Sieben

Toppe hatte Astrid gerade vorsichtig im Sessel vor dem Kamin untergebracht, als sie plötzlich anfing zu zittern, Tränen rannen ihr übers Gesicht, sie würgte.

«Warte, ich hol dir eine Schüssel.» Er lief in die Küche und war froh, dort auf Sofia zu treffen. «Kannst du dich um Katharina kümmern? Astrid klappt mir gerade zusammen, sie hatte einen Unfall.»

Sofia fragte nicht lange. Sie nahm das ängstlich weinende Mädchen einfach auf den Arm und trug es hinüber in ihr Atelier. Toppe holte die Matratze aus der Kammer, legte sie vor den Kamin, hielt Astrid, bis sie aufhörte zu zittern, küsste behutsam den dunklen Bluterguss, der sich quer über ihre Brust zog. Dann kochte er süßen Kakao, gab einen kräftigen Schuss Rum hinein und brachte sie dazu, den ganzen Becher leer zu trinken. Sie sprach kaum und starrte apathisch an die Decke.

Als sie endlich eingeschlafen war, fühlte er sich erschöpft und gleichzeitig hellwach. Leise stieg er zur Galerie hinauf und holte Papier und Stift. Dann setzte er sich vor das heruntergebrannte Feuer und fing an, willkürlich und völlig ungeordnet alle Fakten und Ideen zum Toten aus dem Maisfeld aufzuschreiben. Wenn er einen Fall nicht in den Griff bekam oder in einer Sackgasse steckte, half es ihm oft, das erste Gesamtbild, das er sich gemacht hatte, in seine Grundelemente zu zerlegen und diese neu zu mischen. Einzelne Fragmente bekamen dann häufig ein anderes Gewicht, manchmal fand er dabei einen ganz neuen Blickwinkel und kam verschütteten Gedanken auf die Spur. Heute allerdings hatte er kein Glück, die Satzfetzen, die ihm immer mal wieder wie scharfe Blitze durch den Kopf schossen, wollten sich nicht greifen lassen.

In der Nacht riss Astrid ihn aus dem Schlaf. Sie wimmerte vor Schmerzen. Kopf, Nacken, Schulter, Brust, alles tat ihr unerträglich weh, und sie schluckte gierig die Tabletten, die man ihr im Krankenhaus mitgegeben hatte. Toppe hielt sie im Arm, verstört und besorgt, so kannte er sie nicht, sie war immer eine eher zähe Kranke gewesen.

Auch am Samstagmorgen ging es ihr nicht viel besser. Sie sagte, sie wolle nur schlafen und er solle irgendwo draußen etwas mit Katharina unternehmen. Also setzte er seine Tochter ins Auto, um mit ihr nach Düffelward zu fahren und das Hochwasser anzuschauen. Leider waren außer ihm noch Hunderte anderer Menschen auf dieselbe Idee gekommen. Autos aus Düsseldorf, Köln, dem ganzen Ruhrgebiet und Holland parkten zu beiden Seiten der Hauptstraße. Auf dem Deich herrschte dichtes Gedränge.

Der eisige Wind trieb Toppe die Tränen in die Augen, und Katharina begann zu weinen, weil ihre Hände taub waren vor Kälte. Er knöpfte seinen Mantel auf, nahm sie auf den Arm, klemmte sich ihre Händchen in die Achselhöhlen und rannte den ganzen Weg zum Auto zurück.

Als sie zu Hause ankamen, war die Matratze verschwunden. Astrid hatte geduscht und sich angezogen. Sie war immer noch blass, lächelte aber tapfer. «Morgen gibt’s Martinsgans. Arend und Sofia wollen uns bekochen.» Dann nahm sie Katharina zum Spielen mit in die Küche. Toppe holte sein Werkzeug und fing an, die Holzdielen auf der Galerie zu verlegen. Er versuchte, dabei möglichst an nichts zu denken. Er vergaß die Zeit, machte sich irgendwann ein Brot, schlief irgendwann ein paar Stunden, arbeitete weiter.

Als Astrid vor ihm stand, ein Glas Wein in der Hand, war nicht nur die Galerie, sondern auch das Kinderzimmer fertig.

«Katharina schläft, und in einer halben Stunde gibt’s Gans.»

Er musste sich räuspern, um seine Stimme wiederzufinden. «Dann geh ich jetzt mal duschen und zieh mir was Frisches an.» Er schnupperte. «Mir ist gar nicht aufgefallen, wie köstlich es aus der Küche duftet. Wie geht es dir?» Vorsichtig berührte er ihre Schulter.

«Viel besser. Du hast wirklich was geschafft.»

«So langsam wird’s.»

«Ja.» Sie schaute an ihm vorbei. «So langsam wird’s.»

 

Sofia fand nur selten die Muße, ausgiebig zu kochen, besonders wenn sie, wie jetzt, eine große Ausstellung vorbereitete und beinahe Tag und Nacht malend im Atelier verbrachte. Aber heute hatte sie schon seit dem frühen Morgen in der Küche gestanden und ein richtiges Festmahl gezaubert.

«Es ist zu blöde, dass ich ausgerechnet jetzt die Ausstellung in Boston habe.» Sie legte Astrid noch ein Stück Gänsebrust auf den Teller und schnitt es klein. «Wie lange musst du die Schulter ruhig stellen?»

«Vier bis sechs Wochen, haben sie gesagt.»

«Helmut und ich sind ja auch noch da.» Bonhoeffer reichte die Schüssel mit dem Rotkohl an Toppe weiter.

«Du pusselst doch den lieben langen Tag in deinem Leichenkeller herum.» Sofia gab ihm einen zärtlichen Klaps.

«Ich könnte ruhig mal weniger pusseln, davon ginge die Welt auch nicht unter.» Mit einem wohligen Laut lehnte er sich zurück und strich sich über den Bauch. «Es ist schon komisch, wie sehr ich unser lockeres Zusammenleben hier genieße. Dabei habe ich so etwas noch nie gehabt, nicht einmal als Kind. Meine Eltern hatten keine Zeit für mich und waren einander ohnehin genug. Ich bin quasi von Kindermädchen großgezogen worden. Und Sofia und ich, wir leben zwar seit mehr als zwanzig Jahren zusammen, aber doch immer mit sehr viel Freiraum.»

Sofia nickte. «Es tut uns beiden gut, dass wir jetzt, allein von den Räumlichkeiten her, näher zusammenrücken. Verrückt, aber ich fühle mich angenehm geborgen, obwohl ich bisher gar nicht wusste, dass mir etwas gefehlt hat. Das ist schön, gerade jetzt im Alter.»

Astrid lachte auf. «Im Alter, meine Güte!»

«Na ja, wenn du erst mal Mitte fünfzig bist, rückt das sehr schnell näher, glaub mir.»

«Warum bist du eigentlich so muffelig?», wandte sich Bonhoeffer an Toppe.

«Ich bin doch nicht muffelig», wehrte der sich halbherzig. «Ich komme einfach nicht von dem Fall los, an dem ich gerade sitze. Irgendwas hakt da bei mir.»

«Der Fall, so, so», antwortete Bonhoeffer. «Warum hakt denn dann bei Astrid nichts? Es ist schließlich auch ihr Fall, oder?»

«Den Schuh habe ich mir jahrelang angezogen», unterbrach Astrid ihn. «Und oft genug hat er ganz schön gedrückt. Aber inzwischen weiß ich, dass Helmut anders tickt als ich. Manchmal liegt er richtig, aber manchmal ist seine Marter auch völlig umsonst.»

Sie hatte auf einmal einen Kloß im Hals. Monatelang schoben Helmut und sie jetzt schon ein unausgesprochenes Problem vor sich her. Seit er seine Familie verlassen hatte und mit ihr zusammenlebte, hatte er, egal wo sie wohnten, immer auf getrennten Schlafzimmern bestanden, eine Regelung, mit der sie immer schlechter zurechtgekommen war. Hier gab es die gemütliche Bibliothek in der Halle, die Galerie, auf der sie einen Wohn- und einen Arbeitsbereich geplant hatten, zwei geräumige Zimmer, von denen das größere Katharinas sein würde, und die kleine Dachkammer.

«Mit den Böden seid ihr so gut wie fertig, nicht?» Bonhoeffer hatte sie beobachtet. «Dann geht es also ans Möbelschleppen. Ich könnte mir ein, zwei Tage freinehmen, wenn ihr mich braucht.»

Astrid trat die Flucht nach vorn an. «Wir haben noch gar nicht richtig über die Raumaufteilung gesprochen. Ich weiß nur, dass ich nicht in der Kammer schlafen werde.»

Toppe legte das Besteck aus der Hand. «Die Kammer wäre ganz schön als Gästezimmer, dachte ich.»

«Aha.»

«Du hast dich doch in dieses Himmelbett verguckt, oder?»

«Aber das ist ein Doppelbett.»

Er sah ihr lange in die Augen. «Eben.»

Bonhoeffer grinste. «Zeit, die Tafel aufzuheben. Mir wird das hier zu romantisch. Ich übernehme freiwillig den Abwasch.»

 

Am Montag nutzte Toppe seine Mittagspause, um beim Getränkemarkt in Kellen einzukaufen. Normalerweise war hier am Wochenanfang wenig Betrieb, aber heute schien halb Holland scharf auf deutsches Bier zu sein. Die Gänge zwischen den Kastentürmen waren eng, und er musste sich an einem Mann mit einem enormen Bierbauch vorbeizwängen, um zur Mineralwasserabteilung zu kommen. Er bückte sich, hob einen Kasten an und erstarrte mitten in der Bewegung – Lowenstijn! Seine Nackenhaare stellten sich auf.

«Alles in Ordnung, Meister?» Der dicke Mann beugte sich zu ihm herunter und verströmte dabei einen solchen Knoblauchgeruch, dass es Toppe ganz flau wurde.

«Ja, schon gut.» Er stellte den Wasserkasten auf die Einkaufskarre und richtete sich auf. «Alles in Ordnung.»

Ich bin jedenfalls nicht traurig, dass mein Klient sich nicht mehr meldet, hat seine Pläne wohl geändert. Lowenstijn. Bis vor ein paar Wochen wusste ich nicht einmal von der Existenz dieses Ortes, aber dann hatte ich einen Klienten aus Schenkenschanz … nicht traurig, dass mein Klient sich nicht mehr meldet, hat seine Pläne wohl geändert.

Toppe schob den Wagen zur Kasse, bezahlte mechanisch, hievte die Kästen ins Auto und griff dann endlich zum Handy. Baldwin, der Butler, meldete sich. «Nein, die Herr ist nicht hier. Er ist derzeit in Antwerpen, aber er ist doch über seine mobile Telefon bereichbar.»

Die Verbindung mit Lowenstijn war schlecht. «… bin auf dem Heimweg … Autobahn … Höhe Eindhoven.» Immer wieder wurden sie durch sphärisches Rauschen unterbrochen.

«Wohin soll ich kommen? Ins Präsidium? … keinen Fall … Laune … derben … Stadtcafé … zwei Stunden … dann.»

Toppe war zwanzig Minuten zu früh. Ohne nachzudenken, bestellte er ein Kännchen Pfefferminztee und fragte sich danach erst verwundert, seit wann er eigentlich eine Schwäche für dieses Getränk entwickelt hatte, das ihm als Kind so zuwider gewesen war.

Lowenstijn hatte es nicht eilig. Von der Tür aus winkte er Toppe kurz zu, widmete sich dann ausgiebig den Auslagen der Kuchentheke und brach auf dem Weg durchs Café noch schnell ein Herz, indem er der jungen Kellnerin mit einem sinnlichen Lächeln seine Bestellung ins Ohr flüsterte.

Er feixte, als er Toppes nachsichtiges Kopfschütteln bemerkte. «Wo brennt’s denn, mein Freund?»

«Dein Klient aus Schenkenschanz, hat der sich inzwischen gemeldet?»

«Nein, ich kann ihn nicht erreichen.» Lowenstijn setzte sich und schlug die Beine übereinander. «Was mir, ehrlich gesagt, nicht gefällt, denn er hat seine Rechnung noch nicht bezahlt. Aber warum interessiert dich das?»

Von der Leiche im Maisfeld hatte er nichts gehört, weil er die letzten vierzehn Tage in Antwerpen verbracht hatte und nur zu Norberts Hochzeit kurz an den Niederrhein zurückgekommen war.

«Nein, bitte keine Details! Ich möchte mir den Appetit nicht verderben lassen. Aber alles, was du mir gerade erzählt hast, passt durchaus auf Bouma. Willem Bouma, ein niederländischer Oberst im Ruhestand. Ich schätze ihn auf Anfang sechzig. Er wohnt nicht direkt auf der Insel, sondern kurz davor in einer Katstelle am Deich.»

«In diesem aufgemotzten Haus mit dem Glasanbau?»

«Ja, genau. Bouma ist mir nicht sonderlich sympathisch, aber vor einer Weile hatte ich mal eine kleine Geschichte mit seiner Tochter, und ich war ihr einen Gefallen schuldig, deshalb habe ich den Auftrag angenommen. Sie ist Dozentin an der Uni Nimwegen.»

Toppe verdrehte innerlich die Augen. Lowenstijn war seit Jahren fest mit Jocelyne liiert, einer Diamantenhändlerin aus Antwerpen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, immer wieder «kleine Geschichten» zu haben.

«Und ihre Telefonnummer hast du vermutlich in deinem kleinen schwarzen Buch.»

Wim Lowenstijn feixte wieder und zog einen ledergebundenen Kalender aus der Innentasche. «Richtig, aber es ist blau. Soll ich sie anrufen und fragen, wo ihr Vater steckt?»

«Warte noch einen Moment. Wann hast du zum letzten Mal mit Bouma geredet?»

«Da muss ich überlegen … Ah, da kommt meine Marzipantorte!» Er nahm der Serviererin den Kuchenteller aus der Hand und strich dabei sanft über ihre Finger. Als sie das Kaffeetablett abstellte, klirrten Tasse und Untertasse bedenklich.

«Am 18. Oktober», sagte er und versenkte die Gabel in seinem Tortenstück.

«Wie bitte?»

«Am Freitag, dem 18. Oktober, habe ich Willem Bouma zum letzten Mal gesprochen, am Telefon.»

«Weswegen hat er dich eigentlich engagiert?»

Lowenstijn kaute in Ruhe zu Ende. «Vandalismus, wie das so schön heißt. Bouma hat das Haus am Deich vor zwei Jahren gekauft, als Alterssitz. Anfangs hat er da wohl seine Ruhe gehabt, aber seit ein paar Monaten ist es immer wieder zu Anschlägen gekommen, wenn er nicht zu Hause war. Man hat ihm zum Beispiel eine ganze Hängerladung Kuhmist vor die Haustür gekippt, ihm den Schornstein mit Lumpen zugestopft, angeweste Karnickel in seinen Briefkasten gesteckt und sogar seinen Hund vergiftet.»

«Immer, wenn er nicht zu Hause war …»

«Ja, ganz klar, es muss jemand aus seiner Umgebung sein, aber im Dorf habe ich auf Granit gebissen. Es ist offensichtlich, dass Bouma nicht gerade beliebt ist, aber konkret geäußert hat sich keiner, da konnte ich mich auf den Kopf stellen. Ich hab’s sogar mit Bestechung versucht.» Er lachte über Toppes ungläubige Miene. «Ich darf das, du nicht.»

«Und wie hat Bouma sich so unbeliebt gemacht?»

«Der Mann ist Naturschützer – und er hat eine ziemlich große Klappe.»

«Zugezogen ist er auch noch», vollendete Toppe, «aber das sind doch alles keine ausreichenden Gründe.»

Lowenstijn rührte in seiner Tasse. «Bouma behauptet jedenfalls steif und fest, dass er mit niemandem persönlich Knatsch hat. Ich habe mich schließlich auf die Lauer gelegt, weiß gar nicht mehr, wie viele Nächte ich mir um die Ohren geschlagen habe, aber es ist immer alles ruhig geblieben.»

«Warum hat er sich nicht an die Polizei gewendet? Die hätte möglicherweise Spuren finden können.»

«Was weiß ich?» Lowenstijn blickte kühl. «Das hat ja meistens einen guten Grund. Aber mir konnte es so ja ganz recht sein.»

«Und bei eurem Telefonat am 18. Oktober, worum ging es da?»

«Ich hatte ihm eine Zwischenrechnung geschickt, die er noch nicht bezahlt hatte, und war leicht angesäuert, aber er meinte, er habe das Geld am Tag zuvor überwiesen – was übrigens nicht stimmt. Er erzählte mir, er habe vormittags in der Dorfkneipe laut und deutlich verkündet, dass er am Montag für ein paar Tage verreisen würde. Er hoffte, den oder die Übeltäter damit wieder auf den Plan zu rufen, die ich dann auf frischer Tat ertappen sollte. Am Sonntag wollte er sich wieder bei mir melden, um die Einzelheiten zu besprechen. Das hat er nicht getan. Seitdem klingelt bei ihm zu Hause das Telefon durch, und ein Handy besitzt er nicht. Aber ich guck jetzt mal, ob ich Mieke erreiche.»

Er plauderte munter auf Holländisch. Aufgewachsen mit einer deutschen Mutter und einem niederländischen Vater, konnte er mühelos und völlig akzentfrei zwischen beiden Sprachen hin- und herspringen.

«Wacht even!» Und dann zu Toppe: «Mieke macht sich Sorgen um ihren Vater. Sie sehen sich zwar nicht häufig, aber sie telefonieren seit dem Tod der Mutter regelmäßig miteinander, und sie kann ihn auch nicht erreichen. Warte mal!»

Er sprach wieder ins Telefon: «Waneer heb je met hem gesproken, waneer heb je hem opgebeld?» – Sie hat ihn am Samstag, dem 19. Oktober, angerufen, morgens gegen zehn. Er wollte zum Einkaufen nach Kleve fahren. Danach hat er sich nicht wieder gemeldet. – «Wat zeg je, mijn liefde? Ja … jaa, ik vraag hem. – Mieke hat einen Hausschlüssel. Sie will kommen und im Haus nachsehen. Sie möchte, dass wir beide dabei sind. Gegen fünf könnte sie in Schenkenschanz sein.»

Toppe nickte eindringlich.

«Dat past. Tot ziens! Ja, ik ben er ook blij over.»

«Lass mich raten: Sie freut sich, dich wiederzusehen.»

«Selbstverständlich!»