seit … seit es passiert ist.«

»Wo wohnt sie?«

»Nummer 44. Boyds Vater hat immer gesagt, daß ihrem Vater nicht zu trauen ist. Ihr traue ich auch nicht.«

»Hatte Ihr Sohn ein Auto?«

»Er hat immer ein Motorrad gehabt, und wie oft habe ich ihm schon gesagt, daß er sich eines Tages mal umbringen wird damit … Er ist immer so gerast.« Sie umklammerte die Lehnen des Sessels, in dem sie saß.

»Hat er sich oft ein neues Motorrad gekauft?«

Sie schüttelte den Kopf und sagte ein paar Sekunden lang nichts. »Das, was er zuletzt hatte, hat er von einem seiner Freunde gekauft. Es funktionierte nicht richtig, bis Boyd eine Menge Reparaturen hatte.«

Auch hier gab es keine Zeichen von plötzlichem Wohlstand. Welland fragte noch zehn Minuten lang, dann dankte er ihr und ging. Im Dienst-Hillman fuhr er zur Nummer 44 und sprach dort mit einer essigsauren Frau, die ihm sagte, ihre Tochter arbeitete in der Kunststoff-Fabrik, aber es wäre ihr lieb, wenn Welland nicht hinginge, die Leute könnten auf falsche Gedanken kommen. Welland sagte, das täte ihm leid, er könnte es aber nicht ändern. Locksley, sagte die Frau unheilvoll, wäre ihr schon immer ziemlich komisch vorgekommen.

 

An diesem Abend ging Fusil um zehn Uhr aus dem Haus und versprach Josephine, höchstens eine halbe Stunde wegzubleiben. »Lügner«, sagte sie liebevoll und küßte ihn zum Abschied auf die Stirn.

Er fuhr die zwei Kilometer zum Durall Park und hielt vor den Osttoren an, die jetzt geschlossen waren, in dem fruchtlosen Versuch, es den Müllkippern schwerzumachen, die sich seit Jahren schon diese Stelle aussuchten. Zehn Minuten später trat ein Mann aus dem Schatten, öffnete die Autotür und setzte sich auf den Sitz.

»Guten Abend, Mr. Fusil«, sagte er mit seiner jämmerlichen Stimme.

Fusil drehte den Zündschlüssel, startete den Motor und fuhr ab. »Nun?« fragte er, als er links abbog.

»Es ist schwierig, Mr. Fusil.« Der Mann hatte ein verrunzeltes, abgeschlafftes, schmutziges Gesicht.

Fusil nahm die linke Hand vom Steuer und zog ein paar Scheine aus der Brusttasche. Er warf sie dem anderen Mann in den Schoß.

Bedächtig zählte der Mann zweimal nach. »Das sind ja nur fünf, Mr. Fusil.«

»Glauben Sie, ich werfe Ihnen einen Hunderter hin, bevor ich weiß, was Sie haben?« antwortete Fusil aufgebracht. Er haßte und verachtete Informanten, weil sie Verräter waren, auch wenn es nur Verbrecher waren, die sie verrieten.

»Es ist schrecklich schwierig.«

»Das haben Sie bereits gesagt.« Fusil fuhr bis ans Ende einer Sackgasse und parkte dort. »Sagen Sie mir jetzt, was Sie wissen.«

»Es war keiner von den hiesigen Jungs, Mr. Fusil.«

»Weiter.«

»Viel weiter hab ich nichts«, sagte der andere ein bißchen verlegen.

»Wegen dieser Information werden Sie mich doch nicht hierherausgerufen haben.«

»Und es gibt auch keine Bande von auswärts.«

»Wenn es nicht jemand von hier war, dann muß es doch eine Bande von auswärts gewesen sein. Der Job ist nicht an einem Nachmittag geplant worden.«

»Trotzdem waren keine von auswärts hier.«

»Sie meinen, Sie haben nichts von ihnen gehört.«

»Ich habe mein Bestes …«

»Und Ihr Bestes ist keinen schrägen Penny wert.«

Der Mann legte seine Hand auf die Tasche, in die er die fünf Pfund gesteckt hatte.

»Hören Sie zu«, sagte Fusil barsch. »Ich will echte Informationen. Besorgen Sie die!«

»Mister, ich hab mein Bestes getan.«

»Dann gehen Sie jetzt noch mal, und sehen Sie zu, daß Ihr Bestes besser wird.«

Der Mann stieg aus dem Auto, überquerte die Straße und hastete in die Schatten hinein. Fusil drehte vor einer Garage, fuhr zurück und bog dann auf eine Seitenstraße zu den Docks ab.

Die Hafengegend war laut, dreckig, ungemütlich und gewalttätig. Seeleute, Flittchen, Zuhälter, Diebe und andere Ganoven lebten hier, liebten hier, tranken, kämpften und starben hier, manchmal eines gewaltsamen Todes. Die Verbrechensquote lag über dem nationalen Durchschnitt, und die Aufklärungsquote erreichte kaum die Hälfte des nationalen Durchschnitts. Opfer erinnerten sich an nichts, Augenzeugen waren blind, und die Schuldigen konnten auf allen sieben Meeren sein.

Fusil parkte unter einer Straßenlampe und stieg aus. Zwei Flittchen gingen die Straße hinunter, betrachteten ihn, schätzten ihn richtig ein und gingen weiter.

Er trabte hundert Meter die Straße hinunter zu einer Kneipe. Sie war gerammelt voll, und an der Bar klebte eine Meute schwedischer Seeleute, die schwer trank und laut redete. Er bestellte und zahlte zwei doppelte Whisky, und als der Wirt sie vor ihn stellte, ging er zu einem Ecktisch, der noch frei war. An einem Nebentisch saß ein junger Seemann in einer neuen Uniform, der betrunken an einer Frau herumstreichelte, die doppelt so alt war wie er und es mit Sicherheit darauf abgesehen hatte, ihm den letzten Penny aus der Tasche zu holen.

Fusil trank. Diese ganze Gegend war für ihn eine fast andere Welt. Sie war ihm unheimlich, und sie machte ihn wütend. Warum mußten sich Männer so benehmen wie hier? Wie konnten sie sich jeden Tag sinnlos betrinken? Wie konnten sie so ihr Geld wegwerfen?

Eine Frau kam in die Kneipe, blickte sich um, sah ihn und ging direkt auf seinen Tisch zu. Sie setzte sich das zweite Glas Whisky, das Fusil an der Bar gekauft hatte, an die Lippen und trank es in einem Zug leer. Weibliche Informanten waren selten, aber sie waren ausgezeichnet: Verbrecher scheinen nicht mit der Möglichkeit zu rechnen, daß eine Frau sie verraten könnte. Die Frau sah nicht schlecht aus, ihre Gesichtszüge waren hart, aber attraktiv. Fusil verstand ihre Motive nicht, er hatte das Gefühl, als wollte sie sich ständig selbst erniedrigen, und als hätte sie herausgefunden, daß ihr das mit Verrat von Einzelheiten aus der Unterwelt am besten gelänge.

»Haben Sie was gehört?« fragte er.

»Haben Sie ’nen Glimmstengel?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Dann holen Sie uns eine Schachtel, Schatz. Ohne Filter.«

Er kaufte eine Zwanziger-Schachtel. Sie öffnete sie mit zitternden Fingern, und als er ein Streichholz anmachte, sah er im Schein der Flamme an ihrer rechten Schläfe einen großen blauen Fleck.

»Es war niemand von hier«, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt und heiser – er war sicher, daß sie sich absichtlich heiser gab.

»Ist das sicher?«

»Ganz sicher, Mr. Fusil.«

Er holte seine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie. »Dann muß eine Bande von auswärts hiergewesen sein.«

»Nein«, sagte sie.

»Aber sicher! Der Job verlangte lange Vorarbeit.«

»Es war keine auswärtige Bande hier.«

Er war wütend. Er hatte ja geahnt, daß man sich auf Informanten nicht verlassen konnte, und doch hatte er gerade in diesem Falle fest damit gerechnet. »Sie müssen sich irren.«

»Es gibt ein paar Hunderter für die richtige Information«, sagte er.

»Das ändert auch nichts.«

Verdammt, dachte er wütend, die beiden Informanten haben beide dasselbe gesagt – und doch mußten sich beide irren.