Zehn

Minus zwanzig Grad hatte das Thermometer in der Frühe angezeigt.

Toppe hatte sich einen zweiten Schal umgebunden, ihn bis unter die Augen hochgezogen. Trotzdem wurde ihm das Gesicht taub, als er die Hauptgasse auf der Schanz entlanglief.

Aus der Kneipe drang Stimmengemurmel. Es war erst zwanzig nach zehn, und eigentlich hatte die «Inselruh» noch gar nicht geöffnet.

Als er die Tür aufstieß, wurde es still. Sechs Leute hockten an der Theke und schauten ihn an. Drei Frauen zwischen Mitte vierzig und Ende fünfzig, darunter auch die aus Nr. 17, zwei Männer um die sechzig, beide mit einem Glas Altbier vor sich, und Dellmann. Er nickte Toppe knapp zu, die anderen rührten sich nicht. Es roch nach billigen Zigarillos.

Toppe nahm seinen Schal ab und rieb sich das Gesicht.

Bea Lentes kam aus der Küche und stellte den Frauen ein Tablett mit drei Kaffekännchen und Tassen hin. «Verteilt mal selbst, Strudel kommt gleich. Und was willst du, Paul?»

Sie winkte Toppe zu. «Ich komme sofort! Suchen Sie sich doch schon mal einen Tisch aus.» Dann wieder zu Dellmann: «Nix für ungut, Paul, aber ich hab gerade ‹Wasser› verstanden.» Der Bauer zischte etwas, was Toppe nicht verstand. Er setzte sich an den Ecktisch hinter der Tür, nicht zu weit vom Tresen entfernt.

Die Wirtin lachte. «Ist ja schon gut, Paul, brauchst mich nicht sofort anpupen. Ich darf mich doch wohl noch wundern, oder? Ich mein, du in der ‹Inselruh› morgens um halb elf und dann Wasser! Bei dem Wetter! Wenn du wenigstens Grog nehmen würdest.» Sie zwinkerte Toppe zu. «Für Sie vielleicht einen Grog, Herr Toppe? Ich mach den mit extrastarkem Rum aus Österreich. Der hat’s in sich. Da sind Sie den ganzen Tag nicht mehr kalt.»

Er musste lächeln. «Danke, ein andermal bestimmt, aber für den Moment tut’s ein Kännchen Kaffee.»

An der Theke wurde das Gespräch wieder aufgenommen, es ging anscheinend ums Wetter.

Die Wirtin hatte ihre prallen Kilos in einer hellblauen Stretchhose und einem bauchfreien schwarzen Rollkragenpullover untergebracht. Trotz der Schwindel erregend hohen Plateaus bewegte sie sich leichtfüßig, als sie Toppe den Kaffee servierte.

«Was ist denn das heute für ein Auftrieb bei Ihnen?»

«Das wüsst ich auch gern. Muss wohl an Ihnen liegen.» Sie lachte. «Nein, Quatsch! Bei mir ist es eben lecker warm. Ich hab nämlich eine neue Heizung einbauen lassen, was hier auf der Insel nicht jeder von sich behaupten kann.» Sie grinste frech zu den anderen hinüber und beugte sich über den Tisch. «Heute könnt ich Ihnen einen Kirschstrudel anbieten, frisch aus dem Ofen.»

«Hört sich gut an», meinte Toppe.

«Vielleicht die Zeitung dabei?» Sie langte zu dem Bord hoch, auf dem zwei Ausgaben der heutigen Niederrhein Post lagen.

«Gern, danke.»

Das Gemurmel an der Theke wurde lauter, als er hinter der Zeitung verschwand.

Frau Lentes brachte den Strudel. «Ist noch heiß. Tun Sie die Sahne gleich erst drauf, die läuft Ihnen sonst weg.»

«Setzen Sie sich doch mal eben, ich würde Sie gern noch was zu Willem Bouma fragen.»

Sie schüttelte ein wenig ungehalten den Kopf. «Was haben Sie bloß immer mit dem?» Aber dann zog sie doch einen Stuhl unterm Tisch hervor und setzte sich auf die Kante. «Ja?»

«Auf Bouma sind in den letzten Monaten Anschläge verübt worden», sagte Toppe laut und registrierte zufrieden, dass es am Tresen mucksmäuschenstill wurde.

«Stimmt», antwortete die Wirtin. «Das mit der Hündin fand ich ja gemein. War ein liebes Tier, ein Collie, sah genau aus wie Lassie.»

«Und außer Ihnen wusste keiner im Dorf von diesen Anschlägen?»

«Doch, sicher …» Misstrauen schlich sich in ihren Blick. «Wieso?»

Toppe schaute zur Theke. Dellmann drehte ihm den Rücken zu.

«Bea!», rief der Mann neben ihm. «Lass ma’ die Luft ausse Gläser, oder biste dir zu fein dafür?» Er hatte ein Feuermal auf der rechten Wange, das sich jetzt bläulich färbte.

Bea Lentes sprang auf. «Die Arbeit ruft.»

«Nicht schlecht», dachte Toppe. Sollte er sich Dellmann noch einmal allein vorknöpfen oder jetzt sofort zusammen mit den anderen?

Aber da wurde leise die Tür aufgeschoben, und der rothaarige Handwerker, den Toppe gestern aus dem gelben Haus hatte kommen sehen, stapfte herein, ohne Mantel, ohne Handschuhe. Er hastete zu einer freien Stelle an der Theke, schaute niemanden an, grüßte nicht.

«Beatrix, ich würd gern fünf Flaschen Alt mitnehmen.» Toppe hatte Mühe, ihn zu verstehen.

Die Frau aus Nr. 17 tauschte bedeutungsschwere Blicke mit ihren Nachbarinnen. «Na, Voss, hat Papa vergessen, für Nachschub zu sorgen, arme Jung?» Dicker Honig in der Stimme.

Der Rothaarige fuhr sich mit der Zunge über die gesprungenen Lippen und hielt seine Augen auf Bea Lentes geheftet. «Und eine Flasche Kümmerling.»

«Ja, sicher, kein Problem, Voss.» Sie nahm ihm den Baumwollbeutel ab.

Die Siebzehn quiekte kurz und wischte sich mit dem Ringfinger die Mundwinkel aus. «Kümmerling, so, so. Mama ist wohl auch ein bisschen knapp dran, oder wie hab ich das?»

Der Mann beachtete sie nicht.

«Kannst du anschreiben, Beatrix?», wisperte er.

«Mein Gott, Voss!» Sie schlug die Hand vor den Mund. «Wir haben noch nicht mal den Fünfzehnten!» Dann besann sie sich. «Ausnahmsweise.»

Der Mann mit dem Feuermal nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierglas und wischte sich die Lippen mit dem Handrücken. «Sag mal, Voss, spielste eigentlich immer noch Handlanger? Für lau? Knete ist nich’ alles», kollerte er dann. «Man kann ja auch anders bezahlen. Wie heißt dat noch gleich? In Naturalien! Ist doch viel schöner, wa, Voss?»

Die Frau aus der Siebzehn ließ angewidert die Kuchengabel sinken. «Hat sich was mit Handlanger! Hat sich was mit ‹Bin ich foh, dass Sie mir helfen›! Den Zahn hab ich meinem Karl aber ganz schnell gezogen, sag ich euch!» Sie senkte die Stimme. «Habt ihr euch die mal genau angeguckt?»

Ihre Nachbarin bekam rosa Wangen. «Da braucht man nicht lange gucken. Was die immer anhat! Bis innen Winter mit barfte Füße, und von Büstenhalter hat die auch noch nix gehört. Lange Haare und all so was. Ich mein, worauf die aus ist, das ist doch wohl klar. Dabei soll die auch schon an die fuffzig sein, hab ich gehört.»

Frau Lentes wickelte die Kümmerlingflasche in Küchenkrepp, bevor sie sie zu den Bierflaschen in die Tasche schob. «Hier, Voss, aber dass mir das bloß nicht zur Gewohnheit wird.»

Er ging mit ausdrucksloser Miene.

Toppes Handy meldete sich. Er zog es aus der Hosentasche und schaute, bevor er die Freitaste drückte, zu den Thekenhockern hinüber. Sie ignorierten ihn.

«Peter hier! Wo steckst du gerade? Bist du noch in Schenkenschanz?»

«Ja, was ist denn?»

«Der DNA-Abgleich ist gerade gekommen. Du hattest Recht!», rief Cox. «Unser Toter ist tatsächlich dieser Bouma!»

Toppes Herz machte ein paar Extraschläge. «Gut», sagte er gedämpft. «Ich komme sofort.»

 

Vor dem Feuerwehrhaus stand Voss, stapfte mit den Füßen und rauchte.

Toppe verlangsamte seinen Schritt. «Meine Güte, Sie holen sich ja den Tod hier draußen!»

Der Mann zögerte. «Bin abgehärtet», meinte er dann, ohne Toppe anzusehen.

«Ja, ich kenn das. Bei meiner Mutter musste ich auch immer vors Haus, wenn ich rauchen wollte. Kommen Sie, setzen Sie sich in mein Auto, da ist es wenigstens ein bisschen wärmer.»

Voss nahm noch einen hastigen Zug und schnippte die Zigarette weg. «Bin schon fertig.»

Toppe sah ihm nach, wie er mit hängenden Schultern davonschlurfte.

Er zog die Handschuhe aus und wühlte in seinen Manteltaschen. Mieke Bouma hatte ihm den Schlüssel zum Haus ihres Vaters überlassen und ihm ihre Visitenkarte gegeben. Zwei Adressen standen dort, eine private und die des Institutes, an dem sie arbeitete. Um diese Zeit würde sie wohl an der Uni sein. Sollte er die Kollegen in Nimwegen anrufen, damit die ihr die Todesnachricht überbrachten? Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken.

Er stieg ins Auto, legte Miekes Schlüssel auf die Ablage, startete und hielt inne. Sie hatten in Boumas Haus weder dessen Türschlüssel noch die Autoschlüssel finden können, sein Pass fehlte ebenso wie die Wagenpapiere und der Führerschein. Bouma musste die Sachen wohl bei sich gehabt haben, als er getötet wurde. Warum hatten sie dann im Häcksler keine Spur von irgendwelchen Schlüsseln gefunden? Hatte der Täter sie an sich genommen und sich so Zugang zu Boumas Haus verschafft? Hatte er dort etwas gesucht? Waren die Papiere auf dem Schreibtisch deshalb so in Unordnung gewesen?

Boumas Einfahrt war dick vereist, er ließ den Wagen langsam ausrollen, tastete sich vorsichtig zum Haus und öffnete die Tür. Drinnen war es nicht viel wärmer als draußen. An den Fenstern hatten sich Eisblumen gebildet, durch die milchig trübes Licht ins Wohnzimmer fiel. Hier war nichts verändert worden, auf dem Schreibtisch derselbe Papierwust, die untere Schublade stand offen. Van Gemmern hatte sie am Montag aufgebrochen. Etwas Bargeld lag dort, ein paar Aktien, der Fahrzeugbrief für den Volvo, ein Schlüssel mit grünem Anhänger und ein Kaufvertrag aus dem Jahr 1999 für ein Haus in Den Helder. Toppe nahm das Bild, das auf dem Fernseher stand, und steckte es ein. Sie würden ein Foto von Bouma für die Presse brauchen.

Irgendjemand musste sich den ganzen Papierkram hier vornehmen. Er wusste, dass Peter Cox, als er nach Kleve versetzt worden war, gleich einen Niederländischkurs an der Volkshochschule belegt hatte, aber ob seine Sprachkenntnisse ausreichten? Auf alle Fälle musste er Lowenstijn informieren. Als er im Präsidium ankam, hatte er sich die nächsten Schritte zurechtgelegt.

Cox wartete ungeduldig. «Ich habe mir gerade aufgeschrieben, was du mir über diesen Bouma erzählt hast. Viel ist das nicht.»

«Wie gut ist dein Niederländisch?», wollte Toppe wissen.

Cox stutzte. «Ich habe Fortgeschrittene I und II mit Zertifikat abgeschlossen, und jetzt bin ich gerade in einem Konversationskurs. Warum?»

«In Boumas Haus stapeln sich Unmengen von Briefen und alten Unterlagen, die wir durchsehen müssen. Traust du dir das zu?»

«Natürlich! Hoffst du, dass wir einen Hinweis darauf finden, wer Bouma ans Leder wollte?»

«Eigentlich», antwortete Toppe nachdenklich, «möchte ich mir erst einmal ein Bild davon machen, was Bouma für ein Mensch war. Ich habe seine Sachen nur flüchtig durchgeschaut, aber hab das Gefühl, dass etwas fehlt.»

Cox nickte nachsichtig. «Also, wie gehen wir es an?»

Zuallererst musste die Chefin benachrichtigt werden. Bouma war ein hohes Tier beim Militär gewesen, seine Ermordung würde sicherlich auch die überregionale Presse auf den Plan rufen, erst recht, wenn bekannt wurde, auf welche Weise der Leichnam entsorgt worden war. Toppe wollte, dass die Meinhard sich darum kümmerte und ihm den Rücken frei hielt.

Dann musste eine Ausschnittsvergrößerung von Boumas Foto aus dem Arnheimer Zoo an die Zeitungen gegeben werden, zusammen mit der Frage, wer diesen Mann Mitte bis Ende Oktober wo und mit wem gesehen hatte.

«Die Tochter», erinnerte Cox. «Mit der müssen wir auf alle Fälle sprechen.»

«Ja, aber nicht heute. Ich schicke die Nimwegener Kollegen hin, und Lowenstijn sage ich auch Bescheid. Hier!» Toppe gab ihm den Schlüssel zu Boumas Haus. «Wenn du auf den Deich kommst, ist es das zweite rechts. Du kannst dich frei bewegen, der ED ist durch.» Er grinste kurz. «Und dreh die Heizung hoch.»

Cox wirkte plötzlich ganz aufgeräumt. «Wann setzen wir uns zusammen?»

«Um vier, würde ich sagen. Bis dahin hast du einen ersten Überblick. Und, Peter, ich denke, wir brauchen Verstärkung. Wir sollten Ackermann anfordern.»

«Da hast du vermutlich Recht, ohne Norbert und Astrid … aber …» Cox rümpfte die Nase.

«Lass mal, Ackermann hat durchaus seine Stärken», entgegnete Toppe ruhig.

Bevor er sich an die Arbeit machte, rief er zuerst in der Pathologie und dann zu Hause an. Arend würde Katharina von der Tagesstätte abholen und sich um das Abendbrot kümmern, Astrid war immer noch nörgelig. «Ich weiß nicht, ob ich noch wach bin, wenn du kommst. Dieses blöde Rumhängen macht mich kaputt.»

 

Ackermann strahlte übers ganze Gesicht, als er um kurz nach vier ins Büro kam.

«Tach Chef, Tach Pit, nä, wat is’ dat schön, dat ihr mich brauchen könnt! Dafür lass ich liebend gern den Feierabend sausen. Hab ich dat richtig gehört, der Bouma is’ euer Gehackteskerl? Ich wollt’ et gar nich’ glauben. Der Bouma, dat war mir vielleich’ ’n Männeken!» Er stand immer noch an der Tür, sein ganzer Körper war in Bewegung. Toppe zeigte stumm auf einen Stuhl. Ackermann machte ein zerknirschtes Gesicht. «Ich bin ma’ wieder zu hampelig, wa? Beschwert sich die Mutti auch immer drüber. Dann will ich mich ma’ hinsetzen. Also, wat ich sagen wollt’, den Bouma, den hab ich gekannt, wenn dat wen interessiert. Dat war einer von de Sorte ‹alles auffet elfendortichste›. Ein Korinthenkacker, wie et so schön auf Deutsch heißt.»

Cox setzte zu einer Frage an, aber Ackermann merkte es gar nicht. «Hat Jan, Pit un’ alle Mann angeschissen, wie et ihm grad vor de Flinte kam. Da können die Buren vonne Schanz un’ aus Salmorth ein Lied von singen, sag ich euch. Kam immer gern mit de Gülleverordnung. Die darf man nämlich zwischen November un’ Januar nich’ auffen Acker kippen. Aber wer hält sich da schon dran? Un’ dann dat mit de halben Ferkel auffem Feld. Dabei weiß doch jeder, dat de Bauern die Frühgeburten un’ wat se sons’ noch an Kroppzeug haben, inne Güllegrube schmeißen. Da wird et anständig zersetzt, un’ düngt ja auch gut. Bloß manchma’ klappt dat nich’ so ganz, un’ da hat man dann scho’ ma’ ’n paar Reste auffem Feld rumliegen. Un’ der Bouma is’ dann jedes Ma’ mit Anzeige gekommen. Hatte ja sons’ nix zu tun. Immer über de Morgen latschen un’ gucken, wem er dat Leben ’n bisken versüßen kann.»

«Hol mal Luft», fuhr Cox gereizt dazwischen. «Mir ist schon ganz schwindelig.»

Toppe nutzte die Pause: «Sie meinen, Bouma hat tatsächlich Anzeige gegen die betreffenden Bauern erstattet?»

«Aber hallo! Fragen Se doch ma unten auffe Wache. Wenn die Jungs Bouma hören, kriegen die ’n Hals. Der war ein Arschloch.»

Er nahm die Brille ab, schob den Norwegerpullover hoch, zog einen Hemdzipfel aus der Hose und putzte die dicken Gläser. «Obwohl … wenn ich et so richtig bedenk’, für so wat murkst man doch wohl keinen ab. Auffe andere Seite …» Er blinzelte Toppe kurzsichtig an. «Man steckt ja nich’ drin.»

«Tja», meinte Cox mit undurchdringlicher Miene, «das ist wohl wahr.»

Er breitete mehrere große Zettel aus, auf denen er sich Notizen gemacht hatte. «Ganz bin ich noch nicht durch mit Boumas Papieren, aber einen ersten Überblick kann ich schon geben. Mal sehen, ob ich das so einigermaßen zusammenhängend hinkriege. Also, Willem Adrianus Theodorus Bouma wird am 16. Mai 1941 in Amsterdam geboren, sein Vater ist Kaufmann, seine Mutter Büroangestellte. Er hat eine Zwillingsschwester, Maria Henrietta, genannt Mie. Sie wandert 1966 mit einem australischen Arzt, den sie wohl in Amsterdam kennen gelernt und geheiratet hat, nach Sydney aus. Der Kontakt zu ihrem Bruder bleibt eng, sie schreiben sich mindestens einmal im Monat. Mies Ehe ist anscheinend nicht glücklich, sie hat keine Kinder. 1980 erkrankt sie an Brustkrebs und ist möglicherweise daran gestorben, seit Ende 84 gibt es jedenfalls keine Briefe mehr. Im Juni 1969 heiratet Bouma Wilhelmina Lookers, geboren 1946. Es gibt zwei Liebesbriefe von ihr aus der Zeit vor der Eheschließung, aus denen hervorgeht, dass Bouma da wohl schon Berufssoldat war. Das Ehepaar bekommt eine Tochter, Maria Wilhelmina, geboren am 9. Dezember 1970. Schätzungsweise Anfang 1996 erkrankt Boumas Frau an Leukämie und stirbt im März 1998.»

Cox räusperte sich und zeigte auf einen Stapel blauer Kladden, die er mitgebracht hatte. «Ungefähr ein Jahr vor ihrem Tod hat sie angefangen, ein Tagebuch zu führen oder besser ein Erinnerungsbuch. Ich konnte es nur überfliegen, aber es geht einem an die Nieren. Sie schreibt sehr liebevoll über ihre Tochter, aber im Zusammenhang mit ihrem Mann ist hauptsächlich von seinem großen Pflichtbewusstsein die Rede, von seiner Dominanz in der Familie. Meistens verpackt sie das ironisch, aber sie schreibt auch: ‹War es nun gut oder schlecht für mein Leben, dass auch ich ihm eine Pflicht war?› Es stehen viele Namen in den Büchern von Leuten, zu denen sie in ihrem Leben eine Beziehung hatte, vielleicht findet sich da was. Ich würde sie mir auf alle Fälle später gern in Ruhe durchlesen.» Er schob die Blätter zusammen. «Anscheinend hat Bouma 1999 ein Haus in Den Helder gekauft, könnte sein, dass der Schlüssel, den ich in der unteren Schublade gefunden habe, dazu passt.»

«Ja», sagte Toppe. «Die Tochter hat erzählt, dass er ein Ferienhaus an der Küste hat.»

Cox nickte. «Ich weiß jetzt, glaube ich, auch, was du meintest, Helmut, mit deinem Gefühl, dass etwas fehlt. Es gibt nirgendwo etwas über Boumas Berufsleben, nichts über seine Laufbahn, keine Korrespondenz, nicht einmal einen Wehrpass und nur ein einziges Foto, das ihn in Uniform zeigt.» Er reichte es über den Tisch.

Ackermann schob die Brille auf die Stirn und hielt es sich direkt vor die Nase. «Bouma mit ganz kurze Haare! Wat haben die denn da inne Hand? Is’ dat Schampus? Nä, wohl eher Wein. Un’ wer sind die anderen Typen auffe Feier?»

Toppe nahm ihm das Foto aus der Hand – vier Männer in Tarnanzügen, die sich zuprosten. Das war doch das Bild, zu dem Lowenstijn irgendeine zynische Bemerkung gemacht hatte.

«UNPROFOR», murmelte er.

«Wat?», rief Ackermann. «Bouma war bei de Blauhelmtruppen? Da hat er nie wat von erzählt. Aber egal, wie geht et jetz’ weiter?»

Toppe stand auf, er hatte einen schalen Geschmack im Mund, und sein Magen meldete sich wieder einmal. «Ich habe vorhin einen Bericht geschrieben.» Er reichte beiden einen Ausdruck. «Die Durchsuchung von Boumas Haus, van Gemmerns Ergebnisse, meine Gespräche mit Dellmann und die in der Kneipe. Am besten, ihr lest euch das gleich durch, damit wir auf demselben Stand sind. Ich gehe uns in der Zeit etwas zu essen holen. Jemand was gegen Döner?»

Cox legte die Stirn in Falten. «Na ja, gut», sagte er schließlich. «Aber bitte ohne Zwiebeln und ohne Peperoni.»

Ackermann kicherte. «Ich nehm ’n doppelten mit alles. Un’ meinen Se, ich könnt’ auch ’n Bierken dabei, Chef?» Er klemmte sich den Bericht unter den Arm. «Dann werd ich et mir ma’ die nächsten Tage an Norberts Platz gemütlich machen.»

 

Cox sammelte Pappteller, Papier und Servietten ein. «Ich bringe das kurz in den Abfalleimer in der Küche, sonst stinkt das Büro noch tagelang nach Knoblauch.»

«Du bis’ schlimmer wie meine Mutter!» Ackermann leckte sich genüsslich die Finger ab. «Dat kannste gleich noch, mir is’ nämlich wat eingefallen. Wenn dat Auto von Bouma im Carport steht, dann muss der Mörder Bouma zu Hause abgeholt haben. Un’ ich würd’ sagen, dat Bouma den gekannt hat, weil et ja keine Spur von Gewalt gibt. Entweder dat, oder Bouma war zu Fuß unterwegs. Dann is’ er auffe Insel oder inne nähere Umgebung abgemurkst worden. Auf alle Fälle, wenn dat einer von außerhalb war, dat krieg ich raus. Dat gibt et nich’, dat sich ’n Fremder auffe Schanz oder auffem Deich rumtreibt, un keiner merkt wat. Un’ dann noch wat. Boumas Boot, dat müssen wer uns angucken. Wer weiß, wat et da drauf zu finden gibt. Hab ich dat richtig, dat dat immer noch im Altrhein liegt? Dat Teil muss schleunigst raus, am besten heut noch. Et is am Frieren wie Harry, dat Eis drückt et in null Komma nix kaputt, un’ dann stehn wer dumm zu gucken.»