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Da ging dieser Mensch aus dem Haus, sagte ahoi, Franziska, küßte einen auf die Nase, alles wie immer, winkte aus dem Fahrstuhl wie immer, dann fiel ihm, wie immer, etwas ein, aber diesmal war es nicht: Ich komme heute etwas später!, diesmal flüsterte er über den Korridor: Weißt du was? Ich soll Minister werden!, schloß die Eisentür, wobei er sich beinahe die Hand brach, das schon wieder wie immer, fluchte im Fahrstuhl, pfiff von unten noch einmal durchs Treppenhaus, und fort trug ihn der Wolga.

Wenn der Minister ist, kann er aber nicht mehr durchs Treppenhaus pfeifen!

Wenn er Minister ist? Wenn er Kaiser von China ist, auch nicht. Wenn er Schah von Persien ist, kann er sich nicht mehr die Hand im Fahrstuhl brechen. Wenn er Maharaja von Eschnapur ist, fährt er Elefant und nicht mehr Wolga!

Franziska Groth, Fran genannt, nur beim morgendlichen Abschied nicht und in besonders feierlichen Augenblicken, trug das Frühstücksgeschirr ab, und als sie die Zuckerspur vom Topf quer über den Tisch bis zu Davids Tasse sah, wußte sie, daß alles beim alten war. Sie hatte es lange aufgegeben, gegen die albernen Luftfahrten des Zuckers zu protestieren, und schon längst nicht mehr schob sie ihrem Mann den Topf an die Tasse oder, was sie auch probiert hatte, die Tasse an den Topf – es war erwiesen, er mußte krümeln, aber wenn er weiter nichts mußte, bitte, das hatte er frei! Heute hatte er wohl einfach nur mal wieder seinen Spinntag – Minister! Was war heute, Dienstag? Da war aber gar nicht Kollegium, Dienstag war ruhig, da spann der sonst nie.

Minister! Das fehlte hier noch. Dann kündigte Frau Mauer, inständig, das tat sie: Also, Frau Groth, inständig, das mache ich nicht mit. Sie können nicht sagen, daß ich mich jemals beschwert hätte, aber das geht zu weit. Bei aller Liebe. Man ist auch nur ein Mensch, und Sie wissen genau, außerdem führe ich noch das Hausbuch. Das hört sich leicht an, ja, das hört sich alles sehr leicht an, aber ich sage Ihnen, Frau Groth, inständig, der Schein trügt, hat schon immer getrogen, das ohnehin, aber in diesem speziellen Fall trügt er völlig besonders. Was meinen Sie, was in diesen Neubauten alles gemacht werden muß, bis es richtige Bauten sind und der Mensch in ihnen wohnen kann, behaglich? Da klingelt es allewege, und egalweg ist etwas zu machen: Ich soll den Klempner besorgen, ich soll einschreiten, wenn die Hunde auf den Rasen scheißen, auf deutsch gesprochen, ist doch so, ich soll den Keller aufschließen, damit diese Verrückten an ihre Tischtennisplatte kommen, und wehe, es klappt etwas nicht, wofür ich auch nichts kann, ich spreche nur das Wort Handwerker aus, mehr spreche ich gar nicht aus, Sie wissen, was ich meine, und was meinen Sie, Frau Groth, was wird mir dann gesagt? Dann heißt es: Wozu sind Sie da Haushälterin bei einem Chefredakteur? Teilen Sie dem das doch mit, damit es in die Zeitung kommt! Inständig, Frau Groth, es ist den Leuten nicht klarzumachen, daß der Herr Groth so schon so dürre ist, das ohnehin. Und jetzt Minister? Daß ich nicht lache, dann halten Sie ihn beim Spazierengehen nur gut fest, wenn sich ein Wind erhebt. Nichts für ungut, Frau Groth, aber der Minister? Der ist doch schon zum Chefredakteur zu dünn. Das sage ich Ihnen, so wie ich hier sitze: Da mache ich nicht mit, bei aller Liebe nicht, Frau Groth, inständig.

Fran lachte, aber dann dachte sie: Und ich, würde ich es mitmachen, wenn er käme, wirklich, im Ernst, und sagte: Du, ich soll Minister werden?

Hier war der Spaß zu Ende. Manche Sachen konnte man nicht einfach nur so denken, nur so, wie man manchmal ein Los kaufte in einer Lotterie, die einen sagenhaften Hauptgewinn verhieß: Hunderttausend Mark? Wunderbar, hier haben Sie Ihre fünfzig Pfennig und schönen Gruß nun auch an Ihr Präsidium vom Roten Kreuz!

Ja, wenn der Mann käme und sagte, er solle Chefredakteur der ersten Zeitung auf dem Mond werden, das ließe sich ausspinnen, das wäre unwirklich genug, da fiele einem etwas ein.

Aber Minister, hier bei uns? Das wäre zwar witzig, aber es wäre zu nahe an den Möglichkeiten. So etwas könnte einem passieren hier.

Wollte man dem Sozialismus am Zeuge flicken, könnte man ihm vorwerfen, daß er das Reich der Träume beschnitten hatte. Beschnitten oder besiedelt oder bebaut, jedenfalls mit Wirklichkeit besetzt und so verändert.

Wenn man sich einmal in einen älteren Roman minderer Güte verirrte, im Urlaub kam das schon vor, stieß man auf diese Art überholter Wunschbilder. Da leisteten sich arme Leute verstohlen die Kühnheit zu denken: Ach, wäre das schön, könnte unser Junge Doktor werden, einer, der böse Krankheiten heilt und zu Ansehen kommt und zu Geld und zu einer netten, sauberen Frau!

Oder sie träumten sich ihren Sohn zu einem Pastor zurecht, sahen ihn in einer hübschen Kirche auf der Kanzel, und das war wohl der höchste Punkt, auf den sie ihn hinaufträumen konnten.

Oder ein Katheder. Das war auch ein Gipfel, den man nur im Traume bestieg. Bei bescheideneren Gemütern war es ein schlichtes Schulkatheder, und der Herr Sohn war ein Herr Lehrer, aber manchmal kam es auch zu Ausschweifungen, und die unkontrollierte Zukunftsschwärmerei ließ aus dem Lehrer einen Oberlehrer werden und aus dem einen Schulrektor und aus dem ein fast olympisches Wesen, das alles wußte, schrecklich viele Bücher hatte, Professor hieß, aber dennoch jeden Sonntagnachmittag zu Muttern zum Kaffee kam, ein treuer Sohn auch in den kaltweißen Höhen einer spektakulären Karriere.

Immer waren es Söhne, und die Ränge, die die Träume ihnen verliehen, waren maskulinen Geschlechts: Arzt oder Pastor oder Professor oder auch General.

Die Fabelwege der Töchter abzustecken forderte nicht weniger Gedankenmut, aber die Erfindung fiel dennoch leichter, denn der Tochter Bestimmung war, in jenen Büchern jedenfalls, Gefährtin zu sein, Lebensgefährtin, Gattin und, schon wieder äußerst träumerisch, Gnädige Frau.

Möchtest du Gnädige Frau sein, Franziska? Lach nicht, möchtest du, oder möchtest du nicht?

Wenn ich nicht lachen darf, kann ich auf so eine Frage nicht antworten. Nicht lachen dürfen heißt eine Sache nicht ernst nehmen müssen. Nur wenn auch Lachen erlaubt ist, kann man gerecht sein. Große Worte, aber schließlich ist auch die Frage nicht klein, trotz ihrer Komik.

Ich Gnädige Frau? Ich Gnädige Frau und David also Gnädiger Herr, wir Herrschaften, wir wären ein feines Gespann, David kriegte einen Biberpelz und ich einen Krimmermuff. Ich sehe schon, ich muß die Frage zurückgeben, ich bin ihr nicht gewachsen: Krimmermuff! Wer sich eine Gnädige Frau mit Krimmermuff vorstellt, bezeugt seine Unreife für Höheres; wer einen Biberpelz für das Kennzeichen von Herrschaftlichkeit hält, scheidet aus jeder Kandidatur für Gehobenes. Arme Franziska, wo holst du deine Bilder her?

Franziska wußte wohl, woher sie ihre Bilder holte und wie sie auf Biberpelz und Krimmermuff gekommen war.

Das hatte Weißleben ihr mitgegeben, die Viertausend-Seelen-Siedlung in der Börde, deren reichster Bürger ein Mann gewesen war, der in Magdeburg ein Kino besaß und zu seinem braunen Mantel einen Kragen aus Biberpelz; und einen Krimmermuff hatte die Frau des Verwalters der Zuckerfabrik gehabt, und sie war auch sonst sehr schön gewesen.

Da konnte man inzwischen Nerz und Seal und Zobel begegnet sein – die alten Signale behaupteten sich, und immer würde die Maschine Erinnerung zuerst die Karten Krimmermuff und Biberpelz auswerfen, sollte ihr Material zur Beschreibung von Wohlstand und Gnädiger Frau und Herrschaftlichkeit abverlangt worden sein.

Gäbe man ihm freilich das Stichwort Gräfin ein, Nachbarbegriff zu Gnädige Frau und märchenhafter und präziser zugleich, so würde das Memorabil nicht lange suchen und sortieren, denn es lagerten zwar in seinem Magazin mancherlei Informationen, die zuvörderst den Herren Schriftstellern Andersen bis Zschokke, Heinrich, zu danken waren, aber die stärksten Impulse kamen vom Selbsterlebten, und so würde die erste Antwort auf den Abruf Gräfin nur Gräfin Lehndorff lauten.

Die Gräfin war nicht nur von ältestem Geblüt, sondern auch vom jüngsten journalistischen Pfiff. Sie war im Osten geboren und im Westen zu Hause. Wenn sie Osten sagte, klang das wie Sattelzeug, und wenn sie Westen sagte, klang es wie Saint-John Perse. Und wenn sie von Leuten sprach, unseren Leuten oder diesen Leuten da oder den Leuten daheim auf dem Hof oder jenen Leuten neulich in jenem Betrieb, so hatte das Wort die Gemütlichkeit einer Lodenjoppe und zeugte von der demokratischen Gesinnung etwa eines älteren Buddenbrook und war auch von der frischen Herzlichkeit, in die sich ein preußischer Oberst zu finden vermag, wenn er sich für voraussehbar längere Zeit von Ersatz und Entsatz abgeschnitten weiß und angewiesen bis Gedeih oder Verderb auf eben seine Leute. Sie war klug, konnte lachen und war von graubraunem Schick und konnte jiddische Witze erzählen und Nordhäuser Korn vertragen und hatte über Adam Smith’ Verhältnis zu den Physiokraten promoviert. Sie war ein Feind von der gefährlichsten Art; es schien, es ließe sich mit ihr reden.

»Lehndorff«, sagte sie, und Fran sagte »Groth«, und dann gaben sie sich die Hand und beäugten einander.

»Da ich wohl zu Recht annehme, daß Sie über mich sehr genau im Bilde sind«, sagte die Gräfin, »werden Sie mir den Versuch gestatten gleichzuziehen. Schließlich juckeln wir die nächsten vierzehn Tage zusammen durch die Gegend.«

Wenn es nur um Gleichstand zu tun gewesen wäre, hätte sie nach den ersten vier Fragen zufrieden sein müssen, aber sie schien ihre eigenen Vorstellungen von Frans Stellung und Aufgabe zu haben, und sie erklärte, ihr Prinzip im Umgang mit Menschen sei Freimut, und es sei dies ein Erbteil der Lehndorffs, ein nicht immer bequemes, aber doch sehr fruchtbares Prinzip, bequem ganz gewiß nicht, das wußte Gott, und schon die Hohenzollern hätten es erfahren müssen bei ihren Tänzen mit den Lehndorffs und selbst der Herr Freisler, der auch, mit den Zähnen habe er geknirscht beim Verhör ihres Onkels Olrik von Dolenhoff damals nach dem zwanzigsten Juli, der Dolenhoffsche Freimut habe ihm gar nicht geschmeckt, diesem entsetzlichen Verzerrer deutschen Rechts, und dies sei eine der köstlichsten Szenen in Onkel Olriks Erinnerungen, vielleicht habe Fran das gelesen: Olrik von Dolenhoff, »Freimütige Erinnerungen aus Krieg und Frieden«?

»Ich komme nicht so oft zum Lesen«, sagte Fran, »und wenn, dann ist es Fachliteratur oder mal ein Roman.«

»Erzählen Sie doch«, sagte die Gräfin, »wenn Ihr Presseamt Sie nun schon auf diese Reise mit mir schickt, da will ich Sie doch gleich in meine Studien einbeziehen. Wie leben Sie?«

»Wie lebe ich? Ich arbeite, das heißt, ich fotografiere, und zu Hause habe ich einen Mann und ein Kind.«

»Was macht Ihr Mann?«

»Der ist auch bei der Zeitung.«

»Eine Journalistenehe, ist das nicht anstrengend?«

»Ich kenne nur diese eine Art.«

»Und Sie haben nicht manchmal den Wunsch, Sie könnten zu Hause bleiben, brauchten nicht zu arbeiten?«

»Oft genug, aber Fotografieren ist ja nicht nur Arbeit.«

»Sondern?«

»Vielleicht Spiel oder Weltentdecken oder Denkmäler bauen.«

»Ist das Frauensache?«

»Das fragen ausgerechnet Sie, Frau … wie sagt man denn zu Ihnen, Frau Doktor oder Frau Gräfin?«

»Einfach Gräfin.«

»Einfach Gräfin? Hübsch. Aber was ist heute Frauensache? Ihre Reise durch dies Land zum Beispiel, ist die Frauensache?«

»Nun, Sie wissen zweifellos aus meinem Ansuchen bei Ihrem Presseamt, daß mein Interesse vornehmlich auf die Stellung der Frau im öffentlichen Leben hier gerichtet ist. Sie beispielsweise finden Ihre Tätigkeit und Ihre Stellung normal; Sie finden es normal, mit einer gewissen politischen oder administrativen Macht ausgestattet zu sein …«

»Bin ich das?«

»Ich denke schon. Ihr Herr vom Presseamt hat mir jedenfalls so Ihr Mitkommen erklärt und, ich glaube, auch schmackhaft gemacht. Ohne Sie, hat er gesagt, käme ich nicht einmal am Pförtner eines mittleren Betriebes vorbei. Was habt ihr zu verbergen?«

»Entschuldigen Sie, Gräfin, Sie haben doch eben gerade gesagt, daß ich mitgeschickt worden bin, damit Sie hineinkommen. Aber vor allem, so sehe ich das jedenfalls, bin ich mit, um Bilder zu machen, ich bin kein Passepartout, sondern Fotografin.«

»Schön, Franziska, wir werden ja sehen, was wichtiger ist.«

Fran hatte dieses erste Gespräch mit der Gräfin Lehndorff und auch die Reise mit ihr beinahe vergessen gehabt; es war nicht mehr gewesen als die spröde und vage Unterhaltung zwischen zwei sehr verschiedenen Menschen, die noch nicht so sehr viel miteinander anfangen konnten und es auch nicht eilig haben mußten, das zu ändern; die Reise, die zwangsläufige Gemeinsamkeit auf Zeit und vor allem die Arbeit zu zweit würden noch hunderttausend Worte nötig machen, und dann würde man ja hören, wer wer war und wie er war und warum so und nicht anders.

Aber das, so stellte sich heraus, war nur Frans Haltung gewesen und nicht die der Chefkorrespondentin Dr. Renate Gräfin Lehndorff. Durch ihren Bericht »Expedition nach Nebenan« geisterte ein seltsames Wesen, das manchmal und dann in Anführungszeichen »Begleiterin« oder »Fotografin« genannt wurde, öfter aber und ohne die relativierenden Gänsefüßchen: mein charmanter Schatten, Frau Sesam, die Dame vom Amt, oder, jedenfalls immer, wenn die fremdartige Ausdrucksweise eines Interviewten hervorgehoben werden sollte, meine Dolmetscherin. Von den vielen Gesprächen zwischen Fran und der Gräfin, Gesprächen über Parfüm und Kinder, Kreuzfahrten in der Karibischen See und Sozialversicherung, Krebstherapie und Manhattan, den Stadtteil, und Manhattan, den Cocktail, über David Oistrach, Klebekacheln, ORWO-Filme, Sukarno, Autobahngebühren, die Moden in Vogue und Sibylle, Strittmatter und immer wieder Onkel Olrik von Dolenhoff, Selbstbedienung, Apartheid, Oben-ohne- und Ohne-mich-Bewegungen, Franz Josef Strauß (Übereinstimmung) und den Spiegel (keine Übereinstimmung), Ulbricht (keine Übereinstimmung) und Männer im allgemeinen (weitgehende Übereinstimmung), Greenwich Village (kleiner kühler Vortrag von Frau Dr. Renate Gräfin Lehndorff) und das Fernsehprogramm von Adlershof (längerer und keineswegs kühler Vortrag von Frau Franziska Groth), das Hotel Ursula in Helsinki, in dem beide schon einmal gewohnt hatten, Wohnungen, in denen beide niemals würden leben wollen, Yves Montand, Felsenstein und die Callas, Clara Zetkin und das dumme Gehabe der Männer am 8. März und auch gleich den Muttertag und auch gleich die Babypille und auch gleich den Papst und Martin Luther King und Reisgerichte hier und dort und Gleichen Lohn für gleiche Arbeit und Deine Hand für dein Produkt und Hast du was so bist du was und Die Frau die weißer wäscht und Öfter mal was Neues und Amis raus aus Vietnam und Vietnam und Vietnam und siebentausend andere Dinge, Orte, Erscheinungen, Sachverhalte, Mythen, Begriffe, Namen und Realitäten, Gespräche mehrmals um die Erde und durch den Himmel über ihr, Gespräche beinahe über den Waschtrog hinweg und dann wieder wie über den Ozean hinüber und herüber, lustige und bissige, lauernde und traurige, scharfe und solche ganz ohne Belang, Gespräche eben zwischen zwei mehrfach Fremden, die aber Weggefährten waren auf Zeit und nicht mehr voneinander wollten, so hatte Fran gemeint, als guten Eindruck hin und her und Arbeit.

Spuren von alledem fanden sich dann in der Gräfin Bericht von der Expedition nach Nebenan, aber es hieß da immer nur: »Wie ich hörte«, oder »Man gab mir zu verstehen«, oder »In X erfuhr ich«, oder »Verstohlen sagte eine junge Frau«, und Fran sah sich staunend in viele Hüllen getan; sie las zwar ihre Worte, sah sich aber in »eine stämmige LPG-Bäuerin« verwandelt oder einen »schüchternen Oberschüler« oder einen »bemerkenswert selbstbewußten jüngeren Wissenschaftler« und einmal sogar in einen »knorrigen Fahrensmann, unverwechselbaren Typ unverwechselbarer Ostseelandschaft«, und erst an dieser Stelle war ihre Empörung durchgeschlagen, und sie hatte ausgerufen: »Dabei bin ich aus der Börde!«, und David hätte es vor Lachen darüber fast auseinandergerupft.

»Das zerrupft mich«, hatte er geschrien, »alles verträgt die, wenn ihr nur keiner ans Recht auf Heimat will. O trächtiger Bördeboden, nicht nur Rüben wurzeln fest in dir, auch deine Töchter tun ein nämliches! Sag mal, und die Beschreibung, die Frau Gräfin von dir geliefert haben, die kratzt dich, scheint mir, nicht halb soviel wie der Umstand, daß bei der Verteilung deiner goldenen Worte auch ein biederer Fahrensmann bedacht worden ist?«

»Ich weiß nicht, ob die mich kratzen sollte. Wenn ich das so lese, da bin ich doch eine bedeutende und nicht wenig gerissene Persönlichkeit.«

»Nicht gerissen genug, die Gräfin hat dich durchschaut: ›Offiziell und zumindest einem Teil ihrer Tätigkeit zufolge war meine Begleiterin Pressefotografin, und zweifellos hatte man ihr auf was immer für einer Schule das Fotografieren ausgezeichnet beigebracht. Auch wußte sie ihre netten Kleider nett zu tragen, aber irgendwie war immer ein Hauch von Lederjacke um sie. Dennoch: diejenigen, die ihr die Rolle ins Drehbuch geschrieben hatten, verstanden etwas von Besetzung; dies war die ideale Bevollmächtigte mit Charme, ein grauäugiges Persönchen, das mühelos den Jargon der Arbeitsdirektoren und Parteisekretäre beherrschte und bürokratische Widersacher mit dialektischen Karateschlägen aus dem Wege räumte oder auch wohl mit einem vor mir verschlüsselten Hinweis auf ihre eigentlichen Auftraggeber und deren Wünsche nach schönen Bildern.

Irgendwann einmal wird man ihr einen größeren Auftrag geben, und vielleicht werde ich ihr dann wieder begegnen, vielleicht bei einem UNO-Cocktail oder beim Empfang einer jener DDR-Botschaften, die es heute noch nicht gibt, aber unausweichlich einmal geben wird, und Franziska G. wird mir dann womöglich als Residentin, nein, dies ist ein Schreibfehler Freudscher Natur, als Repräsentantin, wollte ich sagen, etwa der Vereinigung Volkseigener Betriebe für Optik vorgestellt werden, doch ich weiß nicht, ob sie mich dann noch kennen wird, ja, ich weiß nicht einmal, ob sie sich noch erinnern wird, dereinst Franziska G. geheißen zu haben und gewesen zu sein: eine nette junge Frau aus Deutschlands Mitte, noch nicht zu sehr geprägt von einem Beruf, dessen Wege sich am Ende immer in der Kälte verlieren.‹«

»Die soll mir nicht noch mal unter die Augen kommen!« hatte Fran gesagt, und David hatte gelacht. »Na und, was würdest du dann machen? Würdest du sagen wollen: Gräfin, Sie haben mich enttäuscht, Sie haben geschrieben wie eine hochbezahlte westliche Journalistin, die an uns nur stört, daß wir vorhanden sind, und Hand aufs Herz, ich bin wirklich nur Fotografin, und selbst die Farbe meiner Augen ist echt. Was wolltest du ihr sonst wohl vorwerfen? Daß sie deine hundert Weisheiten auf so ziemlich die gesamte DDR-Bevölkerung verteilt hat, na hör mal! Du hast Interessantes geäußert, und das wollte sie unterbringen, aber erstens wäre es eintönig gewesen, wenn sie immer geschrieben hätte: Hierzu meinte Franziska G., und dazu meinte Franziska G., und zweitens hätte das nicht zu dem Bild gepaßt, wie sie es von dir brauchte; die ihr vom Amt, wie sie immer so schön sagt, beigegebene Begleiterin hatte einen etwas dunklen Zug zu haben und Figur aus einem Mantel-und-Degen-Stück zu sein, da konnte sie so was Redseliges wie dich nicht gebrauchen.«

»Bin ich redselig?«

»Du bist redselig, manchmal, aber, damit du es gleich wieder weißt, es ist mir recht so.«

»Danke, Väterchen«, hatte sie gewispert und dazu einen linkischen Knicks gemacht und verschämte Augen. Sie hatte sich über seinen Patriarchenton und über ihr albernes Gehabe geärgert, und sie tat es heute noch, und sie wußte, an den David mit dem Buddhabauch würde sie sich nie gewöhnen.

Das war einer, der Kindchen zu einem sagte und: Nun hör mal schön zu! und: Ich will’s mal ganz einfach ausdrücken! und in krisennahen Augenblicken gar: Nun schau einmal!

Dagegen gab es nur ein wirksames Mittel: stille sein und schauen, richtig schauen, Füße aneinander, große Zehe an große Zehe, Knöchel an Knöchel, Knie gegen Knie, Hände in den Schoß, leicht gefaltet, Oberkörper sacht nach vorn geneigt, Lippen ein wenig gespitzt, Nüstern gebläht und die Augäpfel so groß und rund wie irgend möglich: nicht atmen, der große Gautama verkündet wieder! Wenn man das durchhielt, hielt er nicht durch; was eben noch Lehre war, wurde nun Semmelmehl und quoll ihm im Mund, und ein Buddha, der vor Publikum schwer zu schlucken hat, schluckt immer auch ein bißchen von der eigenen Bedeutung.

Allerdings, wenn er nun tatsächlich Minister werden sollte, dann käme ihm diese Unart vielleicht sogar zustatten. Mitarbeiter erwarteten nun einmal von ihren Chefs eine Art Belehrung; auch wenn sie es nicht mochten, erwarteten sie es doch. Das war wohl auch eine jener Abmachungen von alters her, ohne die noch nicht auszukommen war. Noch nicht oder nie?

Und Vorgesetzte erwarteten von ihren Untergebenen diese Erwartung, und an der Art, wie sie die erfüllten, war ganz gut abzulesen, zu welcher Sorte Chef sie gehörten. Da gab es die Weisungsberechtigten, die Makarenko gelesen hatten und seither alle ihre Anordnungen mit einem Spritzer Pädagogik zu servieren pflegten und ihr Sagen wie ein Fragen klingen ließen: Vielleicht könnte man es folgendermaßen anpacken … oder: Ich überlege gerade, ob nicht … oder: Was meinen Sie, wäre es nicht denkbar, daß …?

Das war keine schlechte Methode, aber sie war mühevoll, denn um sie erfolgreich anzuwenden, das heißt, trotz ihrer die eigenen Absichten durchzusetzen, mußte man vorbereitet sein auf Argument und Gegenargument, denn wenn man diesen Frageton erst einmal eingeführt hatte, konnte man sich darauf verlassen: Die anderen antworteten in ebendiesem Frageton, sagten keineswegs ein klares Nein, obwohl sie ein klares Nein im Sinne hatten, sondern grübelten nun ihrerseits dem Gedanken hörbar nach, fanden ihn auf jeden Fall zunächst einmal bestechend, fanden, daß er zunächst einmal auf jeden Fall bestechend sei, und hatten mit dem Wörtchen zunächst schon angemeldet, daß sie ihn gleich nicht mehr ganz so bestechend finden würden, und schon ihre folgende Frage machte deutlich, daß sie den eben noch bemerkenswerten Gedanken des Chefs im Grunde ganz beschissen fanden. Hm, brummten sie – und ein ebenso respektvolles wie ablehnendes Hm war eine Kunstleistung für sich –, hm, diese Überlegung habe zweifellos ihre Reize, nur gelte es dann natürlich zu prüfen, ob wohl die Voraussetzungen, von denen der Chef zu seiner Fragestellung gekommen sei, auch wirklich … Wenn man Chef bleiben wollte, nicht de jure, das ging auch anders lange, sondern de facto, dann löste man sich an diesem Punkt von allem Vagen und gab den sicheren Bescheid, das sei geprüft und alles in der Ordnung und von daher könne man nun wohl ein bißchen weiter überlegen.

Das Gegenteil von Makarenko war einfacher, aber überholt und weithin unbeliebt, und war auch nur scheinbar einfacher, denn über erste Erfolge konnte man mit ihm in böse Klemmen geraten. Es war die Generalsmethode, und die Formel hieß: Ich ordne an!

Ich ordne an! war schnell gesagt, aber wache Untergebene wußten genau, daß man nicht mehr im Felde stand, und fügten deshalb ihrem steinernen Jawohl die Bitte an: Ich bitte, mir dies schriftlich zu bestätigen! Dagegen war schlecht etwas zu sagen, denn es gehörte zu den inneren Gesetzen dieses Leitungssystems, daß Papier der unvermeidliche Katalysator aller erwünschten Prozesse war. Nur, wenn dann die Ergebnisse am Ende doch anders ausfielen, als wünschenswert gewesen war, und wenn sie gar so waren, daß sich die Schuldfrage breitmachte, dann erwies sich die vertrackte Grundeigenschaft eines jeden Katalysators als äußerst mißlich, jene nämlich, daß er zwar eine Reaktion zu beschleunigen vermag, nicht aber an ihr teilnimmt und so auch keine Veränderung erfährt. Das verwünschte Papier mit den verwünschten Worten »Ich ordne an!« hatte überdauert, auch wenn das Angeordnete selbst längst in Rauch und rote Zahlen aufgegangen war.

Deshalb traf man nur noch selten auf den Leiter mit den allzu deutlich getragenen Epauletten; es ging zivil zu und demokratisch, und die Übergangsschwierigkeiten äußerten sich in einem Zuviel an Debatte, im umständlichen Vokabular der Auseinandersetzungen und in der komischen Erscheinung schnörkeliger Leutseligkeit.

Besonders interessant war da jener Staatssekretär gewesen, der einen bestechenden Eindruck von Sachlichkeit und Kompetenz gemacht hatte, solange es bei den Gesprächen während eines Werksrundgangs um Materialschwierigkeiten, Arbeitskräftefragen und technologische Probleme gegangen war und er die Anwesenheit der Presse vergessen zu haben schien. Dann aber war die Pause gekommen und der kleine Imbiß, und der eben noch sachbesessene Mann, der genaue Fragen zu stellen und genaue Antworten hereinzuholen und Bescheidenheit mit Entschiedenheit zu vereinen gewußt hatte, derselbe Mann hatte sich in einen Schulterklopfer und Schulmeister verwandelt, kaum daß ihm die Gegenwart eines Journalisten mit Stenoblock und einer Journalistin mit Kamera wieder bewußt geworden war, und die Formel war ihm als erstes von den Lippen gegangen: »Schauen Sie einmal!«

»Schauen Sie einmal, Kollegen, mit welchen einfachen Methoden unsere Freunde von der Zeitung ihre technischen Probleme lösen, schauen Sie sich einmal dieses Kamerastativ genau an und zählen Sie seine Beine.«

Er verheimlichte ihnen nicht, daß er sich selbst einmal als Amateurfotograf versucht habe, wußte von verwackelten Bildern und gerissenen Filmen zu berichten und hätte sich noch um alle Autorität geredet, wenn ihm nicht am Ende noch eine Geschichte eingefallen wäre, die ihm in Franziskas Augen schon deshalb sein kluges und scharfäugiges Menschengesicht zurückgab, weil er sie nicht vergessen hatte und für erzählenswert hielt.

»Das ist schon lange her«, sagte er, »ewig, da kam ich an einem Sonntagnachmittag im Herbst aus dem Kino nach Hause. Der Film war trübe gewesen, und der späte Nachmittag war noch trüber, und die Aussicht, den Rest des Tages im möblierten Zimmer Politische Ökonomie zu lesen, war auch nicht heiter. Ich ging unlustig von der Straßenbahn durch die Laubenkolonie, wo ich wohnte, und an der Ecke von meinem Lupinenweg stand ein Mann. Klein und alt war er und sah merkwürdig aus. Er wollte wohl fein aussehen, aber es hatte nicht weit gereicht. Das weiße Hemd war uralt und brüchig, und wie er sich den Schlips um den Hals gezwirbelt hatte, daran merkte man, daß er ewig keinen Schlips getragen hatte. Dann hatte er einen fipsigen Regenmantel an, und es war eigenartig, daß an so einem kleinen, dünnen Mann ein Kleidungsstück überhaupt noch fipsig aussehen konnte. Vielleicht war es ein Kindermantel.

›Sie werden entschuldigen‹, sagte er, ›es ist nur, ob Sie einen Fotoapparat haben?‹

›Ja‹, sagte ich und dachte: Was kommt nun?

›Es ist nur‹, sagte er, ›ob Sie uns da vielleicht knipsen möchten?‹

›Jetzt‹, sagte ich, ›wen?‹

Er sah in den trüben Himmel und nickte, als wollte er sein Verständnis dafür andeuten, daß eigentlich jetzt die rechte Zeit zum Fotografieren nicht sei, aber dann sagte er sehr bestimmt: ›Heute müßte es sein. Es ist, weil wir heute Goldene Hochzeit haben.‹

Ich gratulierte ihm hastig. Er nahm meinen Glückwunsch würdig entgegen und gab mir seine Adresse: Hagebuttenstieg 4. Er ging zu seiner Hochzeitsgesellschaft, und ich holte meine Kamera.

Ich hatte noch zehn Bilder auf dem Film, und ich war dem alten Mann sehr dankbar, denn ich hatte den Apparat zwar nach langem Sparen freudig erworben, aber schon nach der Hälfte des ersten Films hatte ich nicht mehr so recht gewußt, was ich nun noch mit der Maschine festhalten sollte; immerfort das Bretterhäuschen, in dem ich wohnte, und meine Zimmerwirtin, das wurde rasch langweilig. Aber nun eine Goldene Hochzeit – dies würde die Probe sein, die Prüfung, das Examen! Komisch, ich dachte schon nicht mehr in Bildern, ich dachte in Studien, Porträtstudien, Milieustudien, ich dachte in Kompositionen, Arrangements aus Licht und Schatten; ich faßte eine Art Rembrandt-Technik ins Auge, das Porträt des Jahres würde ›Der Mann mit der Goldenen Hochzeit‹ heißen, und auch etwas Brueghel hatte ich im Sinn, Berge von Brezeln schwebten mir vor und Würste fressende Enkelkinder und ein halbes Dutzend hochgradig besoffener Nichten.

Ach je, diese Hochzeit war eine graue Angelegenheit. Die Goldene Braut war noch mühsamer und noch vergeblicher aufgeputzt als der Goldene Bräutigam. Vielleicht tue ich ihr unrecht, aber sie sah so auffällig frisch gewaschen aus wie nur jemand, der sich sonst nicht so sorgfältig wäscht. Und ihr Kleid war bestimmt schon lange nicht mehr gewaschen worden; man sah es, auch wenn es ein schwarzes war. Nein, ich will es nicht beschönigen: Es war bald zu erkennen, daß dies nicht nur arme, sondern auch tief verkommene Leute waren. Der Wermutgeruch im Zimmermief kam nicht nur von der einen Flasche und den beiden halbleeren Gläsern, und die Tischdecke war nicht erst heute fleckig geworden, und als ich die Lampenschirme entfernte, um etwas mehr Licht zu bekommen, fuhr ich durch Staub, der Ruhe gehabt hatte mindestens seit dem Silberfest.

Das Paar war allein, und es waren auch keine Spuren von früherem Besuch zu sehen, und Post war wohl auch keine gekommen, denn an einem klebrigen Necessaire auf dem Vertiko lehnten zwei Ansichtskarten, eine aus Pisa und eine aus Ziegenhals bei Berlin, und waren vergilbt und hatten auf je vier Ecken je drei Eselsohren. ›Das ist der Fotograf‹, hatte der Mann gesagt, als ich in die Stube gekommen war, und mir war so gewesen, als hätte ein leiser Triumph in der Mitteilung geschwungen.

Die Frau hatte genickt und sich einen silbernen Hochzeiterreif ins Haar genestelt.

Sie sagte: ›Sieht man nich, wa, ob et Jold oder Silber is, wa, sieht man nich auf einer Fotojrafie, wa?‹

Ich hantierte eifrig mit meinem Apparat und den Lampen und wünschte mich heftig zurück zu meiner gemütlichen Politischen Ökonomie. Ich pfiff auf Rembrandt und Brueghel und alle künstlerischen Arrangements und knipste los, sobald das Jubelpaar auf seinen Stühlen saß. Auf den Bildern nachher war nicht viel zu erkennen, aber auf dem einen immerhin doch die Frau, die gerade an ihren Haarschmuck tippt. Dazu hatte sie gesagt: ›Der is noch von die andere Festivität. Jold kann unsereins sich nicht leisten. Wir nicht, nich in diesen Staat!‹

Was sie zu den Fotos gesagt haben, weiß ich nicht, denn ich hab sie ihnen in den Kasten an der Gartenpforte geworfen; der Muff hatte mir gereicht und die blöde Bemerkung über den Staat auch, und vor allem war ich mit dem Gefühl nach Hause gegangen, daß sie mich übers Ohr gehauen oder wenigstens doch auf meine Kosten einen uralten Streit ausgetragen hatten, einen stinkenden Zank, der an diesem Tage ebenso Goldenes Jubiläum hatte wie sie, denn im Gehen hatte ich draußen im Windfang den Alten sagen hören: ›Nu los, nu sag mal: Wer bringt hier nischt zuwege?‹ Und sie hatte geantwortet: ›Ick sach ja nischt. Ick sage höchstens: Alle fuffzich Jahre einmal is vielleicht ’n bißken wenich!‹«

Als wollte er verhindern, daß seine Geschichte belacht würde oder gar diskutiert, erhob sich der Staatssekretär mit dem letzten Wort seiner Erzählung, und man schickte sich zum zweiten Teil der Betriebsbegehung an, aber dann blieb dieser merkwürdige Mann doch noch einmal stehen und sagte: »Wer weiß, was das für Leute waren?«

Dies war nun ein Satz nach so einer Geschichte, mit dem man jemandem wie David Groth nicht hätte kommen dürfen. Er hätte gerufen: »Ja und, warum weiß er es nicht? Warum hat er es nicht herausgefunden? Warum hat er die Antwort nicht gesucht, wenn ihm um die Antwort zu tun gewesen ist? Das ist nicht zu glauben: begegnet einem Rätsel und setzt sich auf den Arsch, um Politische Ökonomie zu studieren! Das nenn ich Gelehrsamkeit: Buchstaben knacken, aber nicht Menschen! Da hätte ich mich so lange unter das Stubenfenster von diesen Goldhochzeitern gelegt, bis ich eine Vorstellung gehabt hätte, ein Bild mit allem an seinem Platz: dem Silberkranz, der Postkarte aus Pisa, dem Wermutmief und dem Staat, in dem man sich nischt Verjoldetes leisten kann. Wenn ich so was höre, das sägt mich auseinander. Da hätte ich doch die Bilder stückweise zu diesen vergammelten Philemon und Baucis gebracht und sie ausgeholt bis zur Grünen Hochzeit zurück, da hätte ich … Mensch, was für ein Jammer!«

Er hätte dies alles wirklich getan, und wirklicher Jammer hätte ihn wirklich gepackt ob einer so vertanen Gelegenheit, den Menschen, dem Menschen auf die Spur zu kommen.

»Unsere Zeitung ist nicht einfach ein Bilderblatt«, sagte er manchmal in seinen pompöseren Stunden, »sie muß ein Beitrag zur Menschengeschichte sein, und Geschichte sagt nicht bloß Was, sie sagt auch Warum, sonst taugt sie nicht. Und dieses Blatt taugt einen Dreck, wenn es nicht auch Warum sagt, und ihr taugt als Journalisten einen feuchten Qualm, wenn ihr nicht hinter dem Warum her seid wie der Finanzminister hinterm Steuerbeleg.«

Die Heftigkeit, mit der er diese Meinung von Anbeginn vertreten hatte, war zunächst von der Ahnung eingesteuert gewesen, daß man ihm Widerstand entgegensetzen würde, und wenn seine Heftigkeit, kam er in späteren Jahren auf dieses Thema, nicht geringer wurde, so einfach, weil er da schon wußte, was er vorher nur vermutet hatte: daß es eines war, die Darstellung des Warum ins Programm zu nehmen, und ein anderes, ein ganz anderes, dieses Programm zu verwirklichen. Abgesehen von den berufsinternen Dogmen, denen zufolge eine Illustrierte ihren Verpflichtungen dann genügte, wenn sie das Zeitgeschehen im Bilde vorführte und Worte nur beifügte, um Irrtümern des Beschauers vorzubeugen – klassisches und von David gern zitiertes Beispiel einer solchen klärenden Erläuterung war die unter einem Foto von zwei Persönlichkeiten, deren Äußeres schon tausend Karikaturisten zu leichter Arbeit gereizt hatte, was aber dem Textredaktor nicht Grund genug gewesen war, auf die Unterschrift zu verzichten, die da ging: »Kaiser Haile Selassie von Äthiopien (links) im Gespräch mit der Witwe des amerikanischen Präsidenten, Frau Eleanor Roosevelt (rechts)« –, abgesehen also vom Familienstreit zwischen Bildermachern und Wortemachern, gab es manchmal auch einen jüngeren, schärferen, tieferen und auch höheren Widerstand gegen die Vorführung des Warum, aber die Auseinandersetzung mit ihm führte weit fort von den Fragen der Technik und der Druckraumökonomie, sie führte in den Bereich der Grundsätze, und bei den Prinzipien verstummten die Witze, und von diesen Prinzipien her verbot sich oft nicht nur das illustrierte Warum; auch das illustrierte Was, der bloße Tatbestand, die Aufnahme, das Bild von ihm, blieb unveröffentlicht, weil anders Verwirrung statt Klärung die Folge gewesen wäre.

Das Beispiel hierfür, weniger rasch erzählt als die Anekdote von Kaiser Haile Selassie links und Mrs. Roosevelt rechts und auch weniger belacht und auch weniger unumstritten, war die Affäre REBEA. Denn es war die Geschichte eines Umsturzversuches und eine Komödie. Es war die Geschichte eines Wirtschaftsputsches und eine Komödie. Sie endete wie ein Drama, sie verlief wie eine satirische Erzählung von Ilf und Petrow, und sie begann beinah wie ein gemütliches Märchen, sie begann mit Großvater Kist:

Es lebte einmal in der schönen Stadt Berlin der Großvater Richard Kist, ein Eisenbahner. Sein Lebtag war er ein fleißiger Mann gewesen, und als er in den Ruhestand trat, ging sein Trachten nur auf den Ruhestand, von dem er wohl wußte: Er hatte ihn verdient. Er hatte fünfundsechzig Sommer gesehen, und vierzig Winter lang hatte er Kartoffeln und Kohlen und Zement und Kisten mit Hühnern und Büchern und Maschinenteilen und Eingemachtem und Waggons voller Ferienausflügler, Berufsschüler, Trauergäste, Soldaten und singender Jungfrauen über verschneite Schienen gefahren, er hatte Stellwerke gestellt und Gleisbetten mit Steinen gestopft, er hatte Fahrkarten verkauft und gelocht und in überfüllten Zügen kontrolliert, er hatte beim Rangieren zwei Finger der linken Hand eingebüßt und im Übernachtungsraum von Posen seine Brieftasche verloren und im Partisanenwald bei Compiègne sechzehn Wagen mit Stückgut aus Brest, und nun war er in Pension, Ruuuhestand.

Da aber sprach eines Tages die Tochter, die zweite, die mit dem nervösen Buchhalter zum Mann: »Wenn du mal Kaffeesahne siehst, bring uns welche mit, du kommst doch rum.«

Fürwahr, das war wohl recht gesprochen! Es war nämlich dem Großvater Kist bald in den Sinn gekommen, daß es ein eigentümlich Ding war mit dem Ruhestand: Es wollte sich keine Ruhe einstellen, und nach Bewegung war ihm immerfort. Es trieb ihn auf die Bahnhöfe und ins Stellwerk und in die Wohnungen von Kollegen, die nun Veteranen waren gleich ihm. Dort wurde noch einmal die Eisenbahngeschichte des Halbjahrhunderts verhandelt; noch einmal stand in diesen auch weiterhin erregten Debatten die Entscheidung zwischen Dampf- und Diesellok auf der Kippe und auch die zwischen der Diesellok und der aus einer Oberleitung gespeisten elektrischen Zugmaschine, noch einmal tobten verbale Schlachten um Spurweiten und Kennzeichnungssysteme und um die Entbehrlichkeit oder Unentbehrlichkeit des Rangierers mit den zerbrechlichen Rippen nahe Puffer und Puffer. Noch einmal das donnernde Abenteuer des Schienenstrangs, die Ängste im Fährenbauch beim Nebel vor Trelleborg, der Schabernack mit dem pingeligen Oberamtmann von Rüdesheim, die lüsterne Witwe im Nachtzug nach Prag und das Telegrafenfräulein von Saalburg, immer dienstbereit, jungejungejunge, und die Scheiße bei Pinsk und Minsk und Hagenbecks Elefant, der nicht auf die Rampe wollte, und das Desaster bei Mülheim, wo der Willi eine Blockstelle vorher noch gesagt hat, morgen geht er heiraten, und dann sind’s vierundzwanzig Tote, und Willi ist dabei. Noch einmal Fahrt auf dem Flügelrad durch vierzig Jahre, durch ganz Europa, nur in Äquatorlängen zu messen, Schienenweg durch Frieden und Krieg, Ausgangsstation: eine Stopferkolonne in Eberswalde, Endstation: Ruhestand.

Aber dann begibt es sich, daß der Gesang der greisen Befahrenen unterbrochen wird, abgebrochen, weil eine Schwiegertochter nach Hause kommt und Bissiges zum Thema Pfeifenqualm äußert, oder das Zugtelefon ruft Herbert, der noch zwei Jahre dabeisein wird, muß, darf, an die Arbeit, schönes Wort jetzt, oder es wird einfach langsam zu windig am Gartenzaun, und man sagt: »Ja, ich werd mich auch mal trollen; muß noch sehen, ob’s wo Kaffeesahne gibt; ich brauch keine, aber Helga, die mit dem Buchhalter, trinkt ihn nicht schwarz. Na, ich hab ja Zeit, ich seh mich mal um.«

Und da begibt es sich weiter, daß die Schwiegertochter vom Kollegen oder der Herbert, der noch die zwei Jahre rummachen kann, oder die Nachbarin am Gartenzaun oder alle drei und andere auch noch sagen: »Wenn’s gibt, ich könnte auch welche brauchen!«

Und weiter begibt sich nun, daß Großvater Kist eines Abends nach einem erfolgreichen Einkaufszug die junge Ärztin am Hausbriefkasten trifft, die wohnt zwei Treppen, hat viel zu tun, ist aber immer freundlich und sagt auch jetzt freundlich: »Tag, Herr Kist, noch ein bißchen Bier geholt für den Feierabend?«

»Da brauchte ich viel Bier«, sagt Großvater Kist, »bei mir ist jetzt immer Feierabend. Nee, ich hab Kaffeesahne besorgt, für die Familie und ’n paar Bekannte auch gleich mit.«

»Da ist man gut dran«, sagt sie, »wenn man jemanden hat, der sich darum kümmern kann.«

»Sie haben wohl keinen? Wenn Sie wollen, hier«, und er gibt ihr zwei Flaschen.

Sie nimmt, sie dankt und kämpft ihm sechzig Pfennig über den Preis in die Hand, und sie sagt noch, falls er einmal zufällig auf eine Plastikbadewanne für Kleinkinder stoßen sollte, riesig würde sie sich freuen.

Er verläßt sich nicht auf den Zufall, er sucht, er hat ja Zeit, er findet, er bringt, sie freut sich und überzahlt die Wanne auf angemessene Weise.

Und hier endet nun der märchenhafte Anfang, denn in Geldsachen hören auch die Märchen auf, und zur Geldsache wird, was als Freundlichkeit und nur zum Zeitvertreib begann.

Richard Kist wird Unternehmer. Er produziert nicht, und er spekuliert nicht mit Grund und Boden, und er gründet keine Bank, aber er wird ein Unternehmer. Also handelt er?

Die Antwort hierauf ist eine reine Standpunktfrage.

Da ist der Standpunkt von Richard Kist: Nein, wie sollte er ein Händler sein! Er ist ein Helfer und vielleicht ein Bote, aber doch kein Händler! Er kauft keine Ware vom Produzenten, und er verkauft keine Ware an Konsumenten und gründet sein Einkommen auch nicht auf den Zuwachs von Gebrauchswert, den die Ware auf dem Wege zwischen Produktion und Konsumtion erfährt. Letzteres freilich sagt Richard Kist etwas leiser, denn er weiß nicht so recht, ob das stimmt, oder besser: Er ahnt schon, daß es nicht stimmt. Zwar möchte er als Quell seiner Einkünfte eine Kategorie einführen, von der bislang in theoretischen Schriften zur Ökonomie nichts zu lesen war, die Kategorie Freundlichkeit, aber ganz wohl ist ihm dabei nicht, denn man ist hierzulande nicht im mittleren Eisenbahndienst gestanden, ohne gelegentlich zumindest mit gröberen Umrissen der Wissenschaft von Marx, Karl, Kapital und so, in Berührung gebracht worden zu sein.

Dennoch versucht er es mit der Freundlichkeit; aus Freundlichkeit hat er Töchtern und Schwiegertöchtern von Freunden und Nachbarn und Nachbarn von Nachbarn dieses und jenes besorgt; aus Freundlichkeit haben Obgenannte ihm hier und da einen Groschen für seine Vermittlung gegeben, einen Groschen oder auch eine Mark oder auch ein paar Mark, je nachdem; aus Freundlichkeit, zum Dank für ihre Freundlichkeit, hat er den Leuten mit der Verfügung über Bestände an Kaffeesahne oder Plastikbadewannen oder Gurken oder Leber oder, das war aber erst später, bitte sehr, Kühlschränken oder Fernsehgeräten wieder etwas abgegeben von dem, was er von erfreuten Versorgten für seine freundlichen Besorgungen bekommen hatte. Ja, ein Besorger ist er, ein Händler keinesfalls, ein Beschaffer vielleicht, womöglich ein Vermittler und allenfalls ein Makler.

Da hat der Ökonom, der Mann von der Theorie, einen anderen Standpunkt: Das kennt er, sagt er, diese Beteuerung des Unternehmers, Helfer zu sein, selbstloser Helfer zum Allgemeinwohl, das ist ihm nicht fremd. Aber das ist Schnurrefanz, damit hält er sich nicht auf. Handel, so steht es selbst im bürgerlichen Buche, ist die räumliche und zeitliche Verteilung von wirtschaftlichen Werten, um sie einem besonders hohen Gebrauchswert zuzuführen. Hatte es Herr Richard Kist mit wirtschaftlichen Werten zu tun? Ja! Erhöhte sich durch das Tun des Herrn Richard Kist deren Gebrauchswert an ihrem Ausgangs- wie an ihrem Endpunkt? Ja! Und war dies Tun unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt eine Art Verteilung? Ja! Und spielten endlich Raum- und Zeitfaktor bei der Erhöhung des Gebrauchswerts und also auch der Gewinnmöglichkeit eine wichtige Rolle? Ja! Vierfache Deckung mit der Definition: also Handel! Alles andere Schnurrefanz. Was heißt hier Makler? Das Maklerwesen ist nur eine Subform des Handelswesens! Was heißt Vermittler? Der Handel liegt schon lange nicht mehr in einer Hand; da gibt es Aufkäufer, Großhändler, Kleinhändler, Agenten, Reisende und, jawohl, von alters her, Vermittler, weitere Subform zum Oberbegriff Händler. Und ein Beschaffer, was ist der? Nun, erstens ist diese Erscheinung wohl jüngeren Datums und vermutlich amerikanischen Ursprungs, aber inzwischen gibt es sie auch anderswo, es gibt bereits regelrechte Ämter für Beschaffung, aber, wie gesagt, es handelt sich lediglich um eine Erscheinung, die aber welchen Wesens ist? Es ist eine Erscheinung des Handelswesens! Muß man sich da noch mit dem Wort Besorger befassen? Das muß man wohl nicht. Es ist ein verschleierndes, apologetisches Wort und für den wissenschaftlichen Ökonomen beinahe so lachhaft wie das Wort Freundlichkeit. Kurz: es ist Schnurrefanz.

Dem Staatsanwalt, der nun an der Reihe ist, erscheint das ebenso lachhaft, aber sein Standpunkt, und was aus dem an juristischen Ableitungen folgt, ist sehr ernst. Er hat dem Vortrag des Sachverständigen aufmerksam zugehört; der Handelscharakter der Kistschen Unternehmungen dürfte als erwiesen gelten, aber er will auf den besonderen und, um es gleich zu sagen, sinistren Charakter dieses Handels hinaus, den widrigen, den gesetzeswidrigen, und er denkt da nicht an den fehlenden Eintrag ins Register und an die fehlende Lizenz, das heißt, daran denkt er auch, also an Schwarzhandel denkt er schon, an diesen kriminellen Bastard aus der gesellschaftlich notwendigen Zirkulationssphäre, aber er denkt an mehr, an Spekulation nämlich denkt er und an noch mehr: an Obstruktion der volkswirtschaftlichen Planung, an Sabotage der Versorgung, an nichts Kleineres als an ökonomische Konterrevolution.

Aber, aber, Genosse Staatsanwalt, ist das nicht ein bißchen kräftig: Spekulation, Obstruktion, Sabotage und gar Konterrevolution? Und das alles wegen Kaffeesahne?

Ganz recht, spricht der Genosse Staatsanwalt, wegen Kaffeesahne, unter anderem. Wegen schätzungsweise elftausend Fläschchen Kaffeesahne, sagen wir: etwas über eine Tonne, Normalabgabepreis etwa fünftausend Mark; Besorgungs-, Beschaffungs-, Vermittlungs- oder Makelgebühr pro Fläschchen ein Groschen, rund tausend freundliche Mark für Herrn Kists Freundlichkeit. Schlimm? Nicht schlimm. Bei all der Lauferei und all den Abgaben an die freundlichen Abgeber und an die rennenden Rentnerfreunde, die eingespannt werden mußten, um auf elftausend Fläschchen zu kommen, war der Gewinn nicht der Rede wert.

Gläser brachten schon etwas mehr, Gläser voll Gurken, die auf denselben Wegen eingekauft und auf denselben Wegen verteilt wurden. Eine geschätzte Gewinnziffer, die sich auf einen bestimmten Zeitraum bezieht, beläuft sich auf zweitausend Mark.

Schlimm? Nicht schlimm. Viel? Nicht viel und viel zuwenig für Herrn Kist und seine REBEA, was heißt: Rentner-Beschaffungs-Aktion. Leber und ungarische Salami brachten schon wieder etwas mehr – im bereits erwähnten Zeitabschnitt, der, ich erinnere, nur ein Abschnitt war, sechseinhalbtausend Mark.

Immer noch nicht schlimm? Eigentlich immer noch nicht. Immer noch nicht genug für Herrn Kist und die REBEA? Noch lange nicht; jetzt geht’s erst los, denn jetzt kommen die Industriewaren; um eine lange Liste kurz zu machen, sage ich: sie reichte vom nahtlosen Strumpf bis zum Fernsehapparat; in ihr ist reichlich vorhanden, was bei uns zeitweise oder dauernd knapp oder kaum vorhanden war oder ist. Sie bekommen die Liste, und Sie bekommen jetzt eine Summe zu hören, aber ich sage Ihnen gleich dazu, es ist nur ein nachweisbarer Betrag, die Dunkelziffer dürfte eine ganz andere sein. Hier also jene, auf die wir durch unsere Ermittlungen ein Licht werfen konnten, sie lautet: Zweimillionensechshundertachtzigtausend Mark!

Selbst der Richter hebt erschrocken die Nase aus dem Papier, obwohl doch er zwecks Vorbereitung auf den Prozeß diese Nase lange genug in diesem Papier gehabt hat, selbst er ist erschrocken, denn die Zahl klingt jetzt anders, als sie sich las; sie klingt wahrhaftig nicht mehr bloß nach Schiebung, sie klingt in der Tat nach Umsturz auf dem Handelssektor, man hat es hier nicht einfach mit einem Diebesknüppel zu tun, sondern mit einem ökonomischen Hebel; dies ist kein kleiner Brocken, es ist die Erklärung einer wirtschaftlichen Disproportion; dieses beschränkte sich nicht auf ein unerhebliches Schwarzmärktchen, es geschah im Republikmaßstab. Und Großvater Kist nickt dazu, und er ist weniger erschrocken als ergriffen, denn er ahnt etwas von seiner späten Größe. In ihm ist Amerika, die Tellerwäscherkarriere; Morgan und Dupont und Rockefeller sind wiederholt und eigentlich überholt, denn die hatten es mit einem freien Markt zu tun, aber hier, Mister, hier war der Plan und die Staatlichkeit und die Konsumgenossenschaft mit ihren Verkaufsstellenausschüssen, zum Henker mit ihnen! Die Duponts und Rothschilds waren die Konsequenz ihres Systems, aber ich, meine Herren Kollegen, ich, Richard Kist, war in unserem System nicht vorgesehen oder schärfer noch: Das System war gedacht, mich zu vermeiden, zu bekämpfen, zu vernichten gar.

Nun, ich bin damit fertig geworden, eine Weile jedenfalls, es ist ganz gut gegangen, und, im Vertrauen, Ihre Zahlen da, Herr Staatsanwalt, sind ein wenig bläßlich, ich wüßte farbigere, aber ich will Sie nicht beschämen.

Und gestehen will ich auch: Am Ende hat mich doch das System besiegt, sosehr es mich zunächst auch begünstigt hatte.

Wie Sie wissen werden, beruht es auf Wissenschaftlichkeit, auf Studium und Organisation. So denn auch meines.

Ich habe studiert, wahrhaftig, das habe ich! Die Bedürfnisse, die Preise, die Produktionsziffern und den Verteilungsmodus. Letzteres war die härteste Nuß! Man spricht da von Warenstreuung, aber Streuung, das ist ein Wort, dem noch allzuviel Regelhaftigkeit innewohnt: Man sieht da etwa einen Bauern über sein Feld schreiten und rhythmisch bestimmt Saat oder Dünger austeilen; er folgt vorgefaßten Linien, hat auf den Kalender gesehen, unterscheidet zwischen trockenen und feuchten Böden und bemißt die Mengen, die er auswirft, nach solchen Gegebenheiten. Ach, meine Herren, nicht so der Handel! Doch, ohne in die Einzelheiten zu gehen, es ist mir mit Hilfe intensivsten Studiums gelungen, selbst auf diesem Gebiet Schemata aufzustellen, die sich wenigstens auf Wahrscheinlichkeit gründeten. Von da an war alles Organisation.

Ich war vierzig Jahre bei der Eisenbahn; da lernt man etwas von Organisation. Ich hatte nie die Ehre, an der Ausarbeitung von Fahrplänen mitzuwirken, aber ich wußte, wie man es macht, Statistik, Mathematik, es ist mir zustatten gekommen.

Doch ich begreife schon, hier ist nicht der Ort, sich zu brüsten, hier ist eher der Ort, zu bekennen, tätige Reue zu zeigen durch tätigen Anteil an Aufdeckung, Aufklärung und Verhinderung weiterer Untat.

Hohes Gericht, deren, der letztgenannten, Wahrscheinlichkeit ist gering, denn der REBEA Wirken entsprang, wie der normale Handel auch, aus der Unstimmigkeit zwischen Erzeugung und Verbrauch, aber ihr eigentlicher Anschub war der Mangel: der Mangel an Kenntnissen, an geeigneten Organisationsformen, an Produktionsstätten und -fertigkeiten, an gebildeten, ausgebildeten Menschen und also am Ende der Mangel an Waren und Gütern.

Jedoch – ich sage es mit gespaltener Seele: ich sage es bedauernd in meiner Eigenschaft als der Begründer der REBEA, und ich sage es mit Genugtuung, und bitte, mir dies zu glauben, als ein Bürger dieses Landes – der Mangel ging zurück, er ging über ein für die REBEA verträgliches Maß zurück, schlug auf gewissen Gebieten in sein Gegenteil um, in den wenn nicht Überfluß, so doch Überschuß, und wie Sie wissen, hat mir das ein Ende gemacht, ich habe mich vertan in meiner Planung, ich habe zuviel Kapital in den Erwerb von Fernsehgeräten gesteckt, ich muß falsch informiert worden sein, man hat plötzlich im Laden bekommen können, und sogar auf Kredit, was bis dahin schneller nur bei REBEA zu haben gewesen war, die Produktion hat mich überholt und erledigt. Zwar, mit der Kaffeesahne meines Anfangs hapert es immer noch, aber auch nicht mehr so, und mit den heute möglichen Gewinnspannen bei diesem Artikel kann ein Apparat wie der meine nicht laufen, und so brach REBEA zusammen.

Ich aber darf das nicht, denn ich hörte da aus des Herrn Staatsanwalts Munde Worte wie Konterrevolution und ökonomischer Putschversuch, und da muß ich mich aufrecht halten und versichern: Nein, Hohes Gericht, so war das denn nun doch nicht gemeint!

Das Gericht hatte sich dann lange herauszufinden bemüht, wie es gemeint und was es wirklich gewesen war, und David, der Chefredakteur, hatte sich lange bemüht, das eine wie das andere in seiner Zeitung darzustellen; er hätte gerne das Was in Bildern und das Warum in passenden Worten vorgeführt, doch am Ende hatte sich weder das eine noch das andere für den Druck geeignet.

Doch geeignet, sich dies alles noch und noch anzuhören, die Geschichte von Großvater Kist und der REBEA, die Argumentation des Staatsanwalts und die Urteilsbegründung und die Begründung der Druckunreife und die Flüche eines Chefredakteurs und seine Seufzer und seine träumerischen Bilder aus dem Rentnerleben und seine ökonomischen Theorien mit vielen Schaudochmal und sein Gelächter ohne Buddhabauch – geeignet für alles dies war die Ehefrau Franziska, Fran genannt, und lebte deshalb zumindest ein zweifaches Leben, ihr eigenes und das von David Groth dazu.

Aber sollte es nicht so eben sein in einer Ehe, war die nicht gerade gedacht für den Austausch, für das Hin und Her nicht nur von Zärtlichkeiten und Meinungen über den Sohn, war sie nicht lediglich ein anderes Wort für zweifach, für Gemeinschaft, Gemeinsamkeit, Gegenteil zu Einsamkeit?

Schon, schon, aber manchmal war er ein bißchen viel, dieser Chefredakteur, oder er war ein bißchen viel Chefredakteur, brachte nicht nur seine Sorgen, Skrupel und Triumphe mit, sondern auch gleich deren Ursachen, stopfte das Haus voll mit Papierquoten, Ministerratsbeschlüssen, Leserbriefen und lästigen Konferenzteilnehmern, schob gleichsam komplette und eben doch nicht komplette, weil defekte Druckmaschinen vor sich her in die Wohnstube, füllte das Schlafzimmer mit Werkneubauten und Stadtzentren, trug das Problem der ländlichen Kooperation bis in die Küche und den Weltmarkt und das Weltall mit auf die Couch.

Und manchmal, wenn man Fran hieß und noch jung war und auf der Couch lag, dachte man: Zum Teufel mit dem Weltmarkt und der PLAMAG und diesem Ideenhecker Henselmann und Kultur im Heim, hier ist meine Wohnung, und ich wollte, ich könnte eine Schleuse einbauen zwischen Wohnung und dem Rest der Welt: Guten Tag, Herr Chefredakteur, hier spricht Fran Groth, ich begrüße Sie und werde Sie gleich noch mehr begrüßen. Bitte legen Sie die Kleider ab, ich vermute, sie stinken nach der Konferenz über Alte Stadt in neuem Glanz; spülen Sie sich den Zornesschweiß aus den Achselhöhlen, ich weiß, die Modenweiber wollten wieder eine Seite mehr in Bunt; gurgeln Sie lange, denn ich mag die Rückstände nicht von Worten wie Rindertuberkulose, Bummelantentum, Napalm, Bürokratismus und Rainer Barzel, von Worten wie Siekönnmichmal und Soschlaubinichauch und Nunkommtmirbloßnichtso, von Worten voll Schimpf und Ohnmacht und Einsamkeit und Hohn und Furcht. Gehen Sie unter die Dusche und befreien Sie sich innen und außen, vom Firnis- und Rußgeruch der Druckerschwärze und vom Gestank einer unterdrückten Geschichte. Ich weiß, Sie sind Atlas, der Himmelsstemmer, nun legen Sie aber mal für ein paar Stunden den albernen Globus hin, keine Sorge, er kommt schon nicht fort, und reiben Sie nicht an der geschundenen Schulter herum, das mache ich dann schon, das und manches andere, und nun komm endlich rein, Mensch!

Aber es gab diese Schleuse nicht, und gäbe es sie, so wäre noch zweifelhaft, ob man sie dann auch wirklich wollte. Denn was wäre dieser Mensch ohne das, ohne das man ihn so oft so gern gesehen hätte? Das war nicht vorstellbar; es hätte bedeutet, ihn von seinem Leben abzulösen, ihn als ein dreidimensionales Ding vom Leben abzulösen, ihm sein Lachen zu nehmen, das ein Lebenszeichen war wie sein Stöhnen, ihm den Witz zu nehmen, der eine Antwort war auf den stumpfen Ernst im Atlasdienst, ihm die Zärtlichkeit zu nehmen und das Suchen nach Zärtlichkeit, die beide Befreiung waren von der Bosheit der Routine und den Gewalttaten des ganz gewöhnlichen alltäglichen Alltags.

Zärtlichkeit. Zärtlichkeit nahm sich anders aus mit diesem als mit anderen. Deshalb war man ja bei diesem und nicht bei einem anderen; und wer bei seinem war ohne diesen Grund, wie war der bei ihm und konnte es bleiben?

Zärtlichkeit war eine Anrede: »Meine liebe Frau, du alberne Göre!« Zärtlichkeit waren die Winzlinge von Geschichten, aufgelesen auf dem Heimweg und mitgebracht: »Ich hörte nur noch folgendes: ›… sage ich: Herr Doktor, Würmer haben bei uns alle immer gehabt, daran kann es nicht liegen!‹«

Zärtlichkeit war die eine Rose mitten im Smog aus Gewohnheit und verrauchenden Anfangsbräuchen.

Die Frage »Was denkst du jetzt?« war Zärtlichkeit, und ein Zuhören, dem kein Nebenton verlorenging, und der Verzicht auf jegliche Deckung vor Albernheit, Ratlosigkeit, Freßgier und anderer Gier. Und die Zärtlichkeit, die zuerst gedacht wird beim Wort Zärtlichkeit. Bei diesem und von ihm ist sie eine, die nichts ausläßt, kein Außen und kein Innen, kein Wort und keine Bewegung, keine Kniekehle und keine Falte im Lid und nicht ein Haar, und sie ist stille Wärme und wieder Jagen wie vor dem Tode her, und sie kommt erwartet auf bekannten Straßen und unmöglich plötzlich an unmöglichem Ort. Diese Zärtlichkeit ist auf Austausch aus, nicht einfach und schrecklich auf Entledigung; sie will teilen und haben; sie gibt sich selber rauhe Namen und hört auf leisen Anruf und ist immer da.

Und so war dieser David immer da; auch wenn er fort war zu einer Konferenz in Äquatornähe oder entschwunden in die Schlacht gegen sorgloses Mittelmaß; er blieb erkennbar als dieser David unter dem Staub und zwischen den Girlanden der Jahrestage, blieb erkennbar auf entfernten Tribünen und im Getümmel der Kongresse, Ausschüsse, Komitees, Jurys und Delegationen, blieb David, der Mann von Fran, auch unter hundert Charaktermasken: Chef, Mitarbeiter, Mitglied, Leiter, Redner, Diskussionsteilnehmer, Organisator, Teilnehmer an, Beauftragter für, Berichterstatter über, Verantwortlicher oben, Verantwortlicher unten, Verantwortlicher gestern, Verantwortlicher morgen, Veranstalter von Preisausschreiben und Umfragen, Gegner von anderen Preisausschreiben und anderen Umfragen, Initiator, Inszenator, Reporter, Kritiker und Auswerter, Mann der Zeit, Mann der Bewegung, Mann der Gesellschaft, aber bei allem, trotz allem, über allem immer der Mann von Fran.

Wenn sie ihn an einem Vorstandstische sitzen und in seiner Kaffeetasse rühren sah, dachte sie: Der Arme, sie haben da Würfelzucker, nun kann er gar nicht krümeln.

Wenn sie ihn in den Wolga steigen sah, dachte sie: Ich weiß, du führest gerne Motorrad.

Wenn er ein neues Hochhaus besichtigen ging, dachte sie: Hoffentlich hilft ihm einer mit der Fahrstuhltür.

Und wenn sie einem geschwätzigen Chef begegnete, dachte sie an ihn, und wenn sie von goldener Hochzeit las, dachte sie an ihn, und bei den Wörtern Rentner oder Kaffeesahne oder Konterrevolution dachte sie an ihn, manchmal jedenfalls dies alles und oft genug auch nichts von alledem, denn oft genug, meistens, hielt der eigene Kram sie so besetzt, daß an anderes und andere nicht zu denken war, nicht einmal an David, den Mann, der er war, und nun gar an den, der er gewesen war.

Und an alles zusammen und alles durcheinander, Gräfinnen und pensionierte Eisenbahner, das historische Warum und die Börde und die Pythia, ökonomisch Lachhaftes und Würmer, an denen es nicht liegen konnte, und Silberkränze in schmuddeligem Haar und unmögliche Zärtlichkeiten, an alles dies und dieses alles durcheinander dachte sie nur in einem langen Augenblick, der begonnen hatte nach dem kurzen Satz von David Groth: »Ich soll Minister werden!«