Neunzehn

Astrid glitt vorsichtig von ihm herunter. Er wartete, bis sein Herzschlag sich beruhigte, und zog sie an sich, darauf bedacht, ihre Schulter nicht zu bewegen.

«Geht’s?»

Sie kicherte. «Hast du das nicht gemerkt?»

«O doch!» Er streichelte ihren Bauch.

«Ich bin überhaupt noch nicht müde», sagte sie und schob die Decke weg.

Er protestierte. «Es ist nach Mitternacht.»

«Wir können doch ausschlafen. Komm, lass uns runtergehen und ein Glas Wein trinken, das entspannt.»

Toppe stöhnte. «Entspannter als ich kann man gar nicht sein.» Aber er suchte doch zwischen den Decken nach seiner Schlafanzughose und stieg hinein.

Sie machten kein Licht, schlichen durch das schlafende Haus in die Küche hinunter und schreckten beide zusammen, als das Telefon in der Halle losschrillte.

Es war der Stadtbrandmeister. «Wir haben eine Brandleiche auf der Schanz.»

«Moment mal», meinte Toppe, «Schenkenschanz ist doch heute evakuiert worden.»

«Was weiß denn ich? Jedenfalls hat hier ein alter Schuppen gebrannt. Als das THW uns alarmiert hat und wir hinkommen, ist das Ding schon gelöscht, und drinnen liegt eine verkohlte Leiche.»

«Sind Leute da, Schänzer, meine ich?»

«Sehen tu ich keinen, brennt auch nirgendwo Licht, aber der Spritzenwagen aus dem Feuerwehrhaus steht hier, und von allein wird der wohl nicht losgerollt sein.»

«Ich komme sofort.»

«Nehmen Sie eine Taschenlampe mit, die Straßenbeleuchtung ist gerade ausgefallen. Anscheinend gibt’s überhaupt keinen Strom mehr auf der Insel.»

«Und wo finde ich Sie?»

«Ich fahre jetzt zurück, aber ich lasse eine Brandwache da, an der Roten Ecke.»

Toppe legte auf und wählte Ackermanns Nummer, aber es ging keiner an den Apparat. Wahrscheinlich war er noch bei seiner Familie in Holland.

Astrid kam aus der Küche und hielt ihm fragend ein Glas Rotwein hin.

«Geht nicht, ich muss zu einer Brandleiche in Schenkenschanz. Hast du van Gemmerns Privatnummer im Kopf?»

Bei van Gemmern wurde nach dem ersten Klingeln abgenommen, und Jimi Hendrix’ Gitarrenklänge dröhnten aus dem Hörer.

«Hier ist Toppe!»

«Sekunde!»

Das Gespräch dauerte keine zwei Minuten. Sie wollten sich an der Pontonbrücke treffen, und van Gemmern würde einen kleinen Generator und Lampen mitbringen.

 

Es war eine mondlose Nacht, und Toppe entdeckte die beiden THW-Männer erst, als sie direkt neben seinem Auto waren. Er stieg aus und gab ihnen die Hand. «Haben Sie eine Ahnung, was eigentlich genau passiert ist?»

«Wie man’s nimmt, wir sind ja erst seit zehn Uhr im Einsatz. Aber die Kollegen haben erzählt, dass die Schänzer einen ganz schönen Aufstand gemacht haben, als sie evakuiert werden sollten. Das hat ihnen aber nicht viel geholfen. Jedenfalls war die Insel um vier Uhr komplett geräumt. Danach sind die Höfe und das Vieh evakuiert worden, das hat bis nach acht gedauert. Seitdem ist keiner mehr über die Brücke hier gekommen.»

«Und was ist mit dem Brand? Die Feuerwehr sagt mir, der war schon gelöscht, als sie ankam. Also muss doch wohl jemand im Dorf sein.»

«Wundern würde mich das nicht», sagte der andere Mann. «Ich konnte mir sowieso nicht vorstellen, dass die ihre Festung im Stich lassen. Da müssen welche übers Eis zurückgekommen sein. Es gibt eine Stelle, da kommt man bis zur Mauerkrone hoch.»

«Ja, ich weiß», murmelte Toppe. «Und Sie haben nichts bemerkt?»

«Wie denn? Man erkennt ja kaum die Hand vor Augen. Außerdem haben wir die großen Lampen hier an und stehen im Hellen, und der Generator ist auch nicht gerade leise. Als wir um zehn kamen, war alles ruhig und dunkel. So gegen Viertel vor elf haben wir dann den Feuerschein gesehen.» Er drehte sich um. «Da kommt ein Auto.»

«Das wird die Spurensicherung sein.»

Van Gemmern war schon im Overall. Er lehnte sich rüber, öffnete die Beifahrertür und ließ Toppe einsteigen. «Morgen! Kann man bis direkt ran fahren?»

«Ich denke, schon.»

Sie fuhren über die Pontonbrücke, rollten langsam die Zufahrtsstraße entlang und dann durchs Fluttor.

Die Scheinwerferfinger huschten über Häuserwände mit dicht geschlossenen Rollläden. Das Dorf lag wie tot unter einer Glocke scharfen Brandgeruchs.

«Hier rechts», sagte Toppe. «Vorsicht, es ist sehr eng.»

Aber sie kamen nicht weit, ein roter Spritzenwagen blockierte die Straße.

Van Gemmern fluchte. Sie stiegen aus, und Toppe zog die Taschenlampe aus dem Mantel.

Ein Mann trat aus der Finsternis vor dem Haus, in dem Jens Molenkamp wohnte – der Feuerwehrmann, der als Brandwache zurückgelassen worden war. Toppe wechselte nur einen kurzen Gruß, aber van Gemmern spannte den Mann sofort ein. «Ich muss Licht bauen. Bist du so freundlich und packst mal mit an?»

Toppe stapfte durch Wasserlachen – anscheinend fror es nicht mehr –, er hatte wieder einmal seine Gummistiefel vergessen.

Der alte Schuppen neben Rose Wetterborns Haus. Das Dach und die Wände hatte das Feuer zerstört, nur die Stützbalken waren verschont geblieben. Toppes Lampenstrahl fuhr über die schuppig verkohlte Oberfläche des schwarzen Holzes. Alles war mit schmierigem Ruß bedeckt und troff vor Nässe. Ein ausgeglühter Gartenstuhl lag umgekippt, die Sitzfläche fehlte, man erkannte Klumpen von zerschmortem Plastik. Daneben die Leiche.

Hinter ihm platschende Schritte, van Gemmern war gekommen. Er legte Stative ab, dann richtete er sich auf, drehte den Kopf und schnupperte. «Benzin», sagte er. «Riechst du das nicht?»

«Du meinst …»

«Wir werden sehen.»

Die Leiche lag halb auf der Seite, die Beine angewinkelt, die Arme hinter dem Rücken grotesk verkrampft. Sie war zu einem großen Teil skelettiert, das Feuer war heiß gewesen, hatte aber offensichtlich nicht lange genug gebrannt, um alles Fleisch zu verkochen, teilweise hing noch versengtes Gewebe an den Knochen. Die Lippen hatten die Flammen gefressen, sodass die Zähne frei lagen, der Schmelz dunkel und gesprungen. Auch die Nase war verbrannt, ebenso das Haar und die Kopfhaut, die Augäpfel lagen zu schrumpeligen Kugeln verkocht in zu großen Höhlen. An den Beinen war kein Gewebe mehr, die Füße, ebenso wie die Hände, schwarze Stümpfe. Nur am Gesäß und an der Hüfte konnten sie Reste von Kleidung entdecken, ein dunkler Stoff, der mit blasigem Plastik und gekochtem Fleisch verschmolzen war.

Unmöglich zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, ob der Mensch jung oder alt gewesen war.

Toppe trat zur Seite, als van Gemmern anfing zu fotografieren, und schaute sich um. Da waren drei weitere Stühle, aufeinander gestapelt, ausgeglüht und verschmort, gut zwei Meter vom umgekippten Stuhl und dem Opfer entfernt, ansonsten war der Schuppen anscheinend leer gewesen.

Er stieg über verkohlte Bretter und eine Schlammpfütze hinweg und ging hinüber zum Feuerwehrmann. Ihm war übel.

«Haben Sie jemanden aus dem Dorf gesehen?»

«Nein, aber ein paar Mal hab ich gedacht, ich hätte was gehört. Waren aber vielleicht bloß Katzen. Bin echt froh, dass ihr da seid, ist verdammt gruselig.»

Toppe zündete sich eine Zigarette an und ging die wenigen Schritte bis zur Hauptgasse. Nichts, nur bleierne Stille. Was sollte er tun? Sollte er eine Hundertschaft anrücken und jedes Haus stürmen lassen? Wer war die Leiche? Es musste jemand aus dem Dorf sein. Wohin waren die Leute evakuiert worden?

«Helmut, kommst du mal?»

Van Gemmern zeigte auf die Fußstümpfe der Leiche und drückte ihm eine Lupe in die Hand. «Direkt über den Knöcheln.»

Toppe entdeckte eine wulstige Linie.

«An den Handgelenken dasselbe und dann hier am Stuhl.»

«Fesseln?»

«Sieht ganz so aus. Der Tote war auf diesen Stuhl gefesselt, dem ersten Anschein nach mit einem Kunststoffband. Dann hat jemand Benzin ausgegossen und in Brand gesetzt.»

Van Gemmern zog die Gummihandschuhe aus. «Ist nur vorläufig, ich muss noch eine Menge Analysen machen, aber dazu brauche ich Tageslicht und wachere Augen. Mit dem Leichnam kann ich nichts weiter anfangen, da ist jetzt Bonhoeffer gefragt. Ich habe den Bestatter schon angerufen, er ist unterwegs hierher. Auf alle Fälle müssen wir absperren. Und eine Wache brauchen wir auch.»

Toppe schaute auf die Uhr – zehn vor drei. Ihm war schwindelig vor Müdigkeit.

«Gut», sagte er, «ich rufe in der Zentrale an. Sie sollen gleich ein paar Leute mehr schicken, die das Dorf an den zentralen Stellen bewachen, damit hier keiner rauskommt … falls noch jemand drin ist.»

Er brauchte dringend drei, vier Stunden Schlaf, bevor er irgendeinen klaren Gedanken fassen konnte.

 

Astrid wachte auf, als er sich um zwanzig nach vier schließlich auf die Bettkante setzte. Sie sagte nichts, schlug nur die Decke zurück und schmiegte sich wärmend an seinen Rücken, als er sich endlich ausgestreckt hatte.

Sie weckte ihn um halb neun mit einem Becher Tee. «Jupp wartet unten auf dich. Er hat mir alles erzählt.»

Toppe setzte sich auf und trank gierig ein paar Schlucke, seine Zunge fühlte sich pelzig an. «Und wieso weiß der schon Bescheid?», fragte er heiser.

Astrid lächelte. «Du kennst ihn doch. Er hatte keine Ruhe, ist deshalb schon um sieben zur Wache gefahren, und die haben ihm von dem Brand und der Leiche erzählt. Und dann ist er auch noch van Gemmern über den Weg gelaufen, der mit irgendwelchen Chemikalien aus dem Labor kam.»

Toppe warf einen Blick auf den Wecker. «Mein Gott, wo nimmt der Kerl die Energie her? Ist Arend schon auf?» Jetzt trug seine Stimme wieder.

«Ja, Jupp hat ihn aus dem Bett geklingelt. Er ist schon auf dem Weg nach Emmerich, um sich die Leiche vorzunehmen.»

 

Am Fähranleger stiegen sie aus, um mit dem Mann vom Technischen Hilfswerk zu sprechen.

«Wie sieht et aus?», fragte Ackermann.

«Die Brandwache ist abgezogen worden, und vor einer halben Stunde ist einer von der Spurensicherung rübergefahren, da sind dann auch die beiden Streifenwagen zurück nach Kleve. Sonst hat sich nichts bewegt.»

«Sagen Sie, wohin hat man die Schänzer eigentlich evakuiert?», wollte Toppe wissen.

«Das Rote Kreuz hat in der Berufsschule ein Notquartier eingerichtet, aber so, wie ich gehört habe, sind da nur fünf oder sechs Leute aufgetaucht. Die anderen werden wohl bei Verwandten sein.»

«Oder se sind wieder zurück auffe Insel.»

«Da müssten sie schon verrückt sein bei der Wetterlage. Der Rhein wird unruhig.»

 

Das Dorf war genauso ausgestorben wie in der Nacht.

Van Gemmern hockte einsam und allein im schwarzen Schlamm, vertieft in seine Arbeit mit Lupe, Pinzette und Plastikbeuteln. Er hatte keine Menschenseele gesehen. «Ich habe die Bodenproben analysiert. Eindeutig Benzin als Brandbeschleuniger. Also war es wohl Brandstiftung.»

«Es war Mord», sagte Toppe harsch. «Und wenn die Leute vom THW nicht geschlafen haben, ist der Täter noch auf der Insel.»

«Et wär’ nich’ schlecht, wenn man wüsst’, wer dat Opfer is’», überlegte Ackermann.

Toppe ging nicht darauf ein. «Ich lasse jetzt Verstärkung anrollen. Wir brechen die Türen auf.»

«Warte ma’, Helmut, eins könnt’ man noch probieren.» Ackermann flitzte los, und Toppe blieb gar nichts anderes übrig, als ihm nachzulaufen.

«Wenn einer hier is’, dann is’ dat Molenkamp!», rief Ackermann über die Schulter. Dann ging er in Position und trat drei-, viermal mit aller Kraft gegen Molenkamps Haustür.

«Molenkamp!», brüllte er. «Wir wissen, dat du da drin bis’. Mach die Türe los, sons’ kannste wat verspannen. In ’n paar Minuten rücken hier hundert Bullen an, un’ ich garantier’ dir, wenn die hier fertig sind, kennste deine Schanz nich’ mehr wieder. Mach los, sofort!»

Er holte wieder aus, aber da wurde die Tür geöffnet, und das völlig verängstigte Gesicht von Molenkamps Schwiegertochter erschien im Spalt. «Nicht schießen», wimmerte sie. «Bitte, nicht schießen!»

Ackermann hielt in seiner Bewegung inne, völlig verblüfft. «Aber wir schießen doch nich’, Ria», sagte er sanft.

Aus dem Haus ertönte ein heiseres Kreischen, dann kam Molenkamp angerollt, giftig wie eine Viper, und schrie die Frau an. Sie brach in Tränen aus.

Toppe schob die Tür ganz auf. «Sie, Herr Molenkamp, reden gefälligst ab jetzt Hochdeutsch.» Er trat sehr nah an den Alten heran. «Der Spaß ist nämlich zu Ende.»

Von oben kam ein Geräusch. Da stand Ingenhaag auf der Treppe in einem gestreiften Schlafanzug.

Ackermann kicherte. «Verpennt oder wat? Haste hier dein Nachtquartier aufgeschlagen? Wie gemütlich! Ich könnt’ wetten, Paul Dellmann is’ au’ da oben.»

Ingenhaag nickte unbehaglich. «Und der Sohn.»

«Runter mit Ihnen allen», fuhr Toppe ihn an, «aber sofort!»

«Darf ich mich erst anziehen?», stammelte der Bauer.

Toppe beugte sich zu Molenkamp herunter. «In fünf Minuten will ich hier jeden sehen, der sich im Dorf versteckt, sonst lasse ich eine Hundertschaft anrücken und Sie alle verhaften. Haben Sie verstanden, jeden! Es ist mir egal, wie Sie das anstellen.»

Molenkamp schaute Toppe in die Augen, ohne einen Millimeter zurückzuweichen. Dann wendete er den Rollstuhl und verschwand im Hinterzimmer. Ein Telefonhörer wurde abgehoben. Die Schwiegertochter stand immer noch da und weinte hilflos.

Toppe drehte sich weg und ging wieder hinaus. In einigen Häusern wurde es lebendig. Zuerst wurden die Rollläden hochgezogen, dann öffneten sich die Haustüren, und die Männer kamen heraus. Als Erste näherten sich Fink und Dahmen, die beiden, die bei der Belagerung das Tor bewacht hatten, dann Klaus Voss, hinter ihm Jens Molenkamp im Schlendergang. Auch Ingenhaag, Dellmann und sein Sohn Uwe kamen nach draußen.

Sie alle schauten ihn an, Trotz im Blick, aber Toppe spürte auch Verunsicherung.

«Sind das alle?»

Keiner antwortete.

Molenkamp fuhr ihm mit dem Rollstuhl in die Kniekehlen. «Wir geben unser Dorf nicht auf! Die Schanz ohne ihre Männer, die sie verteidigen und schützen, hat es noch nie gegeben und wird es auch nicht geben. Wir brauchen keine von draußen. Wir sind die Einzigen, die wissen, was zu tun ist.»

«Ein Prediger. Lieber Gott», dachte Toppe, «die haben alle einen Dachschaden.»

«Ob das alle sind, will ich wissen!»

«Ja, alle.» Klaus Voss meldete sich. «Wir wollten uns abwechseln, jede Gruppe drei Tage.»

Toppe drehte sich zu Molenkamp. «Sie haben doch einen Raum, in dem Sie Ihre Lagebesprechungen abhalten, oben in der Schule. Wer hat den Schlüssel?»

«Ich hole ihn, Opa.» Jens Molenkamp lief ins Haus.

Als die Gruppe sich in Bewegung setzte, vorneweg Molenkamp, von seinem Enkel geschoben, stellte sich Ackermann neben Toppe. «Wenn de mir dein Handy gibs’, find’ ich raus, wer in dem Notquartier sitzt. Dann können wer scho’ ma’ ’n paar ausschließen.»

Er blieb stehen, während Toppe mit einigem Abstand der Prozession folgte. Das Schulgebäude wurde aufgeschlossen. Molenkamp rollte bis an die Treppe und stemmte sich zitternd aus seinem Stuhl.

«Willst du alleine, Opa, oder sollen wir?»

«Alleine», knurrte der Alte seinen Urenkel an und zog sich Zentimeter für Zentimeter, mühsam die Füße hebend, am Treppengeländer nach oben. Dahmen und Fink schleppten den Rollstuhl hoch.

«Okay, Chef.» Ackermann hatte Toppe eingeholt. «In dem Notquartier sind bloß Bea Lentes, ihre Eltern un’ die Eltern von Voss, sons’ keiner.» Er grinste. «Du bis’ ganz schön geladen, wa? So hab ich dich echt no’ nie gesehen.»

Der Raum, in dem die Schänzer ihre Krisensitzungen abhielten, sah immer noch aus wie ein Klassenzimmer, obwohl es die Schule schon lange nicht mehr gab. Die Kinderstühle waren zwar durch größere ersetzt worden, aber die Tische standen immer noch in Reihen, es gab ein Lehrerpult, eine Tafel, sogar einen Kartenständer.

«Perfekt», dachte Toppe, trat hinter das Pult und wartete, bis alle still waren. «Ich werde keine langen Vorreden halten, sondern Ihnen einfache Fragen stellen, auf die ich klare Antworten erwarte. Wann und wie sind Sie nach der Evakuierung ins Dorf zurückgekommen?»

«Ich wüsste nicht, was Sie das angeht», konterte Molenkamp in reinstem Hochdeutsch.

«Halten Sie den Mund! Herr Ingenhaag, ich habe Sie etwas gefragt!»

«A-als es dunkel genug war», stotterte der Bauer. «Übers Eis, wie wir das vorher besprochen hatten.»

«Um wie viel Uhr?»

«Um zehn.» Ingenhaag schielte zu Molenkamp. «Als das THW Schichtwechsel hatte.»

«Sie kamen also ins Dorf zurück, und was passierte dann?»

«Ja, nix.» Ingenhaag guckte stumpf. «Wir sind erst mal in unsere Häuser, wegen Heizung wieder anschalten und so. Paul, Uwe und ich sind zu Molenkamp, wie wir es abgesprochen hatten. Auf dem Deich hätte man uns ja gesehen, wenn wir nach Hause gewollt hätten. Und für ab zwölf Uhr hatten wir auf der Mauer Wachen eingeteilt.»

«Nix?», brüllte Toppe. «Sie wollen mir erzählen, es sei nichts passiert? Sind Sie noch ganz gescheit? Im Dorf hat es gebrannt, mitten im Dorf! Und Sie haben gelöscht.»

«Ja, sicher, aber …»

«Und es gibt eine Brandleiche.»

«Ja.» Ingenhaag knetete seine Knie. «Es war furchtbar, ganz furchtbar.»

Toppe trat einen kleinen Schritt nach vorn. «Bevor ich Sie mir jetzt einzeln vornehme, weiß jemand von Ihnen, wer das Opfer ist?»

Er blickte in blasse, steinerne Gesichter, zwei, drei schüttelten den Kopf.

«Vermissen Sie jemanden aus Ihrer Gemeinde?»

Wieder Kopfschütteln.

«Was soll der ganze Quatsch, verflucht nochmal?» Dellmann schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel. «Weiß der Teufel, wer sich da in dem Schuppen abgefackelt hat! Wir haben bloß gelöscht. Gut, dass wir da waren, sonst wäre wegen so einem Idioten die ganze Schanz abgebrannt.»

«Wie kommen Sie darauf, dass sich jemand abgefackelt hat?»

«Es stank nach Sprit.»

Toppe zog seine Einwohnerliste aus der Tasche. «Dann machen wir das mal in aller Ruhe. Ich will wissen, wohin jeder Einzelne aus dem Dorf gegangen ist und wo er sich jetzt aufhält. Also, fangen wir mit Nr. 2 an: Wo sind Petra und Jessica Dahmen?»

 

Sie hatte Fotografien mitgebracht, offizielle Paradeaufnahmen von Nowosibirsk, gestapelt in einem bunten Faltetui: der Kulturpalast, Kaufhäuser, das Museum, Plätze. Auf keinem der Bilder waren Menschen zu sehen, nicht ein einziger Baum, nur Fassaden in hartem Licht vor einem farblosen Himmel.

Es machte ihn frösteln, aber er lauschte dennoch aufmerksam ihren ausführlichen Erklärungen. Irina sprach ein fehlerfreies Deutsch, aber ihr Akzent war so stark, dass er manchmal Mühe hatte, sie zu verstehen.

Auf dem Flughafen hatte sie ihn auf den Mund geküsst. Dann hatte sie stirnrunzelnd auf seine Fellmütze mit dem roten Stern gezeigt. «Ich verstehe nicht.» Er hatte gelacht und ihr erklärt, es sei bloß ein Gag, ein Witz. «Ich verstehe das nicht.»

Sie trug einen graublau gemusterten Wollrock, der bis zu den Knien reichte, einen Mantel, der ihr in den Schultern zu weit war, hauchdünne Nylonstrümpfe und spitze Stiefeletten mit Fellrand und Schwindel erregenden Absätzen.

«Du bist viel zu dünn angezogen.»

Da hatte sie gelacht. «Es ist doch warm bei euch», und ihn umarmt. Sie roch fremd.

«Bist du in Nowosibirsk geboren?» Er betrachtete sie verstohlen von der Seite. Ihre Haut war schlecht durchblutet und um die Augen papierdünn.

«Nein, in Omsk, eine Stadt in der Nähe. Für dich ist es wohl weit, glaube ich. Wenn ich meine Eltern besuche, muss ich zwölf Stunden mit dem Zug fahren», antwortete sie mit einem Lächeln und strich ihm über die Hand. «Du bist nett.»

Er stand auf. «Ich habe etwas zu essen vorbereitet. Hoffentlich magst du Pasta.»

«Pasta kenne ich nicht.»

«Nudeln, Nudeln mit Lachs in einer leichten Sahnesoße.»

«Ich werde dir helfen, aber ich möchte gern meine Schuhe ausziehen.»

«Ja, ja, natürlich», sagte er unbeholfen und schaute zu, wie sie aus den Stiefeletten schlüpfte. Ihre Zehen waren völlig abgequetscht, und ihre Strümpfe zogen Wasser.

«Willst du dich nicht lieber ein wenig frisch machen, während ich mich um das Essen kümmere?»

«Ich kenne das Wort nicht.»

«Ach so, ich meinte, soll ich dir das Bad zeigen?»

«Ja, bitte», antwortete sie. Es klang erleichtert.

Sie aß geziert.

«Du hast so viele Zimmer», sagte sie. «Die Wohnung muss sehr teuer sein.»

«Ich brauche meinen Platz.»

«Und es ist so schön warm, zentrale Heizung.»

«Einundzwanzig Grad», bestätigte Cox, «das ganze Jahr über, dafür sorge ich. Ist für den Körper am gesündesten. Ich zeige dir später, wie ich das mit dem Lüften mache.»

 

«Wem gehörte der Schuppen?»

Achselzucken.

Toppe stellte sich vor das Pult. «Ich erwarte klare Antworten, erinnern Sie sich? Also, wem gehörte der Schuppen?»

«Der gehörte niemand», antwortete Voss. «Der war doch schon lange baufällig.»

Toppe schloss die Augen, einen Moment nur. «Auf wessen Grundstück stand der Schuppen?»

Jens Molenkamp lachte unterdrückt. «Keine Ahnung. Der kann zu Eberhards gehören oder zu der Schreibtante, aber den hat ewig keiner mehr benutzt.»

Es hatte keinen Zweck. «Dann werde ich Sie jetzt einzeln befragen. Herr Ackermann bleibt bei Ihnen und wird darauf achten, dass Sie sich nicht miteinander unterhalten. Augenblick …»

Er holte sein vibrierendes Handy aus der Tasche und ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen, während er Bonhoeffer zuhörte; nur Jens Molenkamp und Dellmann junior beobachteten ihn neugierig.

«Kurzer Zwischenstand, Helmut. Bei der Brandleiche handelt es sich um eine Frau, und sie hat geboren.»

«Wie bitte?»

«Was ist los mit dir, kannst du im Moment nicht sprechen? Bei deiner Brandleiche handelt es sich um eine Frau, und sie hat mindestens ein Kind geboren.»

«Wie alt?»

«Das Opfer? Kann ich dir noch nicht genau sagen, auf alle Fälle war sie keine zwanzig mehr und, na ja, wohl auch nicht älter als sechzig.»

«Hast du Fesselspuren gefunden?»

«Ja, ganz eindeutig. Kommst du voran?»

«Nein.» Toppe unterbrach die Verbindung. «Herr Dellmann, Uwe Dellmann, kommen Sie bitte mit mir hinaus.»

Der Junge folgte ihm ziemlich unbeschwert.

«Wer hat den Brand entdeckt?»

«Keine Ahnung. Ich habe Schreie gehört und bin raus, da rannten schon alle rum.»

«Wer rannte rum?»

«Alle außer mir, Molenkamp und Ria, meinem Vater und Ingenhaag, aber die waren direkt hinter mir.»

«Wann war das?»

«Ich habe nicht auf die Uhr geguckt. Wir waren aber noch nicht lange da.»

«Wer hat den Spritzenwagen geholt?»

«Das war Voss, der ist sofort losgerannt.»

«Bei der Evakuierung, haben da wirklich alle die Schanz verlassen?»

«Woher soll ich das wissen, ich war doch gar nicht dabei! Wir kamen doch erst später dran, und da hatten wir genug damit zu tun, unser Vieh zu verladen.»

 

«Wer hat den Brand entdeckt?»

«Tja …» Jens Molenkamp breitete fragend die Arme aus.

«Herr Molenkamp, Sie wohnen schräg gegenüber vom Brandherd, Sie müssen das Feuer gesehen haben.»

«Gesehen hab ich gar nichts. Wir hatten Order, die Läden dichtzumachen. Aber ich hab’s gerochen und bin raus, aber da kamen auch schon Fink und Voss aus ihren Häusern und dann die anderen.»

«Haben bei der Evakuierung wirklich alle die Schanz verlassen?»

«O Mann, das war so ein Durcheinander, aber ich glaube, wohl.»

 

«Voss hat den Schlauch gehabt», sagte Ingenhaag. «Wir anderen haben die Bretter eingerissen, nach innen, wegen der Häuser drumherum. Die … die Leiche haben wir erst gefunden, als das Feuer schon aus war. Es war furchtbar …»

«Was haben Sie gemacht, als Sie den Leichnam entdeckten?»

«Uns ist allen schlecht geworden, und Molenkamp hat gesagt …»

«Was hat er gesagt?»

«Er hat gesagt: Ab in die Häuser und keinen Mucks, sonst …»

«Sonst was?»

«Sonst sind wir alle am Arsch.»

 

Der Letzte war Molenkamp, der auch jetzt noch den Schanzer Klassiker stur durchhielt: Da weiß ich nichts von.

Toppe schob ihn rüde ins Klassenzimmer zurück.

«Komm mal eben mit raus, Jupp. Die anderen bleiben bitte alle noch hier.»

Ackermann strahlte ihn an. Er hatte Toppes besonnene Art immer geschätzt, aber dieser Chef gefiel ihm auch ausnehmend gut.

«Hör zu, Jupp, so Leid es mir tut, aber wir brauchen Peter. Er soll kommen und erst einmal die ganzen Adressen abtelefonieren, die die uns gegeben haben. Wir müssen wissen, wer wo steckt, wer fehlt. Es ist übrigens eine Frau.»

«Gebongt», sagte Ackermann. «Aber warte ma’, wenn die Schänzer über ’t Eis konnten, ohne dat dat THW wat gemerkt hat, könnt’ doch auch wer anders datselbe gemacht haben, oder?»

«Glaubst du das wirklich? Die Insel war geräumt, und keiner wusste, dass die planten zurückzukommen.»

«Ich glaub et ja ei’ntlich au’ nich’, aber man muss et in Betracht ziehen. Vielleich’ hatten sich ja welche hier verabredet.»

«Und wo sind die abgeblieben?»

«Och, Verstecke gibt et genug. Egal, wir können ja immer noch durchsuchen.» Ackermann streckte die Hand aus. «Dann geb mir ma’ deinen Zauberknochen.»

 

Cox’ Handy meldete sich.

«Entschuldige mich bitte», murmelte er und ging in den Flur, aber das Telefon lag nicht an seinem angestammten Platz. Er musste es im Mantel vergessen haben. Was war nur los mit ihm?

Er hörte Toppe zu, erschrocken über die neue Entwicklung, aber am meisten betroffen darüber, wie wenig Gedanken er sich über ihren Fall machte, wie weit das ganze für ihn weg war. «Ich fahre sofort los.»

Er legte auf und geriet in Panik.

Irina hatte das Geschirr zur Spüle getragen und wartete. Sie hatte jadegrüne Augen und volle, weiche Lippen.

«Ich muss leider arbeiten.»

«Oh! Das verstehe ich doch!»

«Aber was wirst du in der Zeit tun?»

Sie lächelte wieder. «Du hast doch einen Computer, ich kann ein wenig ins Internet gehen, oder?»

«Aber der PC steht in meinem Arbeitszimmer! Und da wäre das Problem mit dem Passwort», setzte er hastig hinzu. «Ich habe jetzt keine Zeit, dir alles zu erklären, ein andermal.»

«Ich verstehe. Dann werde ich Fernsehen schauen und vielleicht ein bisschen schlafen.» Sie umfasste seinen Nacken mit beiden Händen, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn. Er spürte ihre Zungenspitze.