Eins

Die Festungsmauern waren vor drei Jahren verstärkt worden. Man hatte auch neue Schutztore eingebaut, die mit ihrem kalten Grau und den glatten Betonfassungen beklemmend funktional wirkten und so gar nicht zum beschaulichen Dorf passen wollten.

Ulrike Beckmann betrachtete die Fotos im Schaukasten an der Mauer und schmunzelte über die liebevolle, aber linkische Darstellung der Dorfgeschichte und der «Schanzer Fähre im Wandel der Zeit». Die neue Hochwasserschutzanlage, las sie, war kinderleicht zu bedienen, die Tore konnten notfalls von einer Person geschlossen werden.

Ulli schlenderte durch die Öffnung zwischen den meterdicken Mauern zum Dorf hinaus und ließ ihren Blick über die fetten Weiden mit ihren hohen Pappelgruppen schweifen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass dieser Ort bei Hochwasser zu einer Insel wurde. Der Rhein war Kilometer entfernt, und der kleine Altrheinarm zu ihrer Linken hatte wahrlich nichts Bedrohliches an sich. Sie entdeckte die Mastspitzen zweier Segelboote, die gemächlich Richtung Hafen glitten.

Vor ihr lag das Fußballfeld vom FC Vorwärts Schenkenschanz, auf dem Parkplatz daneben beugte sich ein junger Mann über die offene Haube eines alten Mercedes und schraubte am Motor herum. Er trug ölfleckige Hosen, Arbeitsschuhe und ein weißes Unterhemd. Mitten im Oktober – Ulli zog unwillkürlich die Schultern hoch. Sie grüßte, doch er gönnte ihr nicht mal einen Blick, knallte die Motorhaube zu, hechtete in den Wagen, startete ihn mit großem Getöse und bretterte röhrend an ihr vorbei Richtung Rhein. Der Weg verlor sich hinter Bäumen. Sie konnte das Auto nicht mehr sehen, zu hören war es allerdings gut.

Ungeduldig schaute sie auf ihre Armbanduhr – so langsam konnte Norbert wirklich mal auftauchen – und wandte sich wieder dem Dorf zu. Hinter ihr kam im Rückwärtsgang der Mercedes wieder angeschossen, in so mörderischem Tempo, dass sie unwillkürlich einen Satz zurück hinter das Fluttor machte und dabei über die Füße eines Mannes stolperte, der dort rauchend gegen den Mauervorsprung gelehnt stand.

«Oh, Entschuldigung!» Sie fing sich so gerade eben noch.

«Schon gut …» Er schaute an ihr vorbei. Sein Haar war von einem stumpfen Kupferrot, sein Gesicht mit zahllosen Sommersprossen überzogen. Er mochte etwa in ihrem Alter sein.

Ulli zuckte die Achseln und ging langsam weiter. Wo blieb Norbert nur? Um drei Uhr hatten sie sich hier treffen wollen, um mit der Wirtin der «Inselruh» ihre Hochzeitsfeier zu besprechen. Ihr Magen machte einen kleinen Satz. Es gab immer wieder Momente, in denen sie es nicht glauben konnte, dass sie tatsächlich heiraten würde, in weniger als drei Wochen. Mit neununddreißig Jahren! Dabei hatte sie sich geschworen, sich niemals mit jemandem fest zusammenzutun.

Zwanzig nach drei. Mochte der Himmel wissen, was ihn wieder aufgehalten hatte. Sie musste verrückt sein, ausgerechnet einen Kripomann zu heiraten. Zehn Minuten gab sie ihm noch, dann würde sie die Besprechung mit der Wirtin allein angehen.

In einem kleinen Sonnenfleck vor der «Inselruh» stand eine verwitterte Bank aus Schmiedeeisen und Holzlatten. Ulli knöpfte ihre Jacke auf, setzte sich und lehnte sich vorsichtig zurück. Das Holz sah nicht besonders vertrauenerweckend aus.

Vor den Toren der Festung röhrte der Mercedesmotor wieder auf, die Abgaswolke wehte bis zu ihr herüber. Sie rümpfte die Nase.

Von der Kirche her kam ein rotgrünes Gefährt in hohem Tempo heran, einer dieser übergroßen Tret-Gokarts, die man in letzter Zeit so oft sah. Der Junge, der ihn lenkte, war eigentlich zu alt für dieses Spielzeug, bestimmt schon fünfzehn. Aber da kamen auch schon drei kleinere Kinder hinterhergeflitzt, ein Junge und zwei Mädchen. «Ej, komm zurück, du Arsch! Geb wieder!» Der Kleine kämpfte mit den Tränen. Der Ältere fuhr einen eleganten Bogen und bremste knapp vor dem Rothaarigen. Lässig stieg er aus und gab dem Gokart einen Tritt, sodass er auf den Jungen zurollte. «Jetzt piss dir mal nich’ in die Hose, du Spacko!»

Dann stieß er dem Rothaarigen den Ellbogen in die Seite. «Mann, Voss, du stinkst. Haste Parfüm draufgetan? Haste etwa ’ne Alte?»

«Lass mich in Ruhe.» Der Mann ließ den Zigarettenstummel fallen, stieß sich von der Mauer ab und schlurfte ins Dorf zurück an Ullis Bank vorbei, zu gebeugt für sein Alter.

«Klaus?» Die Frau, zu der die dunkle Stimme gehörte, kam aus einer Seitengasse gelaufen. Sie trug enge, ausgewaschene Jeans und eine dünne, bestickte Bluse, und sie war barfuß. «Klaus, ach, Gott sei Dank! Ich glaub, ich hab gerade ziemlichen Mist gebaut. Können Sie mir schnell helfen?»

Der Mann lächelte. «Ich komm schon.»

Ulli betrachtete die Häuser gegenüber, manche sehr alt, manche jüngeren Datums, die meisten aus dunklem Backstein, alle schmuck mit getöpferten Namensschildern, Blumenkästen und -kübeln, in denen späte Geranien und Männertreu blühten. Schräg links stieg eine Gasse zur Mauerkrone steil an. Das Gebäude an der Ecke dort wirkte verwahrlost, der gelbe Putz schlug feuchte Blasen, die Fensterscheiben waren blind. 1883 war es erbaut worden, wie ein paar eiserne Ziffern über der Haustür bezeugten.

An Nr. 17 – anscheinend waren die Häuser auf der Schanz einfach durchnummeriert worden – hatte jemand eine Hochwassermarkierung angebracht: 1926 war das Wasser bis zur Oberkante der Haustür gestiegen.

Na, endlich! Norbert kam die Straße hinuntergeschlakst. Wieder machte Ullis Magen einen Hüpfer. Sie nahm ihre Schultertasche, stand auf und ging ihm entgegen. «Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.»

Er umfasste ihre Taille, zog sie eng an sich und küsste sie. «Da müsste ich ja wohl verrückt sein.» Dann schaute er sich verdrossen um. «Aber dass es ausgerechnet hier sein muss!»

«Ach komm, du weißt genau, dass ich’s romantisch haben will, wenn ich mich schon traue.»

«Ich kann hier beim besten Willen nichts Romantisches entdecken, bloß Mief. Aber wenigstens», fuhr er fort, den Schalk in den Augenwinkeln, «bleibt mir so die Kutschfahrt erspart. Oder willst du tatsächlich die hundert Meter von der Kirche bis zur Kneipe mit Pferd und Wagen zurücklegen?»

«Natürlich nicht!» Auch Ulli schmunzelte. «Das hätte keinen Stil. Nein, wir werden einen richtigen Hochzeitsparademarsch haben: Du und ich vorneweg, die ganze Gesellschaft hinterher, und meine Vorschulkinder stehen am Straßenrand und streuen Blümchen, einen ganzen Teppich. Die sind schon ganz wild drauf.»

Van Appeldorn sah sie prüfend an, sie schien es ernst zu meinen. «Im November?», entgegnete er matt.

«Im November», bestätigte sie nickend. «Ich hätt’s ja auch lieber im Mai gehabt, aber du bist es doch, der es so eilig hat. Die paar Kilo Treibhausrosen werden uns schon nicht ruinieren. Und die Kutsche bleibt im Programm, dass du dir da keine falschen Hoffnungen machst. Wir steigen in Düffelward ein, setzen mit der Fähre über den Altrhein und fahren vom Anleger mit der Kutsche zur Kirche.»

Er lächelte. Ulli hatte sich ihr ganzes Leben lang, das wahrhaftig nicht immer leicht gewesen war, ihren Kindertraum von einer Märchenhochzeit im Prinzessinnenkleid bewahrt. Und sie hatte sich in dieses Hundert-Seelen-Dörfchen verguckt mit seinen Festungsmauern und seiner wechselvollen Geschichte.

«Vorsicht!» Van Appeldorn konnte sie gerade noch gegen die Hauswand schieben, als der Gokart, diesmal mit sechs Kindern besetzt, angefahren kam.

«Hier Kind zu sein, ist bestimmt klasse», meinte Ulli. «Aber jetzt komm, die Frau wartet sicher schon.»

Die Kneipe war leer bis auf einen Mann an der Theke, der, eine Tasse Kaffee vor sich, Zeitung las. Sein graues Haar war recht lang und gelbstichig, sein Gesicht kantig, die Brauen buschig und schwarz. Als Ulli und van Appeldorn hereinkamen, sah er kurz hoch, grüßte aber nicht.

Die Einrichtung der Kneipe stammte aus den Siebzigern, alles in Braun und Beige, nur statt der damals üblichen orangefarbenen Akzente viel Tingeltangelrosa; schwere Gardinen, Eichenmöbel, Puppenlämpchen mit Goldfransen.

Van Appeldorn suchte Ullis Blick, aber die schien es nicht zu bemerken.

«Noch einen Kaffee, bitte, wenn es nicht zu viel Mühe macht», bellte der Mann am Tresen in seine Zeitung. Er sprach mit einem ganz leichten Akzent.

Aus der angrenzenden Küche vernahm man zunächst nur ein unwilliges Brummen, dann kam eine Frau heraus und knallte ihm ein Kaffeekännchen hin, ohne ihn auch nur anzusehen.

Stattdessen musterte sie van Appeldorn. «Sind Sie das Hochzeitspaar, was angerufen hat? Ich bin Bea Lentes. Kommen Sie durch, ich zeig Ihnen unseren Saal.» Ihre helle Hose betonte das ausladende Hinterteil, der kurze Pullover ihre diversen Bauchröllchen, und die sicher fünf Zentimeter hohen Plateausohlen unter den pinkfarbenen Lackschuhen mussten beim Servieren recht hinderlich sein.

Der Saal war eine angenehme Überraschung – weiß getünchte Wände, ein gewachster Terracottaboden, blau und weiß eingedeckte Tische.

«Hab ich alles renovieren lassen», betonte Frau Lentes. «Ich will schließlich auch Gäste von außerhalb, die es gern was moderner haben.»

Sie war nicht begeistert, dass das Hochzeitsbuffet von außerhalb geliefert werden sollte, aber selbst Ulli hatte dem Schenkenschanzer Angebot – «Macht bei uns alles die Frau Boos aus der 16, die ist Profi» – nichts Romantisches abgewinnen können: Jägerbraten, Römerbraten, Putengeschnetzeltes. «Mit alles, was Sie an Beilagen wollen, und für Nachtisch Herrencreme, Zitronencreme und alles; warten Sie mal, ich hol den Prospekt.»

Die Hände auf eine Stuhllehne gestützt, beugte die Wirtin sich vor. «Also, Essen nicht von uns! Da kann ich bloß hoffen, dass anständig was getrunken wird, sonst rechnet sich das für mich nämlich nicht. Ich mein, das müssen Sie verstehen, die Saalmiete alleine, die bringt es nicht. Ich hab ja schließlich die ganze Wäsche.»

Sie war recht jung, Anfang dreißig vielleicht, und hatte ein hübsches Gesicht, das sie leider unter zu schwerem Make-up, schwarzem Lidstrich und hellblauem Lidschatten versteckte.

«Es wird bestimmt gut getrunken», beeilte Ulli sich. «Auf alle Fälle hätten wir gern Champagner, wenn die Gäste eintreffen. Ich glaube, so zehn bis zwölf Flaschen können es schon sein.»

Die Wirtin guckte stumpf. «Wir haben bloß Sekt.»

«Meinen Sie nicht, dass Sie über Ihren Lieferanten auch Champagner besorgen könnten?» Van Appeldorn merkte, wie bemüht freundlich er klang.

Knapp eine Stunde später schien alles geregelt zu sein.

Auf dem Parkplatz an der Dorfeinfahrt strubbelte er Ullis Koboldhaare. «Na, zufrieden?»

Sie lächelte. «Musst du zurück ins Präsidium?»

«Ja, aber nur kurz. Es ist so viel Schreibkram liegen geblieben, und Helmut wollte, wenn’s geht, heute früher weg. Die stecken immer noch in ihrer Renovierung. Aber so, wie’s aussieht, bin ich spätestens um sieben zu Hause.»

«Fein, dann mache ich in der Zwischenzeit endlich die Einladungen fertig.» Sie drehte sich langsam um und betrachtete die sonnenbeschienene Ebene. «Hoffentlich hält sich das Wetter noch ein paar Wochen. Ich glaube, es bringt Unglück, wenn es einem den Schleier verregnet.»

«Hast du denn einen Schleier?»

«Selbstverständlich!»

Er legte ihr den Arm um die Schultern und deutete auf die Schiffsmasten, die so gerade eben über den Deich lugten. «Die werden ihre Boote bald rausholen müssen. Das Wasser steigt. Drück mal ganz fest die Daumen, dass dein Plan mit der Kutsche und der Fährfahrt klappt. Wenn es im Süden so weiterregnet, kriegen wir hier richtig Probleme.»