Sechs

Für Toppe, Astrid und Cox begann die Woche mit zäher Routine.

Stunde um Stunde arbeiteten sie sich durch Vermisstenmeldungen aus dem ganzen Bundesgebiet und den Niederlanden, telefonierten mit anderen Dienststellen, aber ihre Mühe wurde nicht belohnt.

Am Dienstag brachte van Gemmern ihnen eine Aufstellung aller Revolver, die die gleichen Projektile verschossen wie jenes, das er im Häcksler gefunden hatte, allesamt Sportwaffen: Colt Python, Colt Trooper, Colt Border Patrol mit dem Kaliber .357 Magnum, dann der so genannte Peacemaker mit seinem besonders langen Lauf, den man aus alten Western kannte, und schließlich zwei Colts mit .38er Spezial-Kaliber, der Diamond back und der Detective special.

Während Astrid sich weiter mit den Vermisstenmeldungen herumschlug, gingen Toppe und Cox hinunter ins Archiv und nahmen sich die Waffenbesitzkarten aller Sportschützen und Jäger im Kreis Kleve vor.

Toppe wurde immer stiller. Er hatte das sichere Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben, und zermarterte sich das Hirn. Auch Cox sprach wenig und wirkte ungewohnt bedrückt.

Es gab mehr als dreißig Personen, die einen der gesuchten Revolver besaßen, die meisten von ihnen einen Colt Python.

Im beständig strömenden, eiskalten Regen klapperten sie die Leute ab und sammelten die Waffen ein, wurden mürbe von den ewig gleichen Sätzen, mit denen sie ihr Anliegen erklärten. Viele der Schützen trafen sie erst nach Feierabend an, und so war es schon nach zehn, als sie ins Präsidium zurückkehrten. Keiner von beiden war überrascht, van Gemmern in der Halle vorzufinden, wo er immer noch mit stoischer Ruhe eine Portion Häckselgut nach der anderen durchsiebte. Er würde die Waffen zusammen mit dem gefundenen Projektil zum Vergleichsbeschuss nach Düsseldorf bringen.

 

Am Mittwoch schickten die Menschen auf der Schanz und in Griethausen sich an, die Hochwassertore zu schließen, und die Altrheinbrücke sollte für den normalen Verkehr gesperrt werden, doch dann hielten die Wasser plötzlich inne und pendelten sich nur wenige Zentimeter unter der kritischen Marke ein.

Der Rhein stand hoch am Banndeich, und die Nächte wurden immer kälter.

 

«Kann ich mal mit dir sprechen?» Peter Cox erwischte Astrid in der Teeküche.

«Sicher! Dir liegt schon seit Tagen was auf der Seele, nicht?»

Cox schlug die Augen nieder. «Ich wollte eigentlich keinen damit behelligen, aber …»

«Jetzt sag schon, was los ist!»

«In zwei Wochen kommt Irina!» Die Panik in seiner Stimme war nicht zu überhören. Astrid blinzelte verwirrt. «Freust du dich denn nicht?»

«Doch schon, nein …» Dann sprudelte es aus ihm heraus: «Ich habe vergangene Woche ein Doppelbett gekauft, aber jetzt weiß ich nicht, ob … Das sieht so direkt aus, oder? So, als wäre ich nur scharf auf …, als ging’s mir nur um … um Sex.» Er wurde rot. «Vielleicht wäre das Gästezimmer doch besser, aber womöglich denkt sie dann auch was Falsches.»

Astrid stützte sich ab und setzte sich auf den Küchenschrank. «Wie sind denn eure Briefe? Schreibt ihr euch auch mal was Erotisches?»

«Irina schon, ich meine, sie ist da sehr offen. Ich bin eher ein bisschen zurückhaltend. Mein Gott, ich weiß nicht mal, wie ich sie am Flughafen begrüßen soll!»

Sie strich ihm beschwichtigend über die Hand. «Nimm sie einfach nett in den Arm. Ich bin sicher, Irina wird dir schon zeigen, was sie gern möchte.»

«Hoffentlich ist es auch das, was ich möchte», murmelte er düster.

«Hör zu, richte das Gästezimmer her und dein Doppelbett, und dann lass ihr die Wahl. Lass sie einfach das Tempo bestimmen.»

Sie machte ihm Vorschläge, welches Essen er vorbereiten könnte, erzählte ihm, dass man leicht ins Gespräch kam, wenn man gemeinsam alte Fotos anschaute, gab Tipps für Ausflüge und nette Kneipen. Ganz beruhigen konnte sie ihn nicht, aber wenigstens hörte er sich nicht mehr panisch an.

 

Am Nachmittag rief van Gemmern sie alle ins Labor. Er hatte seine Untersuchung endlich abgeschlossen und präsentierte ihnen mürrisch die magere Ausbeute: ein paar Knöpfe, eine Gürtelschnalle, zwei Stücke von einem Uhrarmband, einen ausgefransten Schnürsenkel, verschiedene Fasern und einen ganzen Berg übel riechender Knochensplitter.

Irgendwo im Haus schlug klirrend ein Fenster zu und ließ alle zusammenfahren. «Die haben wieder ein Sturmtief gemeldet», sagte Cox.

 

Astrid und Toppe holten ihre Tochter früher von der Tagesstätte ab. Sie verriegelten Fenster und Türen und machten Feuer im Kamin.

Der Sturm hatte nicht die Gewalt des letzten, aber er war doch stark genug, die alte Kastanie neben dem Haus, die mehr als zweihundert Jahre lang allen Wettern getrotzt hatte, in die Knie zu zwingen. Toppe wusste, dass er ihr langes, qualvolles Ächzen und das schreckliche Geräusch, als sie endlich brach und fiel, nicht vergessen würde.

In der Nacht schlief er unruhig, wachte mehrmals auf, weil ihm Satzfetzen durch den Kopf schossen, die er nicht zu fassen bekam.

 

Am Freitag endlich trafen die Ergebnisse vom Landeskriminalamt ein, was sie aber nicht weiterbrachte. Das Opfer war männlich und hatte die Blutgruppe 0+, die DNA-Analyse lag vor, doch was half sie ohne Vergleichsprobe? Lediglich den Todeszeitpunkt hatte der Biologe anhand der Insektenlarven und -puppen näher eingegrenzt. Der Mann aus dem Maisfeld war zwischen dem 18. und 21. Oktober gestorben. Toppe schaute in seinem Tischkalender nach. Am 28. Oktober hatte Dellmann den Leichnam gehäckselt, sieben bis neun Tage nach dem Eintritt des Todes. Auch das Ergebnis vom Beschuss lag vor: Aus keinem der eingeschickten Revolver war das tödliche Projektil abgefeuert worden.

«Dann wollen wir uns mal wieder an die Computer setzen», sagte Cox, «und schauen, wer im weiteren Umkreis einen von diesen Revolvern sein eigen nennt.» Er betrachtete Toppe stirnrunzelnd. «Mir macht so eine Fiselsarbeit ja nichts aus, aber du scheinst langsam die Nase voll zu haben.»

Toppe antwortete nicht.

 

Astrid hatte Katharina in den Kindergarten gebracht.

Seit drei Monaten arbeitete sie nur noch zwanzig Stunden in der Woche und war froh, nicht mehr so oft auf ihre Eltern angewiesen zu sein, wenn es um das Kind ging. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, ihren freien Tag zu nutzen und den Holzboden auf der Galerie zu verlegen, aber Arend hatte einen Landschaftsgärtner beauftragt, sich um die Kastanie zu kümmern, und das Kreischen der Kettensägen machte sie verrückt. Sie musste weg. Unschlüssig stand sie am Küchenfenster und schaute in den eisgrauen Tag hinaus. Die großen Qualmwasserpfützen auf den Wiesen waren mittlerweile dick zugefroren, und plötzlich hatte sie eine Idee. Sie musste ungefähr in Katharinas Alter gewesen sein, als sie ihre ersten Schlittschuhe bekommen hatte, holländische Kinderschaatsen mit Doppelkufen, damit sie nicht umknickte. Die Pfützen da draußen waren ideal zum Üben, nur wenige Zentimeter tief, völlig ungefährlich. Sie freute sich jetzt schon auf Katharinas Gesicht, schlüpfte in ihre Lammfelljacke und zog Stiefel an. Ihre Handschuhe hatte sie nicht finden können, doch das machte nichts. Ihr kleiner Peugeot war zwar alt und hatte seine Mucken, aber die Heizung funktionierte prächtig. In Nimwegen gab es einen großen Laden, vielleicht sollte sie gleich Schlittschuhe für die ganze Familie besorgen. Wenn es weiter so bitterkalt blieb, würde das Eis auf den Kolken schon in ein paar Tagen tragen, und das Erfgen lag direkt vor ihrer Nase. Dann fiel ihr ein, dass sie keine Ahnung hatte, ob Helmut jemals in seinem Leben Schlittschuh gelaufen war.

 

Peter Cox wollte gerade sein Mittagsmahl auspacken, als Jupp Ackermann ihnen einen Besuch abstattete. «Na, hat Freund Norbert sich schon gemeldet?»

Toppe musste lachen. «Würden Sie aus den Flitterwochen ausgerechnet die Kollegen auf der Arbeit anrufen?»

«Klar, würd’ ich dat! Ich muss immer wissen, wat los is’, sons’ werd’ ich kribbelig, un’ da hat kein Mensch wat von. Aber wat anderes: Gibbet wat Neues von euerm Gehackteskerl? Ich mein’, et interessiert einen ja doch ir’ndswie.»

Cox stand auf und schnappte sich seine Aktentasche. «Ich geh mal kurz in die Küche, Kaffee kochen.»

Sein kühler Abgang wurde ihm allerdings vereitelt durch Bauer Dellmann, der in diesem Moment ins Büro gestürmt kam. «Welcher Idiot hat an meinem Häcksler rumgefummelt?»

«Tach, Dellmann!»

«Tach, Ackermann. Also bitte, welcher …»

Toppe war aufgestanden und streckte dem Bauern die Hand hin. «Guten Morgen, Herr Dellmann, setzen Sie sich doch. Gibt es ein Problem?»

«Das kann man wohl sagen! Ich will mich nicht setzen, ich will mich beschweren. Was habt ihr mit meinem Häcksler gemacht? Er läuft nicht, weil irgendein Vollidiot den auseinander genommen und total falsch wieder zusammengeschraubt hat. Was soll ich mit dem Teil? Und vor allem, wer bezahlt mir die Reparatur?»

«Ich hör immer Reparatur», ließ Ackermann sich vernehmen. «Dat Ding gehört doch auffe Schrottsküll. Selbs’ du kanns’ nich’ so seikerig sein, dat de mit ’ner Mordwaffe durch de Gegend stochs’.»

Dellmann fuhr zu ihm herum, machte dann aber nur eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich wieder an Toppe. «Und noch was. Heute Morgen flattern mir mit der Post so genannte Formulare für die Rückerstattung meiner Ausgaben auf den Tisch. Sechs Seiten, die ich ausfüllen soll. Dabei haben Sie mir persönlich gesagt, ich kriege mein Geld. Mein Mais steht immer noch, und den kann ich jetzt sowieso vergessen bei dem Frost. Aber den Derksen hab ich trotzdem bezahlen müssen. Verdienstausfall, wenn Ihnen das was sagt. Formulare! Ich hab meinen Mais nicht, ich hab Derksen bezahlt, und ich hab einen kaputten Häcksler. Aber ich hab auch Rechte, Herr Kommissar, oder was Sie sonst sind. Und jetzt sind Sie dran!»

«Ömmer an ’t Jammere, de Bure!» Ackermann legte den linken Fuß aufs rechte Knie und wippte. «Mach dir doch nich’ in ’t Hemd, Dellmann. Da krieg ich nämlich ’n ganzen dicken Hals bei. Wie viel Knete kassierste im Jahr an Subventionen, he? Fuffzigtausend doch mindestens, oder? Un’ weißte, wer dir dat alles reindrückt? Der Steuerzahler! Un’ weißte, wer dat is’? Jupp Ackermann, zum Beispiel. Also, halt ma’ lieber ’n Ball flach.»

«Ach, lott min doch in röst!» Dellmann versenkte die Hände in den Hosentaschen und schaute Toppe beleidigt an. «Ich soll also die Formulare ausfüllen?»

«Da führt leider kein Weg dran vorbei. Aber ich werde sehen, dass das Ganze möglichst unbürokratisch geregelt wird. Und ich werde mich auch erkundigen, wer für die Reparatur Ihrer Maschine zuständig ist und wer die Kosten übernimmt.»

«Da hör ich doch schonn wieder wat von Reparatur!» Ackermann setzte sich aufrecht hin. «Du has’ doch ’n Bälleken, Paul. Als wennste dir nix Anständiges leisten könnts!»

Dellmann schlurfte zur Tür. «Ich dacht’ immer, wir könnten miteinander, Jupp.»

«Können wer auch, aber deshalb muss man doch die Wahrheit sagen dürfen, oder siehste dat anders?», brüllte Ackermann ihm hinterher.

Cox hatte sein Mittagessen vergessen. «Anscheinend kennst du den Mann schon länger, Josef.»

«Josef! Dat du dich immer so haben muss’. Jupp heiß ich. Un’ Paul Dellmann, ich mein’, wer kennt den nich’? Der is’ ’ne große Nummer auffe Schanz. Bei ärgen Hochwasser is’ dem sein Hof die Zentrale.» Toppes interessierter Blick kam ihm gerade recht. «Wenn die Fähre nich’ mehr fährt, is’ dat schon schlimm. Über ’n Deich sind dat immerhin zehn Kilometer Umweg, wenn de in de Stadt wills’. Un’ wenn dann au’ noch die Brücke in Griethausen zu is’, dann is’ die Schanz vonne Zivilisation abgeschnitten, oder soll ich dat lieber andersrum sagen? Jedenfalls werden se dann vom THW versorgt. Die düsen da mit ihre Boote rum. Un’ damit dat nich’ so ’n Aufwand is’, alle Höfe abklappern un’ so, haben die Schänzer ’ne Sammelstation, wo se de Milch vonne Kühe hinbringen, damit se zur Molkerei kommt, un’ wo se de frischen Lebensmittel abholen. Un’ bei Paul Dellmann läuft dat alles zusammen. Da wird de ganze Logistik gemacht, wie et so schön heißt, un’ da wird auch überlegt, wat als Nächstes kommt, Evakuierung un’ all dat. Wat bis heut’ allerdings noch nich’ vorgekommen is’. Die sind eigen, die Schänzer, un’ mit Hochwasser kennen die sich aus. Aparte Leut’, schon solang man denken kann. Die sind sich selbs’ genuch. Für mich wär’ dat da nix. Ich mein’, ich komm’ ja auch aussem Kaff, aber wenn ich nur 206 Schritt von einem bis zum andern End’ laufen könnt, würd’ ich bekloppt. Aber wat ich ei’ntlich sagen wollt’, wenn er mich brauchen könnt’, ich wär’ dabei. Die Chefin hab ich schon gefragt, die hätt’ im Prinzip nix dagegen.»

Das Telefon klingelte, und Cox nahm dankbar den Hörer ab, reichte ihn aber schnell an Toppe weiter. «Astrid! Sie hört sich ganz komisch an.»

Toppe zog sich der Magen zusammen. «Hallo, was gibt’s?»

«Kannst du Katharina abholen?» Ihre Stimme war sehr leise, sehr unsicher. «Und danach mich aus dem Krankenhaus?»

«Mein Gott, was ist los? Ist dir was passiert?»

«Ich hatte einen Unfall.» Sie schniefte. «Auf der Alten Bahn in Nütterden. Blitzeis, haben die Kollegen gesagt. Ich bin gegen einen Baum geknallt. Ich war in Nimwegen, weil ich Schlittschuhe …» Dann fing sie an zu weinen.

Toppe schluckte schwer. «Was ist mit dir?»

«Glück gehabt.» Er spürte, wie sie sich zusammenriss. «Ich hab ein Riesenglück gehabt, weil ich angeschnallt war. Meine Rippen sind noch ganz, darüber staunen hier alle, aber sonst hab ich eben eine blöde Gurtverletzung …»

«Ich bin sofort bei dir!»

«Ja, das wäre schön. Warte! Mir geht es wirklich gut. Ich hab nur was an der linken Schulter, ich brauch nicht mal Gips, nur eine Armschlinge für ein paar Wochen.» Sie schluchzte auf. «Ich will nach Hause.»

«Ich komme.»