Fünfzehn

Die Luft war auf einmal schwer vor Nässe. Es wurde spürbar wärmer.

Die Fernsehleute hatten die Belagerung der Schanz aufgegeben, im Dorf erinnerte nichts mehr an den gestrigen Tag – die Leitern waren verschwunden, die Haustüren geschlossen, keine Menschenseele ließ sich blicken.

Als Toppe, Cox und Ackermann durchs Fluttor kamen, begann die Kirchenglocke zu läuten, das Portal wurde geöffnet, und die Gemeinde strömte heraus. Allen voran Molenkamp in einem Rollstuhl. Die Frau, die ihn schob, konnte kaum ihre Füße heben.

«Dem seine Schwiegertochter», raunte Ackermann, «Witwe, macht ihm den Haushalt, dabei hat se selber schon zweima’ ’n Schlag gehabt.»

Aus der Seitentür entließ die Pastorin eine Gruppe Kinder, die genauso gemessen und still wie die Erwachsenen ihren Heimweg antrat.

Cox versenkte die Hände in den Manteltaschen. «Die Popen hier haben aber regen Zulauf, alle Achtung, sogar Jugendliche in der Messe!»

«Dat sollt’ sich ma’ einer wagen, sonntags mit ’em Arsch im Bett zu bleiben!» Ackermann hatte Molenkamps Urenkel entdeckt. «Jens! Dat et weiß’, ich komm gleich bei dir vorbei, dienstlich!», brüllte er, aber der Junge zuckte mit keiner Wimper.

Mit derselben Einhelligkeit, mit der die Schänzer normalerweise durch Fremde hindurchsahen, musterten sie heute unverhohlen Peter Cox, seinen schwingenden, fast bodenlangen Mantel, die Fellmütze mit dem blutroten Stern – man griente und tuschelte.

Im Schaukasten hatte man die neuen Gemeindenachrichten ausgehängt. Der Spruch des Monats lautete: Wer dem Geringsten Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer; aber wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott.

Toppe wandte sich ab.

Und wieder liefen sie gegen Gummiwände. Jens Molenkamp machte auf Schnösel, ganz Kronprinz. Er sei in seinem Leben noch auf keinem Dach gewesen und habe auch nicht davon gesprochen, da müssten sie sich wohl verhört haben. Bei Gisbert Dahmen und Hans-Peter Fink, den beiden Torwächtern, wurden sie erstaunlich freundlich empfangen, man gab sich hilfsbereit – und ahnungslos.

«Ich scheiß in ’t Bett, verdammte Hacke!» Ackermann trat gegen den Ständebaum, dass die Vereinsschilder nur so schepperten. Zwei kleine Mädchen, die ein mit einer Babymütze geschmücktes Karnickel in einem Puppenwagen vor sich herschoben, blieben mit offenem Mund vor ihm stehen.

«Hat der Onkel euch Angst gemacht? Dat wollt’ er nich’, ehrlich.»

«Sollen wir uns die zwei nich’ ma’ zur Brust nehmen?», zischelte er Toppe durch die Zähne hindurch zu. «Die sind noch zu jung zum Lügen.»

«Ackermann …»

«Jupp, wenn ich bitten darf, aber is’ schon in Ordnung, Chef.» Dann drehte er sich einfach um und stapfte los. «Dat Einzigste, wat jetz’ noch hilft, is’ ’ne kleine, feine Falle», hörten sie ihn knurren. «Ha!»

Cox warf Toppe einen mulmigen Blick zu, aber der grinste nur. Ackermann hatte sich offenbar schon wieder beruhigt.

«Na, Voss», stupste er dem Rothaarigen gegen die Brust, der wieder einmal rauchend vor der Feuerwache stand. «Et is’ schon so wat mit de Sucht, wa? Haste Zeitung gelesen?»

«Ich les’ keine Zeitung.» Seine Augen flackerten über Toppe und Cox hinweg, die herangekommen waren. Er zog kräftig an seiner Zigarette und schaute zur Kirche hinüber. «Aber ich weiß, warum du fragst. Ist wegen dem toten Holländer, oder?»

«Stimmt, ja.» Toppe streckte ihm die Hand hin. «Wir haben schon mal miteinander gesprochen, aber ich glaube, ich habe mich nicht vorgestellt, Helmut Toppe.»

Der Mann schob die Zigarette zwischen die Lippen und berührte kurz Toppes Fingerspitzen.

«Angenehm, Klaus Voss …» Die Sommersprossen in seinem Gesicht flossen zu leuchtenden Inseln zusammen.

«Schönes Teil, Voss.» Ackermann griff nach der Wasserwaage, die der Rote an der Mauer abgestellt hatte. «Du has’ Ahnung von anständig’ Werkzeug. Sag ma’, haste den Bouma gut gekannt?»

Voss hob kaum merklich die Schultern. «Nö.»

«Aber gekannt hast en.»

«Herr Voss.» Toppe versuchte, Augenkontakt herzustellen. «Willem Bouma ist erschossen worden, vermutlich am 19. Oktober, das war ein Samstag.»

Der Mann senkte das Kinn. Als Cox jetzt seine Fellmütze vom Kopf zog und sie zusammenrollte, ließ er seine Zigarette fallen und griff nach der Wasserwaage.

«Herr Voss», setzte Toppe noch einmal an. «Wir treten im Augenblick ein wenig auf der Stelle. Vielleicht können Sie uns helfen. Erinnern Sie sich, wann Sie Bouma zum letzten Mal gesehen haben?»

Voss beäugte ihn. «Den hab ich andauernd gesehen.»

«Ah, genau», fiel Ackermann ein, «bis’ ja immer unterwegs, sportskanonenmäßig, oder hab ich dat falsch?»

Klaus Voss stellte sein Werkzeug wieder ab und zündete sich eine neue Zigarette an. «Ich reiß jeden Tag auf meinem Fahrrad so meine zwanzig, dreißig Kilometer runter, morgens.»

«Immer umme Schanz rum?»

«Meist, manchmal muss ich auch in die Stadt.» Wieder suchte er Toppes Blick.

Der verstand. «Und dabei haben Sie Bouma öfter getroffen?»

«Getroffen nicht, aber gesehen. Ohne Ende, jeden Morgen ist der über die Felder …»

«Ja?» Toppe lächelte aufmunternd. «Sie helfen mir wirklich sehr. Wissen Sie noch, wann Sie Willem Bouma zuletzt gesehen haben?»

«Freitagmorgens … vor dem Samstag, den Sie gesagt haben.»

«War Bouma allein?»

«Ja.»

«Und wo haben Sie ihn gesehen?»

Voss druckste. «Die letzte Zeit ist der ohne Ende bei Unkrig rumgelaufen … auf dem Feldweg, hinter der Scheune, und was weiß ich noch alles …»

«Was weiß ich noch alles?», fragte Cox. «Was meinen Sie damit?»

Der Mann packte sein Werkzeug und ging. «Sonst weiß ich nichts!»

«Wiedersehen», drehte er sich noch einmal zu Toppe um.

«Stopp, stopp ma’!» Ackermann hatte rote Ohrläppchen. «Du bis’ do’ auffem Weg zu diese Kinderbuchtante, oder? Sag ma’, könnt ich da nich’ ebkes mit, dat die mir ’n Autogramm gibt für meine Mädkes – die sind da ganz heiß drauf.»

«O Gott!» Cox stülpte sich die Mütze wieder auf. «Tut mir Leid, aber irgendwo hört’s auf. Ich fahr ins Büro, Helmut. Wir sehen uns später.» Dann bückte er sich und wischte mit dem Ärmelaufschlag über seine Schuhspitze. «Ich kapiere nicht, wie du das aushältst», brummte er.

 

Ein Ende der Jahrhundertkälte ist nicht in Sicht. Zwar stiegen die Temperaturen am Niederrhein heute für kurze Zeit auf minus vierzehn Grad, dennoch meldet die Wasserbehörde Emmerich zum ersten Mal seit über vierzig Jahren eine geschlossene Eisdecke auf dem Rhein. In weiten Teilen der Region muss mit Blitzeis gerechnet werden.

Astrid schaltete das Radio aus und rieb sich die verletzte Schulter, sie war völlig verspannt.

Ihre Eltern waren da gewesen und hatten Katharina zu einem Tagesausflug abgeholt, leider nicht ohne ein paar Bemerkungen fallen zu lassen. «Nett, wenn man doch noch gebraucht wird» und «Schön, dass du dich beruflich so engagierst» waren noch die freundlichsten gewesen.

Sie goss sich ein Glas Apfelsaft ein und nahm es mit auf die Galerie. Gestern Abend hatte sie in einem von Arends Büchern über den Bosnienkrieg den Bericht eines Journalisten aus Srebrenica gefunden. Die Serben hatten eine Liste mit den Namen von UN-Mitarbeitern bekommen, den Männern damals vor Ort, die vom Massaker verschont bleiben sollten. Diese Liste sei vorher von einem niederländischen Offizier geprüft und zurechtgestutzt worden. Astrid las den Bericht noch einmal, blätterte unzufrieden weiter – es gab keine Namen.

Was bedeutete «zurechtgestutzt»? Sie griff zum Telefon.

 

Auch Peter Cox hatte sich bei der Morgentoilette seine Gedanken über Srebrenica gemacht. Bis heute hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass die USA, vielleicht sogar die UN, damals gemeinsame Sache mit den Serben gemacht hatten, dass Srebrenica gewissermaßen geopfert worden war, um Sarajevo zu schützen. Hatte Bouma in dem Komplott eine Rolle gespielt? Durchaus möglich. Oder war vielleicht einer der Verantwortlichen durch den NIOD-Rapport, der ja erst in diesem Jahr veröffentlicht worden war, darauf gestoßen, dass Bouma zu viel wusste, und hatte ihn aus dem Weg geräumt?

Ein Soldat, der mit einer Sportwaffe tötet? Und ausgerechnet auf Schenkenschanz, wo jeder Furz zu einem Donnerschlag wurde?

Als Cox jetzt ins sonntäglich ruhige Präsidium kam, hatte er Bosnien vergessen. Er war viel zu wütend über die Respektlosigkeit der Schänzer, über die Kaltschnäuzigkeit, mit der sie schwiegen und ihnen sogar mitten ins Gesicht logen.

Wenn Bouma in der Nähe seines Hauses erschossen worden war, hätten Dellmanns und Unkrigs den Schuss hören müssen, möglicherweise sogar Ingenhaags. Die drei Bauern waren bestimmt nicht traurig darüber, Bouma vom Hals zu haben. Das passte ihnen doch wunderbar in den Kram. Vielleicht kannten sie Boumas Mörder und schützten ihn, indem sie einfach auf die drei indischen Affen machten.

Dieser Voss war offenbar der Einzige aus dem Dorf, der bisher etwas preisgegeben hatte.

Bouma hatte sich also in seinen letzten Lebenstagen besonders für Unkrigs Hof interessiert. War er wieder einem landwirtschaftlichen Vergehen auf der Spur gewesen, oder hatte er etwas anderes gesucht?

Jörg Unkrig war der einzige Schänzer mit einer Vorstrafe, aber er konnte wohl kaum der Einzige sein, der eine Leiche im Keller hatte. Wenn Bouma tatsächlich bei jemandem auf ein dunkles Geheimnis gestoßen war, so hatte er sich doch nichts notiert, nicht der kleinste Hinweis in all seinen Papieren.

Schließlich nahm Cox die Einwohnerliste zur Hand und fuhr den Computer hoch.

Unkrigs Vorstrafe aus dem Jahr 89 hatte er schnell gefunden, aber er entdeckte noch eine offene Akte. Höchst interessant – die Jungs von der Drogenfahndung hatten den Bauern immer noch auf dem Kieker. Anscheinend hatte Jörg Unkrig Kontakt zu einschlägig bekannten Drogendealern in Holland, engeren Kontakt sogar, denn in den letzten Monaten hatten ihn diese Herren des Öfteren zu Hause besucht.

Wenn die Rauschgiftjungs das wussten, mussten sie Unkrigs Hof zumindest zeitweise überwacht haben. Da war es doch durchaus möglich, dass sie auch etwas anderes beobachtet hatten, ein fremdes Auto auf dem Deich zum Beispiel. Es konnte nichts schaden, sich gleich morgen früh mal mit denen zu unterhalten, bevor die Bauern zur Vernehmung kamen.

 

Toppe konnte verstehen, dass Freya Fuchs, oder Rose Wetterborn, wie sie eigentlich hieß, für Unruhe im Dorf sorgte. Sie war um die fünfzig, gar nicht einmal besonders schön. Sie plauderte freundlich und lebhaft, doch ihre Bewegungen waren müde. Ihr Lächeln erreichte nur manchmal die klugen dunklen Augen, aber ihre weibliche Ausstrahlung nahm einen augenblicklich gefangen.

Voss hatte auf Toppe und Ackermann gezeigt und Umständliches gestammelt, Rose Wetterborn hatte ihm geduldig zugehört, ihn mit einer warmherzigen Geste bei der Hand gefasst und ins Haus gezogen. «Ein Autogramm? Das ist doch schön! Kommen Sie mit in die Küche, die ist einigermaßen bewohnbar.»

Das war, weiß Gott, untertrieben. Man hatte die Zwischendecke herausgenommen, ein Glasdach eingesetzt und so einen luftigen, lichtdurchfluteten Raum geschaffen, in dessen Mitte ein schöner alter Holztisch stand.

«Setzen Sie sich doch! Ich koche uns einen Kaffee.» Sie befüllte eine große, schwarz glänzende Espressomaschine. «Klaus», rief sie, «trinken Sie einen Kaffee mit?»

«Ich mach erst die Regale fertig», kam es brummelnd zurück.

Schließlich setzte sie sich zu ihnen an den Tisch. «Ich schau gleich mal nach, ob ich meine Autogrammkarten finde. Wie alt sind denn Ihre Töchter?»

Ackermann wischte sich die Handflächen an seiner Hose ab. «Zwanzig, achtzehn und fünfzehn, aber die sind mit Ihre Bücher groß geworden. Die freun sich ’n Bein aus, wenn ich denen sag, dat ich Sie kenn’. Ich dacht ei’ntlich immer, Se kämen aus Österreich.»

Rose Wetterborn nickte. «Da habe ich auch lange gelebt, beinah achtundzwanzig Jahre, aber gebürtig komme ich aus der Koblenzer Ecke.»

«Und wie hat es Sie da jetzt ausgerechnet nach Schenkenschanz verschlagen?», fragte Toppe.

«Ach», antwortete sie, «ich habe vor etlichen Jahren einmal einen Artikel über das liebenswert romantische Dörfchen gelesen und dann irgendwann auch mal einen Kurzurlaub in der Gegend gemacht. Es hat mir hier gefallen, und in der letzten Zeit …» Sie verschränkte die Arme. «Na ja, ich habe seit Jahren kein Buch mehr geschrieben, keine innere Ruhe, keine Inspiration, und ich war sicher, dass mir ein Ortswechsel helfen würde. Also habe ich einen Makler beauftragt und dann das erste Haus genommen, das auf der Insel frei wurde.»

«’n schönes altes Schätzken», bestätigte Ackermann. «Un’ hat et geholfen?»

Sie verstand nicht.

«Ich mein, können Se wieder schreiben? Wär doch schad’ drum!»

«Tja», meinte sie unbestimmt. «Und Sie sind wegen Willem Bouma hier, nicht wahr? Die Wirtin hat es mir erzählt. Was Neuigkeiten angeht, bin ich auf Frau Lentes angewiesen, ich habe keine Lokalzeitung.»

«Kannten Sie Bouma?», fragte Toppe.

Sie lächelte bedauernd. «Nicht besonders gut, fürchte ich, aber wir haben uns ein paar Mal unterhalten – von Außenseiterin zu Außenseiter gewissermaßen. Man fasst hier nicht so leicht Fuß. Was ist eigentlich genau passiert?»

Er erzählte es ihr, und sie wurde zusehends blasser. «In den Maishäcksler, o Gott!»

Toppe stellte auch ihr die Fragen, mit denen er seit Tagen unterwegs war, aber es kam nichts dabei heraus, außer dass er sich Ackermanns tiefe Missbilligung einhandelte: Die Frau war ein Star, die behandelte man nicht wie das gemeine Volk!

 

Als Lowenstijn hörte, dass er Astrid allein antreffen würde, war er sofort angerauscht. Er hatte ihr zur Begrüßung einen feuchten Kuss auf den Hals gedrückt und sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen um den Finger gewickelt. «Schade, dass du es wieder wachsen lässt. Ich fand deinen zarten Nacken so sexy.»

«Hände weg!»

Er hatte nur gelacht – «Ich weiß schon, du bist ein treues Weib» – und sich dann ganz auf seine Aufgabe konzentriert.

Langsam blätterte er in den Prozessakten. «Wenn ich gewusst hätte, dass Bouma in Bosnien war, hätte ich nie für den gearbeitet. Was das Dutchbat da abgezogen hat, war nicht koscher, das pfeifen die Spatzen von den Dächern. Lass uns mal sehen, ob wir Namen von Journalisten finden, die dabei waren. Vielleicht komme ich auch an Soldaten ran, die unter Bouma gedient haben. Ich brauche nur irgendeinen, über den ich den Einstieg finde.»

«Du bist ein Schatz. Wenn ich wieder fit bin, koche ich dir ein ganz besonderes Menü, mindestens drei Gänge.»

Lowenstijn kräuselte die Nase. «Wenn es schon unbedingt Nahrung sein muss, dann aber bitte bei einem Tête-à-tête in einem schummerigen Séparée.»

«Ts», tadelte Astrid. «Und so was von einem werdenden Vater!»

«Ach so, Helmut hat geplaudert.» Er schob die Akten weg. «Aber ich muss dich enttäuschen: Nichts Genaues weiß man nicht.»

Astrid rückte die Armschlinge zurecht. «Hab ich schon gehört, aber, ich sag’s nicht gern, du wirkst trotzdem ein bisschen angeschlagen.»

Lowenstijn betrachtete seine Fingernägel. «Meinst du?» Er straffte die Schultern. «Lass uns anfangen.»

 

«Dat nenn ich ’n Prachtweib! ‹Rose› is’ do’ auch viel schöner wie ‹Freya›, findeste nich’?» Ackermann klopfte sich zufrieden auf die Brusttasche, in der drei Autogrammkarten steckten, trat auf die Straße hinaus – und geriet hoffnungslos ins Rutschen. Im letzten Moment bekam er Toppes Arm zu fassen, der sich seinerseits an einen Fenstersims krallen musste, um nicht hinzuschlagen. Die Nässe, die seit gestern in der Luft lag, hatte sich auf dem tief gefrorenen Boden in blankes Eis verwandelt, Zäune, Schilder, Briefkästen, Wände und Mauern, die einzelnen Zweige der Bäume, alles war wie mit Glas ummantelt – eine fremde Märchenwelt.

Sie klammerten sich an Hauswände und tasteten sich Schritt für Schritt weiter. In der Hauptgasse kamen sie besser voran, hier hatten die Anwohner schon Salz gestreut, aber das letzte Stück vom Fluttor bis zum kleinen Parkplatz, auf dem Ackermanns Auto stand, mussten sie auf allen vieren zurücklegen. Im Haus neben der Kirche applaudierte jemand.

«Dat können wer getrost vergessen. Auf dem Deich kommen wer keine drei Meter weit, dann hängen wer inne Wiese.»

«Und jetzt?» Toppe zog die Handschuhe aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

«Abwarten! Die helfen sich hier meist selber. Wenn se auffe Streuer vonne Stadt warten würden, ständen se schön auffem Schlauch.»

Toppe kurbelte das Fenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. «Wer ist eigentlich dieser Voss?»

«Voss? Gott, wat soll ich sagen?» Ackermann überlegte. «Ir’ndswie ’n armes Schwein, vielleich’ au’ nich’, man weiß et nich’ so genau. Der Alte von dem säuft, war ma’ Maurer, is’ aber kaputtgeschrieben. Un’ die Mutter, ich weiß et nich’, scharf auf dat Kind war die wohl nie. Hat den Kleinen bei ihre Mutter in Bimmen gelassen. Die is’ dann aber gestorben, wie Voss inne Schule kam, da musste se ihn wohl oder übel wieder nehmen. Ich hab gehört, der hätt ma ’ne Schreinerlehre angefangen, aber da is’ er wohl geflogen, weil er ir’ndwie Mist gebaut hat. Jetz’ leben die wohl alle vonner Stütze, hocken oben auf drei Zimmerkes, weil se unten ’ne Ferienwohnung gemacht haben, war aber no’ nie vermietet, soweit ich weiß.»

«Komisch, dass sich im Dorf keiner daran stößt.»

«Ach wat!» Ackermann lachte, es klang nicht nett. «Da haben die doch ihren Spaß dran. Auch die Schanz braucht ihr Pack.»

«Und ihren Dorftrottel», murmelte Toppe.

«Ich glaub, der hat ’n Narren an dir gefressen, Chef, dat passt ir’ndswie gar nich’, aber kann ja nix schaden.» Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss. «Guck ma’, da kommt schon Dellmann mit sei’m Streuer! Gleich können wer fahren.»