Zwei
Die Luft in dem kleinen Büro war zum Schneiden dick. Wie immer, wenn sie längst überfällige Berichte schreiben mussten, rauchten van Appeldorn und Toppe eine Zigarette nach der anderen. Peter Cox zerknüllte seine Lucky-Strike-Packung. Er hatte das tägliche Kontingent, das er sich zugestand, schon vor einer Stunde ausgeschöpft und rang mit sich.
«Gibst du mir eine Zigarette, Helmut?», fragte er schließlich resigniert.
«Nimm dir eine!» Sein Chef wandte den Blick nicht vom Bildschirm ab, er beschäftigte sich gerade mit dem tätlichen Angriff dreier alkoholisierter Jugendlicher auf einen Kinobesucher am letzten Freitag. Auch als das Telefon klingelte, reagierte er nicht, also griff Cox quer über den Schreibtisch zum Hörer: «KK 11, Cox am Apparat.» Er lauschte eine Weile und notierte eine Adresse.
«Ich sage das jetzt wirklich ungern», meinte er dann in die Runde. «Mir ist klar, dass du in vier Tagen heiratest und jede Menge um die Ohren hast, Norbert, ich weiß auch, dass Helmut unbedingt Bilder aufhängen muss, von meinen eigenen dringenden Plänen mal ganz abgesehen, aber ich fürchte, wir müssen das für den Moment vergessen. Es gibt Arbeit. Ein Bauer in Schenkenschanz will einen Menschen geschreddert haben.»
Van Appeldorn schauderte. «Vorsätzlich?»
Cox zuckte die Achseln. «Er sagte, er erntet gerade sein Maisfeld ab, und da sei ihm was in den Häcksler gekommen. Zuerst dachte er an ein Reh, aber es guckt noch ein halber Fuß mit Schuh raus.»
Toppe runzelte finster die Brauen. «Ich hatte so etwas vor Jahren schon einmal. Ein Tippelbruder, der im Maisfeld seinen Rausch ausschlafen wollte. Wenn das einer von diesen alten Häckslern ist, können wir uns auf was gefasst machen.» Er nahm seine Jacke. «Schick uns den ED raus, Peter, ja?»
«Klar, sofort. Braucht ihr mich da draußen, was meinst du?»
Toppe schüttelte den Kopf. «Kann ich mir nicht vorstellen.»
«Dann würde ich wohl gern bald Feierabend machen, ich muss nämlich dringend ein paar Sachen besorgen.»
Es war der erste Hof rechts, wenn man auf dem Deich Richtung Schenkenschanz fuhr, ordentliche Gebäude, ein akkurat angelegter Gemüsegarten, der Weg, der zum Maisfeld führte, war asphaltiert. «Dem scheint’s nicht schlecht zu gehen», meinte van Appeldorn. Fette Viehweiden, ein abgeernteter Acker, das Maisfeld war sicher an die zwei Hektar groß und nicht einmal zu einem Viertel abgemäht. Toppe schaute über die Schulter, von hier aus konnte man die Festung nicht sehen.
Bauer Dellmann wartete neben seinem Häcksler, einer alten, aber sorgfältig gepflegten Maschine, groß wie ein Mähdrescher. Er hatte Mühe, sich zu sortieren, und war leichenblass.
«Dass mir so was passieren muss!», jammerte er. «Und alles bloß, weil es so schnell gehen musste. Die haben doch Sturm gemeldet!»
Toppe schaute hoch, dunkle Wolkenfetzen fegten über den Himmel. Es dämmerte, obwohl es nicht einmal vier Uhr war.
«Und ich pass doch immer so auf, weil ich früher schon mal ein Tier drin hatte», lamentierte Dellmann weiter. «Eigentlich hätt ich ja schon längst eine neue Maschine kaufen wollen, aber ich dacht, dies Jahr tut es die alte noch. Und jetzt das! Da wird man doch verrückt bei!»
«Wäre denn so was mit einem neuen Häcksler nicht passiert?», wollte van Appeldorn wissen.
«I wo! Die sind doch heute mit allen Schikanen, Sensor, Metalldetektor und was weiß ich noch alles. Die schalten sich sofort ab, wenn was ist. Aber die alte Möhre hier, die hackt dir alles kurz und klein.» Er deutete auf die Maispflanzen und schüttelte sich. «Ich mein, so ’n Knochen ist doch auch nicht dicker wie so ’ne Stange hier.»
Ungefähr zwanzig Meter vor dem Häcksler stand ein Traktor mit einem Hänger für das Häckselgut. Ein Junge, siebzehn oder achtzehn Jahre alt, sprang vom Treckersitz und kam langsam näher.
«Mein Sohn», erklärte Dellmann.
Der junge Mann war noch blasser als sein Vater. «Hallo», grüßte er tonlos und räusperte sich.
Eine heftige Windbö jagte über das Feld, die Maisstangen bogen sich raschelnd, Spreu flog auf.
Van Appeldorn hustete und schaute Toppe an. Sie hielten beide einen Moment inne, dann beugten sie sich über das Maisgebiss vorn am Häcksler.
Ungefähr ein Drittel des Fußes war unversehrt geblieben. Es steckte in einem braunen Herrenhalbschuh, das Leder war blank gewichst.
Man hörte einen Wagen heranrollen, der Erkennungsdienst, Klaus van Gemmern, seit Jahren ein Ein-Mann-Betrieb. Er blieb neben seinem Auto stehen und sah sich einen Augenblick gründlich um, dann kam er schnell herüber und hockte sich neben sie. Toppe hörte, wie er scharf durch die Zähne einatmete, aber sein Gesicht blieb unbewegt. «Dann wollen wir mal. Ich rufe ein paar Kollegen. Bis dahin müsst wohl oder übel ihr mir zur Hand gehen.»
Er sprang auf die Füße, lief zum Hänger hinüber, kletterte hinauf und betrachtete den Inhalt. «Das mittlere Sieb dürfte reichen», murmelte er und ließ sich wieder herunter.
«Das hier muss alles abgedeckt werden. Es fängt gleich an zu regnen. Planen hab ich im Auto.» Er warf van Appeldorn den Schlüssel zu und drehte sich zum Bauern um. «Haben Sie Platz in Ihrer Scheune?»
«Ja, schon, aber …»
«Dann fahren Sie den Anhänger bitte gleich dort rein.»
Der Sohn trat einen Schritt vor und nickte, er schien froh, etwas tun zu können.
Toppe nahm Dellmann zur Seite. «Jetzt erzählen Sie mir mal, was eigentlich genau passiert ist.»
Dellmann kehrte die Handflächen nach oben. «Da gibt es nix zu erzählen. Ich fahr meine Reihen ab, und auf einmal denk ich, ich hab da was liegen sehen. Zack, war es auch schon weg, schneller, als wie ich die Maschine ausmachen konnte. Ich wusste nicht mal, dass es ein Mann war, bis ich den Schuh gesehen hab.»
Van Gemmern hatte inzwischen, zusammen mit van Appeldorn und dem Jungen, die Plane über den Hänger gezogen und schaute Toppe fragend an. «Ich lass das ganze Feld mit Flatterband absperren.»
Toppe nickte. «Wir müssen wissen, wie und von wo der Mann ins Feld gekommen ist, also Schuhspuren, Reifenspuren. Wo haben Sie angefangen zu mähen, Herr Dellmann?»
«An dem Weg vorne, da auf der Ecke. Wenn da Reifenspuren waren, hab ich die bestimmt alle platt gefahren. Jedenfalls, gesehen hab ich keine.»
Kurz darauf kamen drei Streifenwagen den Weg herunter, dahinter der Transporter für den Generator, die Kabel und die großen Lampen. Gleichzeitig öffnete der Himmel seine Schleusen, dicke Regenschleier fegten über die Ebene.
Van Gemmern fluchte wild, bellte Befehle, fotografierte, ließ Markierungen anbringen, Maßbänder ausrollen, schickte den jungen Dellmann mit Traktor und Anhänger in die Scheune, fotografierte weiter. Erst als das ganze Feld abgesperrt, das Licht gebaut war und sich die Streifenpolizisten für ihre Suche nach Schuh- und sonstigen Spuren formierten, hielt er inne und drehte Toppe sein hageres Gesicht mit den rot geränderten Augen zu. «Fürs Erste können wir einschleppen.»
Der Bauer hatte sich nicht vom Fleck gerührt und schien sich mittlerweile etwas von seinem Schock erholt zu haben. «Einschleppen?», fragte er alarmiert. «Was soll das denn heißen?»
Van Appeldorn erklärte es ihm: «Wir nehmen Häcksler und Hänger mit in unsere Halle am Präsidium. Die müssen auseinander gebaut und untersucht werden.»
«Und wie soll ich meinen Mais runterkriegen? Das könnt ihr doch nicht machen!» Dellmann schnappte nach Luft. «Als wenn ich nicht schon genug Ausfall hätte, jetzt, wo die verdammten Gänse wieder kommen. Ich hab doch wohl Kacke genug am Kopp.»
«Tja.» Van Appeldorn betrachtete ihn ungerührt und strich sein nasses Haar zurück, das sich in dünnen schwarzen Schlangen um Stirn und Hals ringelte. «Da fragst du vielleicht mal einen netten Nachbarn, oder aber du nimmst dir einen Lohnunternehmer und schickst die Rechnung dann an die Polizeibehörden. So einfach ist das.»
Toppe fror. «Wer lebt alles auf Ihrem Hof?»
«Was?» Dellmann legte die Hand hinters Ohr. Der Wind machte eine Verständigung schwierig.
«Wer alles bei Ihnen wohnt!»
«Im Moment bloß meine Frau, mein Sohn und ich. Wir hatten noch zwei Polen, aber die haben Ende September aufgehört.»
«Gehen wir hinein. Wir müssen mit allen reden.»
Es war gut, ins Trockene zu kommen. Das Haus schmiegte sich dicht an den Deich, und in der Küche war das Windgeheul kaum zu hören. Frau Dellmann stellte ihnen dicke Steingutbecher hin und goss Kaffee ein. Mit Anfang vierzig war sie gute zehn Jahre jünger als ihr Mann.
«Ob ich irgendwen gesehen habe die letzten Tage? Mein Gott, was glauben Sie denn, wer hier so alles über den Deich fährt! Der Schulbus, die ganzen Schänzer. Ich mein, wenn man mal ebkes schnell in die Stadt will, nimmt man den Deich, nicht die Fähre. Die ist doch mehr für größere Transporte. Außer für die Touristen natürlich.»
«Ich hab keinen fremden Mann hier gesehen», sagte Dellmann müde. «Du denn, Uwe?»
Der Junge schüttelte stumm den Kopf. Ihm schien immer noch übel zu sein.
«Na, auf dem Hof war keiner, den ich nicht gekannt hätt», bekräftigte die Bäuerin.
Es war Nacht geworden, bis die Einteilung der Wachen und alles andere geregelt war und Toppe und van Appeldorn sich endlich auf den Weg machen konnten. Als sie auf die Deichkrone kamen, packte sie eine Windfaust und drückte sie mühelos auf die Gegenspur.
Van Appeldorn fasste das Lenkrad fester. «Da braut sich mächtig was zusammen.»
Toppes Heimfahrt gut eine Stunde später, nachdem er schnell noch die Eckdaten in den Computer eingegeben hatte, war abenteuerlich. Er schaffte es kaum, den Wagen auf der Straße zu halten. Der Wind hatte sich zu einem Sturm ausgewachsen, wie er ihn lange nicht mehr erlebt hatte, und das Unwetter nahm immer noch an Gewalt zu.
Tote Blätter und abgestorbene Zweige prasselten aufs Autodach, dann krachte nur wenige Meter vor ihm ein mächtiger Ulmenast auf die Straße. Er schaffte es so gerade eben, daran vorbeizumanövrieren, und atmete auf. Die Vorstellung, hier unter den Bäumen aussteigen zu müssen, um das Ungetüm von der Straße zu zerren, war wenig anheimelnd.
Die Scheibenwischer arbeiteten auf höchster Stufe, dennoch war draußen kaum etwas zu erkennen, das Auto schaukelte unkontrolliert.
Am Haus Wurt brannten sämtliche Außenleuchten, durch die Regenwand konnte er drei Gestalten ausmachen. Als er ausstieg, flog ein Schwarm Dachpfannen über ihn hinweg und zersplitterte zwanzig Meter weiter auf dem Boden.
Er rannte los. «Seid ihr denn alle verrückt geworden? Es ist lebensgefährlich hier draußen!»
Arend Bonhoeffer schaute hoch und schob seine Kapuze zurück. «Wir haben’s ja geschafft», brüllte er. «Ab nach drinnen, Mädels!»
Astrid und Sofia zögerten keine Sekunde, geduckt liefen beide auf die jeweilige Haustür zu.
«Was war denn?», brüllte Toppe zurück.
Bonhoeffer wich ein paar Schritte zur Seite, der alte Kastanienbaum knarzte bedrohlich.
«Die Abdeckung hatte sich losgerissen. Alles flog wild durch die Gegend.»
Sie hatten die Bodendielen, die sie noch verlegen mussten, draußen gestapelt gehabt. Jetzt lagen sie in einem Haufen kreuz und quer, aber wenigstens waren sie wieder mit Folie bedeckt und ein paar großen Steinen gesichert.
«Danke!»
«Keine Ursache!»
Sie brüllten sich weiter an und grinsten dabei.
«Noch einen Grog?»
«Bin zu kaputt! Die Dachziegel kommen runter!»
«Kein Problem, untendrunter ist alles dicht.»
«Wir sehen uns morgen übrigens beruflich», röhrte Toppe gegen den Wind.
«Wie bitte?»
«Beruflich! Morgen! Ich bring dir was!»
«Fein! Bis morgen dann!»