Elf

Im Haus war alles still, auch bei Arend brannte kein Licht mehr.

Toppe schaltete nur die Stehlampe ein und legte zwei Holzscheite auf die Glut im Kamin. Er war viel zu aufgekratzt, um schon schlafen zu gehen. Jetzt wäre ein Grog wirklich nicht schlecht, aber wahrscheinlich war kein Rum im Haus.

Auch Peter Cox und Ackermann hatten nicht die Ruhe gehabt, um fünf Uhr Feierabend zu machen. Peter war noch einmal nach Schenkenschanz gefahren, hatte Boumas Papiere und Fotos in Kartons gepackt und ins Präsidium gebracht, danach hatte er angefangen, die Tagebücher zu lesen. Er würde in den nächsten Tagen im Büro bleiben müssen für den Fall, dass sich jemand auf ihren Zeitungsaufruf meldete, aber das stimmte ihn eher heiter – er hatte seine Papiere, und er war immer noch auf der Suche nach der Tatwaffe.

Toppe schälte sich aus Mantel und Pullover und ging in die Küche. Am Kühlschrank klebte eine Nachricht von Astrid: Essen steht in der Mikrowelle, im Topf auf dem Herd ist Glühwein. Ich habe das Himmelbett bestellt, es wird Montag geliefert.

Verflixt, der Fußboden in ihrem neuen Schlafzimmer war immer noch nicht fertig verlegt! Hoffentlich kam er am Wochenende dazu, sonst musste er Arend um Hilfe bitten, oder er konnte Ackermann fragen, der kannte mit Sicherheit jemanden, der solche Arbeiten nebenbei machte.

Ein kleines PS auf Astrids Zettel: Weck mich ruhig, wenn du wieder da bist – ich habe Sehnsucht. Er lächelte und schaltete die Herdplatte ein – Glühwein war eine gute Idee, aber Hunger hatte er keinen. Er holte den Nudelauflauf aus der Mikrowelle und stellte ihn in den Kühlschrank.

Ackermann war überhaupt nicht zu bremsen gewesen. Zuerst hatte er einen Freund beim Segelclub angerufen und dafür gesorgt, dass morgen Vormittag Boumas Boot aus dem Wasser geholt wurde, nachdem Ackermann es zusammen mit van Gemmern gründlich untersucht hatte. Danach hatte er sich mit Wim Lowenstijn in einer Kneipe verabredet, weil er dem alles «ausse Nase ziehen» wollte, was er über Bouma wusste.

Der Glühwein dampfte, er duftete süß und stark, also musste wohl doch Rum im Haus gewesen sein, unter Arends Vorräten vermutlich. Toppe goss einen großen Becher voll und nahm ihn mit vor den Kamin.

Er selbst war schließlich doch noch zu Mieke Bouma gefahren. Am Telefon war sie gefasst gewesen, hatte nur sehr traurig geklungen. Die Polizistin, die ihr die Todesnachricht überbracht hatte, war bei ihr geblieben, bis eine Freundin sich um sie kümmern konnte. Sie war sogar ganz froh gewesen, dass Toppe sie heute noch besuchen wollte. «Es ist besser, über ihn zu sprechen, als nur nachzudenken.»

Ihr Appartement in der Nähe der Universität war nicht viel größer als eine Puppenstube, es gab keinen Platz für ein Kind. Die Freundin ging, als Toppe kam, sie würde später noch einmal vorbeischauen. Mieke Bouma hatte ihrem Vater nicht sehr nahe gestanden. Er war ein in sich gekehrter Mann gewesen, der seine Prinzipien gehabt hatte und für den es selbstverständlich gewesen war, dass jeder seine Pflichten erfüllte, aber sie konnte nicht behaupten, dass er übermäßig streng mit ihr gewesen war. Für ihn war es keine Frage gewesen, dass er in der Familie das Sagen gehabt hatte. Ihre Mutter hatte sich nicht dagegen aufgelehnt, sondern seine Autorität mit einem Augenzwinkern hingenommen. Sein Beruf sei ihm wichtig gewesen, natürlich, sonst hätte er bestimmt keine solche Karriere gemacht. «Aber wenn er zu Hause war, gab es nur die Familie, wenn er gearbeitet hat, nur seine Arbeit.» Er sei viel im Ausland gewesen, ja, auch bei den Blauhelmtruppen im früheren Jugoslawien, 1995 musste das gewesen sein, kurz bevor ihre Mutter so krank geworden war. Nein, sie könne sich überhaupt nicht erklären, warum es keine schriftlichen Zeugnisse seines Berufslebens gab. «Aber ich weiß auch nichts über diese Dinge. Papa hatte immer ein Arbeitszimmer, und dort wollte er mich nicht haben.» Als Toppe ihr von den Tagebüchern erzählte, verlor sie zum ersten Mal die Fassung. «Wie konnte er mir das verschweigen? Wieso hat er sie mir nicht gezeigt? Ich habe meine Mutter so sehr geliebt, wir waren wie Schwestern. Das wusste er doch!» Aber sie hatte sich schnell wieder gefangen und ihm weiter besonnen geantwortet. Auch Toppes Frage, ob Bouma normalerweise seine Schlüssel in der Hosen- oder Jackentasche getragen hatte, erstaunte sie nicht sonderlich. «Nein, er wollte immer alles zusammen haben, deshalb hat er sich vor Jahren eine von diesen Herrenhandtaschen gekauft, eine, die man so ans Handgelenk hängt. Ein hässliches altes Ding aus kariertem Stoff. Da hatte er immer alles drin, Schlüssel, Wagenpapiere, auch seine Geldbörse.»

 

Toppe streckte die Beine aus und legte den Kopf an die Sessellehne – der Glühwein tat seine Wirkung. Dellmann hatte ihm dreist ins Gesicht gelogen. Natürlich wusste er von den Anschlägen auf Bouma. Das ganze Dorf wusste davon. Wenn Lowenstijn die Daten der verschiedenen Anschläge hatte, konnte er versuchen, die Alibis der Bauern zu überprüfen. Es würde nicht leicht werden, einige Anschläge lagen etliche Monate zurück, aber wenn er hartnäckig blieb, würden sie sich in ihren Aussagen vielleicht in Widersprüche verwickeln. Innerhalb der letzten sechsundzwanzig Monate hatte Bouma vierzehn Anzeigen gegen immer dieselben Bauern erstattet: Paul Dellmann, Heinz Ingenhaag und Jörg Unkrig. Jedes Mal waren Geldbußen zwischen 300 und 1000 Euro verhängt worden, und Dellmann hatte in einem Fall sogar 7000 Euro bezahlen müssen.

Ackermann hatte Recht. Die Anschläge, gut und schön, aber erschoss man jemanden, weil er ein Querulant war? Wenn morgen die Zeitung erschien, würden die Schänzer wissen, dass Bouma Dellmanns Häckslerleiche war.

Toppe merkte, dass ihm die Augen zufielen. Er musste nach Den Helder fahren und sich in Boumas Ferienhaus umsehen … keine Erinnerungen an Boumas Berufsleben. Hatte er sie vernichtet? Warum? … Den Helder … «Auch wenn ich meinen Vater nicht oft gesehen habe, es ist kein gutes Gefühl, keine Eltern mehr zu haben» … Schenkenschanz … «Das haben wir hier nicht so gerne …»

«Helmut, hej!»

Er fuhr hoch und prallte mit der Stirn gegen Astrids Kinn.

«Autsch! Du bist eingeschlafen.»

«Entschuldige.» Er zog sie auf seinen Schoß. «Tut es weh?»

«Nein, gar nicht», raunte sie und küsste ihn. Sie trug nichts außer einem grob gestrickten blauen Pullover. «Willst du erzählen?»

Er schüttelte den Kopf. «Zu müde.»

Sie küsste ihn ausgiebiger, führte seine Hand unter ihren Pulli. «Zu müde für alles?»

Er stöhnte wohlig, zwang sich dann aber, die Augen zu öffnen. «Du bist … indisponiert!»

«Och, es gibt immer eine Möglichkeit …»

 

Cox hatte bis nach Mitternacht in den Tagebüchern gelesen, aber nichts finden können, was für die Polizei von Interesse war. «Wir sollten sie der Tochter übergeben, für die sind sie sicher sehr wichtig.»

«Ja», sagte Toppe. «Ich werde mir wohl morgen Boumas Ferienhaus ansehen, wenn sich das mit den Kollegen in Den Helder abstimmen lässt. Dann kann ich auf dem Weg dorthin bei Mieke Bouma vorbeifahren.»

«Übrigens, Bouma ist vor zwei Jahren in den örtlichen NABU eingetreten und hat sich im Juli sogar in den Vorstand wählen lassen. Er scheint da ganz schön aktiv gewesen zu sein. Aber das ist noch nicht alles, er war auch ehrenamtlich in der Begegnungsstätte für Obdachlose tätig. Ich habe die eben angerufen. Er betreute dort regelmäßig den Mittagstisch, und er hatte auch mehrere Schützlinge, denen er bei der Lebensbewältigung half, wie die das so schön nannten. Der Typ ist irgendwie skurril. Ich meine, ich habe mir einen Oberst a. D. immer anders vorgestellt.»

«Ich weiß nicht», sagte Toppe. «Seine Frau spricht von seinem Pflichtbewusstsein, seine Tochter von seinen Prinzipien, Lowenstijn nennt ihn ein Großmaul, und die Leute in Schenkenschanz sagen, Bouma sei ein bekloppter Besserwisser gewesen und habe sich in Sachen eingemischt, von denen er keine Ahnung hatte. Auf eine gewisse Art passt das doch alles zusammen.» Er rückte die Tastatur zurecht. «Wie auch immer, ich schreibe jetzt schnell das Protokoll von meinem Gespräch mit Mieke.»

«Ich habe Ackermann heute noch nicht gesehen», meinte Cox gedehnt.

«Der ist direkt zu Boumas Boot gefahren. Ich will auch gleich noch hin.»

 

An der Briener Schleuse kam ihm ein schwarzer Mercedes entgegen, der einen Trailer mit einem Holzboot zog. Ackermann wartete im Auto am Anleger. Der Motor lief, die Scheiben waren beschlagen.

«Ich will mir ja nich’ ’n Arsch abfrieren», erklärte er. «Van Gemmern hat sich schon wieder vom Acker gemacht. Fehlanzeige! Auf dem Boot gab et nix zu finden. Ich dacht’ immer, Bouma hätt ’n größeres Schätzken mit Kajüte. Is’ aber bloß ’ne BM-Jolle. Ich mein, ’n feines Boot ohne Frage, bloß, groß wat drauf verstecken kann man nich’. Un’ da drauf is’ auch keiner erschossen worden. Hätt ja sein können, oder? Hatte dat Boot bei sich am Steiger liegen, is’ mit seine Schlüssel un’ alles auf et Wasser raus – un’ mit seinem Mörder. Aber leider, wie gesagt, keine Spuren.»

Ackermann hatte den Kneipenabend mit Lowenstijn anscheinend genossen. «Wenn der zwei, drei Bier intus hat, is’ der nich’ mehr ganz so überkandidelt. Hat ganz schön über Bouma hergezogen, war aber nix bei, wat wir uns nich’ auch schon gedacht hätten. Auf alle Fälle ham wer jetz’ ’ne Aufstellung von alle Anschläge un’ wann se passiert sind.»

Toppe überflog die Liste und erzählte dann von den Bauern, die Bouma angezeigt hatte.

«Heinz Ingenhaag kenn ich», meinte Ackermann. «Den Unkrig bloß von Ansehen. In meine Jugend hab ich ma’ auffe Schanz gefreit, die Tochter vom Dorfschullehrer. Damals hatten die noch ’ne eigene Schule, bloß eine Klasse für alle, aber immerhin. Wat machen wer jetz’? Nehmen wer uns die drei zur Brust?»

Toppe schaute auf die Uhr. «Bis zwölf hab ich Zeit, dann muss ich zur Chefin. Am liebsten würde ich mir als Erstes Dellmann vorknöpfen. Ich bin wirklich gespannt, welches Märchen der mir heute auftischt.»

«Na, dann steigen Se ein! Ihren Wagen können wer ja nachher wieder abholen.»

Ackermann fuhr ganz gemächlich und plauderte dabei munter vor sich hin. «Ei’ntlich kenn ich jeden vonne Schanz ’n bisken vonne Schützenfeste. Die laden uns Schützen aus Scheffenthum immer ein un’ umgekehrt.»

Das Lenkrad hielt er locker mit der linken Hand, während er sich mit der rechten auf dem Oberschenkel eine Zigarette drehte. «Un’ Paul Dellmann sein Sohn is’ bei meine Jeanette inne Jahrgangsstufe. Is’ ’n netter Kerl, ganz anders wie der Alte. Will sogar den Hof übernehmen, wenn er fertig studiert hat.»

Toppe fragte nach der zugezogenen Frau, über die man sich im Dorf das Maul zerriss.

«Ich glaub, ich weiß, wen Sie meinen. Dat muss die Freya Fuchs sein. Die schreibt so Kinderbücher. Meine Mädkes haben die verschlungen, wie die noch klein waren. In Wirklichkeit heißt die aber anders, mein ich. Gesehen hab ich se noch nich’.»

Als sie hinter Griethausen auf den Deich kamen, bot sich ihnen ein überwältigender Ausblick: Die überfluteten Wiesen rund um Schenkenschanz waren völlig zugefroren, eine gigantische weiße Fläche zog sich bis zum Horizont, hier und dort, wie mit Tusche gezeichnet, die Wipfel der Pappeln, Erlen und Weiden. Eine jungfräuliche, gähnend leere Fläche – Frau Lentes’ Schlittschuhkunden blieben aus. Kein Mensch, der bei Verstand war, hielt sich bei minus zweiundzwanzig Grad freiwillig draußen auf.

Ackermann hatte am Straßenrand angehalten und genauso still wie Toppe den Anblick in sich aufgenommen. «Ich hab gehört, dat auffem neuen Rhein auch schon Eisschollen treiben. Man glaubt et gar nich’!»

Sie fanden Dellmann im Stall, wo er versuchte, zwei uralte Ölöfen in Gang zu bringen.

«Na, Paul, musste stochen, dat dir dat Vieh nich’ eingeht?»

Der Bauer machte einen Riesensatz und presste sich die Faust gegen die Brust. «Mann Gottes, musst du mich so erschrecken?» Dann erkannte er Toppe, und die Farbe kehrte blitzschnell in sein Gesicht zurück. «Ich habe es heute Morgen in der Zeitung gelesen.»

Toppe sagte nichts, schaute ihn nur aufmerksam an.

«Ja», Dellman zog ein schmuddeliges Tuch aus der Tasche und schnäuzte sich die Nase, «dass es wohl der Bouma war, den ich in meiner Maschine hatte.»

«Stimmt.» Toppe trat dicht an ihn heran, er war gute zwanzig Zentimeter größer. «Ich würde gern wissen, warum Sie mich angelogen haben.»

«Hab ich das?»

«Sie haben mir gesagt, Sie wüssten nichts von Anschlägen auf Bouma.»

Dellmann sah ihm fest in die Augen. «Weiß ich auch nichts von!»

«Frau Lentes allerdings …»

«Ach die!» Der Bauer machte eine wegwerfende Handbewegung und wich ein, zwei Schritte zur Seite. «Die quatscht viel, wenn der Tag lang ist. Ich weiß jedenfalls von gar nichts.»

Ackermann lachte herzhaft. «Un’ ich bin der Kaiser von China! Du meins’, da kommste mit durch? Wenn ich mich jetz’ gleich ma’ bei all meine Schänzer Freunde umhör’, wat glaubste, wie schnell ich raushab, wat du in Wirklichkeit weißt!»

«Gej könnt min de Kont kösse!», spie Dellmann.

«Wenn ich übersetzen darf», Ackermann rieb die Handflächen aneinander, pustete hinein, rieb wieder. «Du kannst mir das Hinterteil küssen. Besser bekannt unter: Du kannst mich am Arsch lecken.»

«Ich will damit nichts zu tun haben!» Dellmanns Stimme überschlug sich.

«Das glaube ich Ihnen gern», meinte Toppe kühl. «Wo waren Sie am 3. September zwischen 19 und 22 Uhr 30?»

Der Bauer gab ein Geräusch von sich wie ein in die Enge getriebener Kater. «Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Woher soll ich das denn jetzt noch wissen?»

Toppe zog die Handschuhe aus, holte seine Zigaretten aus dem Mantel und zündete sich eine an. «Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde es doch sehr merkwürdig, dass Sie nicht mehr wissen, was Sie an Ihrem eigenen Geburtstag gemacht haben.»

«Mein Geburtstag», knurrte Dellmann, «ach so, ja.»

«Wir ham dich nämlich bei uns im Computer, Paul.» Ackermann schaffte es, beiläufig zu klingen. «Bis’ ja ’n paarma’ ganz schön verknackt worden, wa?»

Dellmann feuerte wilde Blicke ab. «Weil mich der Großkotz angeschissen hat, wegen nix!» Dann wurde er plötzlich ganz steif, in seinem Gesicht arbeitete es. «Ach, jetzt versteh ich. Ihr wollt mir was in die Schuhe schieben! Ihr wollt mir in die Schuhe schieben, ich hätte Bouma umgebracht!»

«Wohl kaum», entgegnete Toppe kalt.

Dellmanns Nasenspitze glänzte weiß. Ackermann berührte ihn an der Schulter. «Verstehste dat nich’? Du müsstes’ doch total bescheuert sein, oder? Wenn du den Bouma erschossen hättes’, dann hätteste doch wohl kaum die Bullen angerufen. Du hättes’ den in aller Ruhe durchgehäckselt, un’ dat wär et dann gewesen. Oberst Bouma spurlos verschwunden! Obwohl …» Er wandte sich an Toppe mit einer Miene, die er anscheinend für gewitzt hielt. «Obwohl, Chef, ir’ndwie wär et ja genial, oder? Genauso könnt’ der Paul sich dat gedacht haben: Wenn er uns anruft, kriegen wir keinen Verdacht gegen den.»

Dellmann riss sich die Kappe vom Kopf und wrang sie zwischen den Händen.

«Also», setzte Toppe wieder an. «Was haben Sie an Ihrem letzten Geburtstag gemacht? Sie wissen schon, zwischen 19 und 22 Uhr 30.»

Der Bauer schaute zu ihm hoch, setzte seine Kappe wieder auf und schob die Hände in die Hosentaschen. «Wir haben gegrillt, war ziemlich warm an dem Tag. Ein paar Leute waren da.»

«Wer?»

«Weiß ich nicht, ist ja immer dasselbe.»

«Na, dann müssen Sie mir ja erst recht ein paar Namen nennen können.»

Aber er bekam keine Antwort. «Na gut.» Toppe ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus. «Herr Ackermann, sorgen Sie bitte dafür, dass Frau Dellmann und ihr Sohn in einer Stunde im Präsidium sind. Ich will sie getrennt vernehmen.»

«Jetzt weiß ich es wieder», quetschte Dellmann hervor. «Heinz Ingenhaag war hier mit seiner Frau, van den Heuvels, Bos, Maaßens und Jörg Unkrig. Können noch ein paar mehr gewesen sein, aber die fallen mir nicht ein. Reicht Ihnen das? Hoffentlich! Mir reicht es nämlich jetzt. Es gibt tatsächlich Menschen, die arbeiten müssen, auch wenn Sie sich das vielleicht nicht vorstellen können.»

Auf dem Weg zum Auto sagte Ackermann kein Wort. Erst als sie eingestiegen waren, schaute er Toppe an. «Äh, Chef, wat war denn eigentlich am 3. September?»

Toppe schmunzelte. «Da hat man Bouma den Hänger mit Mist vor die Tür gekippt.»

«Un’ dat haben Se sich gemerkt, auch wenn Se nur ma’ ebkes kurz auf meine Anschlagsliste geguckt haben?»

«Ich wusste ja, wann Dellmann geboren ist», erwiderte Toppe.

«Trotzdem!» Ackermann ließ den Blick über die Ebene schweifen. «Auch wenn dat jetz’ bloß ’n Trick war mit Frau un’ Sohn getrennt vernehmen, aber ein’ntlich is’ et dat. Wenn wir aus denen wat rauskriegen wollen, müssen wer se uns alle einzelnt vorknöpfen un’ ganz schön gewievt sein.»

 

Die Fahrbahn war trocken, der Asphalt hatte durch den Frost eine fast weiße Farbe angenommen.

«Wie lange werden wir wohl brauchen bis Den Helder?», fragte Toppe.

«Bei dem Verkehr können dat locker drei Stunden werden. Wann sollen wer denn bei de Kollegen sein?»

«Gegen elf.»

«Dat schaffen wer.» Ackermann war ungewohnt wortkarg.

«Sind Sie ein Morgenmuffel?», wollte Toppe wissen.

«Ich nicht», feixte Ackermann, «aber Sie!»

Toppe stutzte. «Nicht, dass ich wüsste.»

«Dat is’ et ja, man selber merkt et nich’, aber Sie sind morgens immer ganz still, schon solang ich Sie kenn. Un’ da hab ich mir gesagt, Ackermann, halt dich geschlossen, geh dem Chef nich’ auffen Senkel. Man soll et nich’ glauben, aber ich kann au’ anders.»

Sie schwiegen eine Weile einträchtig vor sich hin.

Schließlich fragte Toppe: «Sie sprechen doch Holländisch, oder?»

«Sicher, sons’ wär ich bei de Sippschaft von mein holdes Eheweib doch aufgeschmissen.»

Toppe verzog das Gesicht. «Ich komme mir richtig blöd vor. Peter hat ein Zertifikat, Astrid hatte Niederländisch als Leistungskurs in der Schule, selbst Norbert kommt ganz gut durch.»

«Dat is’ ja au’ einfach, wenn man von hier kommt. Ich hab et ja au’ so automatisch aufgeschnappt, weil ich anne Grenze groß geworden bin. Richtig gelernt hab ich dat nie.»

Er hatte zwei Zigaretten gedreht und hielt Toppe eine hin.

Er nahm sie, obwohl Ackermanns «Javaanse» ihm eigentlich viel zu stark waren.

Die Chefin hatte ihn heute Morgen überfallen, kaum dass er im Büro gewesen war. Ein holländischer Offizier hatte sie aufgesucht, um ihr mitzuteilen, dass Bouma ein Militärbegräbnis bekommen würde, und um zu fragen, wann Boumas Leichnam freigegeben wurde. Ferner hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass der Geheimdienst eigene Ermittlungen in diesem Mordfall anstellen würde.

«Die ganze Sensationspresse und die Geier vom Privatfernsehen stehen bei mir auf der Matte, weil die Geschichte doch so schön plakativ ist: nur ein halber Fuß, die blutigen Reste im Maishäcksler und dann dieses idyllische Dörflein.» Sie hatte maliziös gelächelt. «Die können auf der Matte stehen, bis sie schwarz werden. Jeder bekommt dieselbe sachliche Presseerklärung, basta!»

Toppe staunte immer noch. Die Meinhard stand zu ihrem Wort, sie hielt ihm den Rücken frei. Das war nicht immer so gewesen. Es hatte Jahre gedauert, bis sie miteinander klargekommen waren. Als sie ihm vor die Nase gesetzt worden war, hätte er am liebsten das Handtuch geschmissen, aber es hatte keine Alternative gegeben. Er hatte zwei Familien zu ernähren gehabt, zumindest seinen Beitrag dazu leisten müssen. Irgendwann hatte er gelernt, deutlicher seinen Standpunkt zu vertreten, bestimmter Grenzen zu ziehen und klare Forderungen zu stellen. Eine Sprache, die Charlotte Meinhard verstand und schätzte; mittlerweile waren sie Partner.

Die Landstraße zwischen Alkmaar und Den Helder führte an einem breiten Kanal entlang.

Toppe erinnerte sich an ein langes Wochenende mit Astrid auf Texel vor Jahren, als sie sich gerade verliebt hatten. Es war im Spätsommer gewesen, und sie hatten sich Zeit gelassen auf dem Weg durch die sonnige Landschaft mit den geduckten Reetdachhäusern und den alten Bäumen auf der einen und dem lebhaften Treiben auf dem Kanal auf der anderen Seite – Hunderte von Segelbooten, Kinder in «Optimisten», die gewandt zwischen den Jollen hin und her flitzten.

An einem Café hatten sie Rast gemacht und unter dem ausladenden Dach einer Linde Apfelkuchen gegessen, den Duft von frisch gemähtem Gras in der Nase, und den Geräuschen des Kanals gelauscht.

Jetzt war das Wasser gefroren, die Landschaft erstarrt.

Auch Ackermann hing Erinnerungen nach. Um diese Jahreszeit wimmelte der Kanal normalerweise nur so von Schlittschuhläufern und Jugendlichen, die Eishockey spielten, es gab Glühweinstände und Frittenbuden. Dieses Jahr würde wohl sogar der große «Nikolauslauf», an dem er selbst schon dreimal mit Nadine, seiner Ältesten, teilgenommen hatte, ausfallen. Der stetige Wind Noord-Hollands machte einen Aufenthalt im Freien unerträglich.

In den Sommermonaten war Den Helder ein summendes, buntes Hafenstädtchen mit gut gelaunten Feriengästen und Leuten, die für ein paar Stunden die Cafés und Restaurants bevölkerten und die kleinen Lebensmittelmärkte plünderten, bevor sie die Fähre nach Texel nahmen, wo sie zwei, drei Wochen in einem Ferienhaus verbringen würden. Im restlichen Jahr war Den Helder ein ruhiger Ort – die Saisonläden packten ihre Straßenstände weg und ließen die Gitter herunter –, nur Segler waren eigentlich immer da, unabhängig von der Jahreszeit. Heute war Den Helder eine Geisterstadt, selbst die Ampeln waren ausgefallen. Sie fanden das Revier auf Anhieb. Mit den Kollegen in Nimwegen, Arnheim und Umgebung lief die Zusammenarbeit seit vielen Jahren blind. Regelgerecht hätte bei grenzüberschreitenden Ermittlungen Interpol eingeschaltet werden müssen, ein zeitaufwendiges, zermürbendes Verfahren, fruchtlos, wenn man schnelle Informationen brauchte oder fix handeln musste.

Im Norden an der Küste kannte man den «kleinen Grenzverkehr» nicht. Die Kollegen hatten sich zwar nach einigen Telefonaten und Rückversicherungen auf die unkomplizierte Amtshilfe eingelassen, aber man konnte sicher nicht behaupten, dass die beiden Beamten, die mit ihnen zu Boumas Haus fuhren, vor Arbeitseifer und Sympathie übersprudelten. Selbst Ackermanns launige Sprüche entlockten ihnen allenfalls ein sehr müdes Lächeln. Toppe hatte den Eindruck, dass die beiden Deutsche – Polizist hin oder her – nicht so furchtbar gern mochten, aber er verbot sich den Gedanken sofort.

Ein sehr kleines, aber solides Backsteinhaus am Ende einer Sackgasse, direkt am Deich. Der Schlüssel aus der unteren Schublade passte ins Schloss der dunkelgrünen dicken Holztür.