Acht

Mieke Bouma war eine große, schmale Frau Anfang dreißig mit weißblond gefärbtem Haar und hellen Augen. Sie hatte einen Kunstpelzmantel locker über die Schultern gelegt, und unter dem schwarzen Wollkleid zeichnete sich ein kugeliger Babybauch ab.

Lowenstijn begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange. Er sprach jetzt Deutsch mit ihr. «Wartest du schon lange?»

«Nein, nur eine Minute oder so.» Sie gab Toppe die Hand, in ihren Augen flackerte Angst. «Ich habe schon geklingelt, aber er macht nicht auf.»

Beschwichtigend umfasste er ihren Ellbogen und führte sie zur Haustür. Sie schloss auf.

Muffige, bitterkalte Luft schlug ihnen entgegen. Toppe warf einen Blick auf den Thermostat der Flurheizung. Er stand auf zweieinhalb, vor drei Wochen ausreichend, da war es vierzehn, fünfzehn Grad warm gewesen.

Lowenstijn machte eine fragende Kopfbewegung zur Treppe hin, Toppe nickte. «Warten Sie bitte einen Moment hier, Frau Bouma, ja?» Sie biss sich auf die blassen Lippen.

In weniger als zwei Minuten hatten die Männer einen Blick in alle Räume geworfen und kamen in den Flur zurück. «Er ist nicht hier.»

Mieke Bouma atmete zitternd aus.

Toppe holte Latexhandschuhe aus der Manteltasche und streckte der Frau und Lowenstijn je ein Paar hin, bevor er selbst welche anzog. «Wir sollten möglichst nichts verändern.»

Er war überrascht. Von außen wirkte das Haus protzig, ein gleißender Fremdkörper in einer Landschaft, in der es nach Gülle, Kartoffelkraut und Feldarbeit roch. Hier drinnen war es bescheiden, die Möbel verwohnt, ein bisschen schmuddelig. Toppe hatte mit pedantischer Ordnung gerechnet – schließlich war Bouma Soldat – oder mit einer besonders spartanischen Einrichtung, aber sicher nicht mit diesem nachlässigen Durcheinander.

Die Pflanzen im Wintergarten schrien nach Wasser. Durch das Panoramafenster blickte man in einen von einer alten Buchenhecke eingerahmten Obstgarten. Das Gras zwischen den Apfel- und Birnbäumen, die ihre fruchtbaren Tage längst hinter sich hatten, war lange nicht gemäht worden und bräunlich verfault.

An der linken Grundstücksgrenze stand ein Wohnwagen, aufgebockt auf Kalksandsteinen.

«Er wollte immer einmal Campingurlaub mit uns machen», Mieke Bouma war Toppe gefolgt, «aber dann hatte er doch nie Zeit.»

Er drehte sich zu ihr. «Würden Sie nachschauen, ob irgendetwas fehlt, Koffer, Kleidung?»

Die Angst in ihren Augen hatte etwas Matterem Platz gemacht. «Er hat ein Häuschen an der See, oben bei Den Helder, und ein Boot. Manchmal fährt er einfach hin für ein paar Tage, eine Woche – aber niemals im November. Ich habe die Nachbarn dort angerufen. Sie haben ihn nicht gesehen.»

Auf dem Küchenschrank stand ein Becher mit einem eingetrockneten Milchkaffeerest, daneben lagen ein benutztes Frühstücksbrettchen und ein verschmiertes Messer. Im Brotkasten ein halber verschimmelter Laib und ein paar zu Stein vertrocknete Schwarzbrotscheiben, im Kühlschrank eine fast noch volle Literpackung fettarme Milch, weit über dem Verfallsdatum.

Toppe nahm sich das Badezimmer im Obergeschoss vor. Klodeckel und Brille waren nicht heruntergeklappt, jemand hatte WC-Reiniger ins Becken geschüttet, der in blauen Schlieren angetrocknet war. Das Waschbecken war sauber ausgewischt. Auf der Ablage darüber ein Nassrasierer, Ersatzklingen, eine Dose Rasierschaum, in einem Glas Zahnpasta und eine trockene Zahnbürste. Toppe öffnete den Spiegelschrank und fand verschiedene Aftershaves, ein teures Eau de Toilette, ein ledernes Necessaire mit Schere, Hornhauthobel und Nagelfeile, einen Deoroller, Körperlotion und Fußcreme, Kamm und Bürste.

«Helmut, Mieke, kommt mal runter!» Lowenstijn hatte sich draußen umgesehen.

Im Carport neben dem Haus stand Boumas Volvo.

Toppe schob die Hände in die Hosentaschen. Bouma hatte zum Einkaufen in die Stadt fahren wollen. Hatte ihn jemand davon abgehalten? Es gab nirgendwo eine Spur von Gewalt.

«Seine Koffer sind auch da», sagte Mieke, «und seine Kleider … soweit ich sie kenne. Was ist denn nur geschehen?»

Auf dem Fernseher im Wohnzimmer stand eine goldgerahmte Fotografie, das einzige Bild, das Toppe bisher im Haus entdeckt hatte. Sie zeigte drei Menschen, links Mieke Bouma, auf der rechten Seite einen älteren Mann in einem grauen Zweireiher und in der Mitte eine Frau im Rollstuhl, ausgemergelt, mit brennenden Augen.

«Das war vor fünf Jahren», erklärte Mieke. «In Burgers’ Zoo in Arnheim. Die fotografieren einen dort, wenn man einverstanden ist.» Ihre Stimme wurde schwer vor Trauer. «Der letzte Ausflug mit meiner Mutter. Sie hatte Leukämie.» Mit dem kleinen Finger tippte sie auf das Foto. «Mein Vater hat sich seitdem sehr verändert. Er hat viel längere Haare, zieht Jeans an und Pullover. Aber es ist nicht nur äußerlich. Er ist jetzt sehr engagiert in der ökologischen und der sozialen Bewegung. Ich besuche ihn nicht sehr oft, ich habe immer mehr mit meiner Mutter … ich meine …»

«Mindestens vierzehn Tage!» Lowenstijn brachte einen Schwall frischer Luft mit herein. «Ich habe den Briefkasten geleert, da ist seit mindestens vierzehn Tagen niemand mehr dran gewesen.»

Toppe rieb sich den Nacken. «Frau Bouma», begann er und ließ seinen Blick über die Papier- und Bücherstapel auf dem Schreibtisch unterm Fenster wandern. Es juckte ihm in den Fingern. «Ihr Vater hat Ihnen erzählt, dass in den letzten Monaten … ja, wie soll man es nennen … Anschläge auf ihn verübt worden sind. Hat er sich bedroht gefühlt?»

Sie gab einen trockenen Laut von sich. «Nein, bestimmt nicht! Er war nur schrecklich wütend.»

«Warum hat er sich nicht an die Polizei gewandt?»

Sie schlug die Augen nieder, schaute ihn aber sofort wieder an. «In Holland hätte er das vielleicht getan, aber die deutsche Polizei … ich meine, die Generation meines Vaters … Sie wissen doch. Dann ist mir Wim eingefallen.» Ihre Hände legten sich kurz auf ihren Bauch. «Wir kennen uns ganz gut. Herr Toppe, warum sucht die Polizei meinen Vater?»

Es war nicht leicht, ihr von dem gehäckselten Toten im Maisfeld zu erzählen, aber sie nahm es gefasst. «Mein Vater trägt nur noch Siouxschuhe, seit er sein Leben verändert hat, aber das haben Sie bestimmt schon registriert.»

Toppe nickte. «Wenn Sie einverstanden sind, leite ich Untersuchungen ein.»

«Ja, natürlich! Ich will wissen, was passiert ist. Ich muss wissen, ob mein Vater tot ist.»

Toppe ging zum Telefonieren nach draußen. Zu Boumas Haus gehörte ein Anleger. Der Altrhein stand unbewegt und stumpf, ein hauchdünner Eisfilm hatte sich über die Wasseroberfläche gelegt.

Van Gemmern stellte keine Fragen, er würde in spätestens einer Stunde da sein.

Toppe überlegte, ob er Peter Cox Bescheid sagen sollte, aber der hatte sicher längst Feierabend gemacht, und im Grunde drängte ja nichts.

Lowenstijn und Mieke Bouma schwiegen, als Toppe ins Zimmer zurückkam. «Auf der anderen Seite ist ein Anlegesteg. Hat Ihr Vater hier auch ein Boot?»

«Das weiß ich nicht, tut mir Leid.»

«Hat er», fiel Lowenstijn ihr ins Wort. «Eine Segeljolle, liegt gegenüber bei den Booten vom Segelverein. Bouma ist dort Mitglied.»

Mieke rieb sich die Oberarme. «Mir ist kalt. Kann ich einen Tee kochen?»

Toppe wollte ablehnen, aber sie hielt ihm ihre behandschuhten Hände hin. «Ich bin ganz vorsichtig.»

«Wissen Sie, Sie brauchen gar nicht hier zu bleiben. Fahren Sie nach Hause, wenn Sie möchten. Ich melde mich bei Ihnen, sobald es etwas Neues gibt.»

«Ich will aber hier bleiben!» Mit steifem Rücken ging sie hinaus in die Küche.

Toppe ließ sich von Lowenstijns herausforderndem Grinsen einfangen. «Wirst du etwa Vater?»

«Sie wird Mutter … Jetzt guck mich nicht so schockiert an! Mieke weiß nicht, wer der Vater ist. Außer mir gibt es da noch einen Anwärter. Herrgott, du kennst mich lange genug. Ich will keine Kinder, ich habe keine Sehnsucht nach trautem Familienleben. Mieke hat das immer gewusst. Sie hat es trotzdem darauf ankommen lassen, weil sie unbedingt ein Baby will. Das ist nun wahrhaftig nicht mein Problem.» Seine ganze Haltung drückte Trotz aus. «Komm mir jetzt nur nicht mit irgendeiner verquasten Moral, Helmut!»

«Willst du nicht wissen, ob du der Vater bist?», fragte Toppe nur.

Lowenstijn ließ die Schultern sacken. «Ich weiß es nicht.»

Mieke stellte drei Becher mit Teebeuteln und einen elektrischen Wasserkocher auf den Couchtisch. «Und wie geht es jetzt weiter?»

«Die Spurensicherung wird bald hier sein und sich gründlich umsehen, Fingerabdrücke nehmen und für eine DNA-Analyse Haarproben oder Ähnliches suchen.»

«Haben Sie die DNA von dem Toten aus dem Feld?»

«Ja.»

«Verstehe. Wann wird man es wissen?»

«In drei, vier Tagen, denke ich.» Toppe goss heißes Wasser in die Becher. «Wenn es Ihnen recht ist, würde ich mir gern einmal die Papiere auf dem Schreibtisch anschauen, die Kartons und die Bücher da drüben.»

Sie stand sofort auf. «Natürlich, vielleicht finden wir einen Hinweis.»

Lowenstijn deutete Toppes Miene richtig. «Wenn der Erkennungsdienst kommt, sind wir beide hier im Weg, Liebes. Dann kannst du mit zu mir kommen.»

Sie zuckte nur die Achseln. Toppe knipste die Schreibtischlampe an, ein altmodisches Modell aus Messing mit einem grünen Glasschirm.

Der Papierwust nahm fast die ganze Tischfläche ein, Rechnungen, Krankenunterlagen, vergilbte Schulzeugnisse, alte Briefe, manche davon noch in ihren Kuverts. Baupläne, Kaufverträge, Geburts- und Sterbeurkunden in wildem Durcheinander.

«Er hat also endlich die Kisten ausgepackt.» Mieke stellte ihm seinen Teebecher hin. «Als er die Wohnung in Amsterdam aufgelöst hat, hat er alle Papiere in Kartons gepackt und sie bis jetzt nicht mehr angeschaut.»

Toppe nickte nur. Wie immer, wenn er sich die Hinterlassenschaft eines Menschen vornahm, schwankte er zwischen Neugierde und einem Gefühl der Beklemmung. Er wäre gern allein gewesen.

Neben dem Schreibtisch standen zwei Schuhkartons. Als er den Deckel des ersten öffnete, stieg ihm Modergeruch in die Nase. Umschläge mit Negativen und Hunderte von Fotos. Wenn man nach der Kleidung der abgebildeten Personen ging, mussten sie in den dreißiger und vierziger Jahren aufgenommen worden sein, einige sepiafarbene waren noch älter.

«Wer sind diese Leute? Kennen Sie die?»

Mieke Bouma beugte sich über seine Schulter. «Die Bilder habe ich noch nie gesehen.» Dann stutzte sie und zog ein Foto heraus. «Das müssen Papas Eltern sein. Mein Opa hat im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren. Ich habe ihn nicht mehr gekannt, er war viel älter als meine Oma.» Sie fand das Bild eines schmalbrüstigen, gotischen Gebäudes. «In dem Haus ist mein Vater geboren, in Amsterdam, und meine Oma auch, glaube ich. Heute ist da ein Museum drin.»

Lowenstijn hatte den zweiten Schuhkarton geöffnet. «Die hier sind neuer … Ach, guck mal an, du hast mir gar nicht erzählt, dass dein alter Herr bei UNPROFOR war.»

«Und?», gab Mieke gereizt zurück. Dann schluchzte sie trocken und griff nach einer Farbvergrößerung. «Meine Mutter und ich auf Terschelling. Da war ich sieben oder acht.»

Toppe trank einen Schluck Tee, er schmeckte wie Galle.

In der oberen Schreibtischlade Briefpapier, Büroklammern, Stifte, eine Schere, Klebefilm, Gummiringe, in der zweiten Handzettel und Infobroschüren des NABU, ausgeschnittene Zeitungsartikel zu Protestaktionen der Bauern, handschriftliche Notizen. Die untere Schublade war abgeschlossen.

Als es klingelte, fuhr Mieke hoch.

Toppe fasste ihre Hand. «Das ist bestimmt die Spurensicherung.»

 

Peter Cox mochte Fakten.

Für ihn hatten Gefühle in einer Mordermittlung nichts zu suchen. Plötzliche Eingebungen waren ihm nicht geheuer, und er machte keinen Hehl daraus. «Und dieser Willem Bouma soll unser Toter sein? Ich bitte dich, so viel Zufall gibt es nicht!»

«Wir werden sehen», meinte Toppe ausweichend. Cox war blitzgescheit, aber er funkte auf einer anderen Wellenlänge, und der Draht zwischen ihnen beiden war immer dünn geblieben.

«Van Gemmern hat jedenfalls eine ganze Reihe brauchbarer Proben nach Düsseldorf geschickt. Spätestens am Donnerstag dürften wir die Ergebnisse der DNA-Analyse auf dem Tisch haben.» Er fröstelte. «Es ist schweinekalt hier drin!»

Obwohl die Heizung im Präsidium auf vollen Touren lief und sie sorgsam alle Fenster und Türen geschlossen hielten, wurde es in den Büros nicht wärmer als achtzehn, neunzehn Grad.

«Kein Wunder», antwortete Cox. «Für diese arktischen Temperaturen sind die Häuser hier einfach nicht gebaut. Wir haben minus vierzehn Grad, und es soll noch kälter werden. Aber ich hab noch einen alten Ölradiator aus Studententagen im Keller. Den bring ich morgen mit. Ansonsten empfehle ich Thermounterwäsche, da ist einem ganz mollig.»

Toppe dachte an seine lange Unterhose, die einzige, die er in seinen Kleiderkisten gefunden hatte, grau gewaschen, aus kratzigem Feinripp mit Eingriff. Er hatte keine Ahnung, wann und wie dieses Ungetüm in seinen Besitz gelangt war, aber das interessierte ihn im Moment wenig, es tat seine Dienste.

«Wenn nichts anderes anliegt», fuhr Cox fort, «würde ich gern zu den beiden Sportschützenclubs fahren, die eine Colt Python im Vereinsbestand haben. Die Waffen waren noch nicht beim Beschuss, und es könnte doch sein, dass die es mit der Waffenausgabe nicht immer so genau nehmen.» Er suchte Toppes Blick. «Das Projektil ist unsere einzige echte Spur, Helmut.»

«Wenn es denn aus einer registrierten Waffe abgefeuert wurde …»

«Ach komm, wenn du dir auf dem Schwarzmarkt eine Kanone besorgst, weil du einen damit umlegen willst, dann doch bestimmt nicht so eine schlappe Sportwaffe!»

«Hm, vielleicht kennt der Täter sich mit Waffen nicht aus.» Toppe stand auf. «Ich fahre nach Schenkenschanz. Mir will einfach nicht in den Kopf, dass in einem so kleinen Dorf niemand in den letzten drei Wochen Bouma vermisst haben soll.»

Cox unterdrückte ein Seufzen.

«Und mit Dellmann möchte ich auch nochmal sprechen. Der ist Boumas nächster Nachbar.»

«Okay.» Cox gab sich einen Ruck. «Diese Anschläge, von denen du gesprochen hast, sind natürlich schon interessant. Du sagst, sie sind immer dann passiert, wenn Bouma nicht zu Hause war. Dann können das doch nur welche aus dem Dorf gewesen sein.»

Toppe wickelte sich den Schal um den Hals. «Nicht unbedingt. Auch von den Booten auf dem Altrhein hat man freie Sicht auf Boumas Einfahrt.»