Wenn man weiß, daß David Groths Vater Wilhelm hieß, und wenn man dazu noch weiß, daß der Kaiser, unter dessen Regentschaft Wilhelm Groth geboren wurde, auch Wilhelm hieß, und wenn man zu dem nun erfährt, daß der Dienstherr, in dessen Lohnlisten Wilhelm Groth stand, als ihm sein Sohn, den er dann David nannte, geboren ward, daß dieser Dienstherr ebenfalls David hieß, dann wird man vermuten dürfen, Wilhelm Groth habe sich bei der Namensgebung für seinen Sohn Nüchternes gedacht, weniger Lauteres auch als nur: David Groth, das klingt ganz gut, a, i, o ist irgendwie so musikalisch, und man wird den Gedanken als allzu literarisch verwerfen können, Wilhelm Groth habe das a, i, o womöglich weiter- und umgedacht zu o, i, a, nämlich Goliath, habe dem Namen seines Sohnes biblische Geschichte eingelautet und die Hoffnung dareingesetzt, dieser da, sein Jüngster und sein Ältester zugleich, dieser David Groth möge werden David und Goliath in einem und also unbesiegbar; man wird ihn verwerfen müssen, diesen Gedanken, und den, der Vater habe in der Wahl des Namens für seinen Sohn die Sehnsucht, den Traum der immer Besiegten ausdrücken wollen, diesen nun gar lasse man schleunig fallen, denn kurz ist der Gedankenweg zwischen dem Namen, den ein Dienstherr trägt und den ein Dienstbote wählt, ebendenselben, wenn ihm ein Sohn geboren wird, kurz ist dieser Weg und übersichtlich, er führt oder soll doch führen zu des Herren Huld, will sagen: zu des Herren Geld, und ist schon, wo er gezogen ist zwischen einem David Groth und einem David Blumenthal, um vieles mehr ein Wirtschaftsweg als jener, der zwischen Wilhelm Groth und Wilhelm dem Imperator verlief, denn den Kaiser erreichte die Kunde nicht, daß ein Groth seinem Sohn den Namen des Kaisers gegeben habe, aber den Herrn Blumenthal erreichte solche Kunde schon, er erfuhr sie aus erster Hand, vom Vater nämlich, und er sagte: »Nun, das ist nett von Ihnen, Groth, und wenn Kindtaufe ist, sollen Sie schon sehen, daß ich Ihnen dankbar bin.« Und Wilhelm Groth, Chauffeur bei David Blumenthal, Zahntechnische Laboratorien, sah. Er sah die Kindtaufschmaustafel gedeckt für zweiundzwanzig Personen, gedeckt, finanziell jedenfalls, von Herrn Blumenthal. Er sah ein Sparkassenbuch, eingetragen auf den Namen David Groth, offen für einen auf einundzwanzig Jahre geplanten monatlichen Eintrag von zwanzig Reichsmark, abhebbar erst bei Erlangung der Volljährigkeit des Inhabers durch ebendenselben. Er sah ein notariell beglaubigtes Schreiben des Herrn Blumenthal, in dem der Unterzeichnete sich verpflichtete, für alle aus einem eventuellen Gymnasial- beziehungsweise Universitätsbesuch direkt entstehenden Kosten von Beginn der vorstehend bezeichneten Studien bis zu ihrem ordnungsgemäßen Abschluß voll aufzukommen.
Er sah eine silberne Taschenuhr, gefertigt von der Firma IWC, Switzerland, und mit der Gravur versehen: »Für David Groth von David Blumenthal«.
Er sah keine Vorbehalte, keine Auflagen, keine Wenns und Abers, keine Einschränkungen für den Fall, daß, keine Rückzugsklauseln, er sah überhaupt keine Klauseln, und in der Kirche sah er auch Herrn Blumenthal nicht, denn Herr Blumenthal war eines anderen Glaubens und hatte an einem lutherischen Taufstein nichts zu suchen.
Und was sah David? Keiner weiß es, auch David nicht, denn zum ersten hat er alle Feierlichkeit verschlafen, hat nur ein- oder zweimal geblinzelt, nachdem ihm etwas Kaltes und Nasses auf die Stirn gefallen war, hat dann aber wieder weder gesehen noch gehört, hat weder das Brimbamboriabim des Herrn Superintendenten gehört noch all die vor allem sein Näschen betreffenden Komplimente der Taufgesellschaft und auch nicht die Orgel im Dom zu Ratzeburg und hat auch nicht die blauen und auch hier ein wenig ängstlichen Augen seiner Mutter gesehen oder den merkwürdig blankschwarzen Anzug seines Vaters oder gar den Herrn Blumenthal, der an der Ecke des Stiftsweges gestanden hat, kurz vor dem Domhof – niemand hat den Herrn Blumenthal gesehen, und so sollte es auch sein –, und zum zweiten weiß David von alledem auch nicht, weil niemand weiß von dem, was mit ihm und um ihn geschah, als er vierzehn Tage alt gewesen ist.
Aber David sollte daran erinnert werden.
Er wurde an etwas erinnert, das er nicht wußte, und zuerst war das ein freundliches Erinnern. Immer, wenn sein Vater das Meisterwerk der International Watch Company aufgezogen hatte, er tat es an jedem Abend, und manchmal war David dann noch wach, ließ er die Uhr vor den Augen seines Sohnes pendeln und sagte dazu: »Die hat dir der Herr Blumenthal geschenkt!« So kam es, daß eine lustig blitzende Helle und das fröhliche Gesicht seines Vaters in Davids Kopf eins wurden mit dem Namen des Herrn Blumenthal.
Manchmal, wenn David die ersten Bilder und dann die ersten Buchstaben und Zahlen erkannt oder ein schwieriges Wort richtig nachgesprochen hatte, sagte seine Mutter: »Wenn du groß bist, wirst du noch viel mehr lernen dürfen, dafür hat der Herr Blumenthal gesorgt!« So kam es, daß die Lust am Raten und Entdecken und die seltenen Minuten, in denen seine Mutter nicht gar so ängstliche Augen hatte, in Davids Kopf eins wurden mit dem Namen des Herrn Blumenthal.
Manchmal, wenn das Wort Geld öfter als sonst und mit einem Klang, der nicht gut war, ausgesprochen wurde, hörte David seine Eltern einander sagen, aber dem Jungen wenigstens werde diese Sorge erspart, der werde nicht kratzen müssen und nicht buckeln, da habe der Herr Blumenthal vorgebaut. Und so kam es, daß ein Gefühl von ferner Ruhe und unbestimmter und doch bestimmter Erleichterung in Davids Kopf eins wurde mit dem Namen des Herrn Blumenthal. Bis dann der Herr Blumenthal im Küchenbach ertränkt wurde. Oh, der Herr Blumenthal ist nicht ohne eigene Schuld in das Gewässer geraten; hätte er sich anders verhalten, wer weiß, wäre er womöglich noch weit herumgekommen, bis in die Prinsengracht von Amsterdam wohl gar und in die Nachbarschaft von Anne Frank oder bis nach Treblinka in Polen, wo er sicher einen Arbeitsplatz gefunden hätte, er, der Zahnfachmann und Prothesenkenner, einen Platz in der Nähe eines großen, fauchenden Ofens.
Aber nein, es mußte das kalte Wasser sein; Herr Blumenthal hat da seinen Kopf für sich gehabt, und er hat den Stadtverordneten Wolter reizen müssen und hätte doch wissen können, daß der Stadtverordnete Wolter ein ironischer Mensch gewesen ist und ein konsequenter. Doch der Herr Blumenthal hat in einer öffentlichen Sitzung der Stadtverordneten aufstehen und sagen müssen, die soeben gehörte und übrigens sehr nationale Rede des Stadtverordneten Wolter sei so tief und so mitreißend wie der Küchenbach gewesen – der Küchenbach, man wird Ähnliches ahnen, war bei Volltrunkenen sehr beliebt, man konnte sich in ihm ausbreiten und ungefährdet ernüchtern, lag man auf dem Rücken, so reichte einem die Flut nicht ganz an die Ohren; und in der Schule hatte es der Geographielehrer schwer, den Kindern klarzumachen, daß neben den Flüssen auch die Bäche den fließenden Gewässern zuzuzählen seien, denn die Kinder kannten den Küchenbach.
Auch der Stadtverordnete Wolter kannte ihn, und da er ein Mann von schneller Auffassung war, hat er beinahe sofort gemerkt, daß der Herr Blumenthal einen Witz auf seine Kosten gemacht hatte, und daran, daß nur bestimmte Fraktionen der Stadtverordnung und auch nur ein ganz bestimmter Teil des Publikums gelacht haben, hat er gemerkt, daß es ein politischer Witz gewesen ist. Doch auch der Stadtverordnete Wolter ist nicht ohne Schalk gewesen, und schlagfertig war er in mancher Hinsicht, und so ist er im vom Küchenbach bestimmten Bilde geblieben und hat geantwortet, diese Äußerung werde er dem Herrn Blumenthal schon noch eintränken.
Der Stadtverordnete Wolter hat sein lustiges Wort gehalten, und in einer Februarnacht des Jahres dreiunddreißig, einundzwanzig Monate nach der fröhlichen Stunde im Stadtverordnetenhaus, hat er den David Blumenthal so lange in das sandige Bachbett gedrückt, bis der gemerkt hat, daß dieses stille Wasser tief war wie die Ewigkeit und reißend wie der Tod.
Acht Wochen später, an einem kalten Nachostertag, kam David Groth in die Schule, und der Lehrer, ein Mensch namens Kasten, fragte ihn, ob er denn wisse, was dieser hübsche Vorname David bedeute. David wußte es nicht; er hatte den Namen, wie man eine Nase hat oder zwei Füße, und er war erstaunt und auch nicht sehr erfreut, als er erfuhr, David heiße soviel wie »der Geliebte«. Daß kein Grund zur Freude gegeben war, merkte er schon am Tonfall dieses Menschen, der Kasten hieß und sich die Hände rieb, während er ihm mitteilte, er werde ihn fortan unter dem Namen Geliebter Groth aufrufen, denn David, das klinge nun doch zu unversetzt hebräisch, zwar kämen auch andere Bezeichnungen wie Jakob oder vorneweg schon Adam aus derselben Mauschelecke, aber denen sei inzwischen längst deutscher Geist eingehaucht worden, spätestens durch den deutschen Denker Jakob Böhme beziehungsweise durch den deutschen Rechner Adam Ries, von einem bedeutenden Deutschen vornamens David jedoch sei seines Wissens niemals die Rede gewesen, und, übrigens, wie heiße denn Davids Vater, Abraham vielleicht oder gleich Moische?
»Mein Vater heißt Wilhelm«, sagte David Groth.
»Oh«, sagte der Mensch namens Kasten, »o ja, Wilhelm Groth, das hätte ich mir denken sollen, da komm doch gleich ein Stück näher, mein Geliebter, da setze dich doch sofort hier in die erste Bank, näher heran zu mir, Geliebter mein, komm in meine Fürsorge und in meine Reichweite, wenn du ein Sohn von diesem Groth bist, von diesem Wilhelm Groth ein Sohn, der David heißt!«
Und die Mitschüler Davids und eigentlich auch David selbst erfuhren an diesem Tag und an vielen anderen Tagen noch, um wen es sich handelte bei diesem Wilhelm Groth, denn der Mensch, der Kasten hieß, wußte es ganz genau: Der Wilhelm Groth war ein Mitesser in der großen krummen Nase eines gewissen Blumenthal gewesen, der Lakai von diesem Itzig, dem stadtbekannten Hetzer aus der Systemzeit, der schon in den Kampfjahren den Volksgenossen Wolter einer nationalen Rede wegen bedroht und später dann, vor wenigen Wochen erst, aus unzähmbarer Wut über die gelungene Erhebung des deutschen Volkes einen Anschlag auf das Leben des Volksgenossen Wolter versucht habe, wobei er freilich umgekommen sei, denn der Volksgenosse Wolter habe gezeigt, wie ein deutscher Mann sich zu wehren wisse gegen unarische Meuchler, und vor Gericht sei das alles erwiesen worden, erwiesen worden sei dort aber auch, daß ein artentfremdetes Element, Wilhelm Groth mit Namen, versucht habe, den Hergang des Überfalls in sein Gegenteil zu verkehren und den Goldschieber Blumenthal in ein Opfer zu verwandeln, als Leumundszeuge gar sei dieser Groth vor das Gericht getreten, ein angeblicher Deutscher als Leumundszeuge für einen Juden vor ein deutsches Gericht, und mit Vornamen habe der Jude David geheißen, und wie aber nun heiße der Sproß jenes Groth, der Dienstwurm bei dem David Blumenthal gewesen sei, nun, wie heißt er?
»Steh auf, du, und sag, wie du heißt!«
»David Groth«, sagte David.
»Richtig, mein Geliebter, so heißt du denn wohl – und nun sag uns noch, was macht denn dein Vater jetzt?«
»Der arbeitet«, sagte David.
»Und ob der jetzt arbeitet!« sagte der Mensch namens Kasten.
Wilhelm Groth hatte weder allzu schlau noch gar unterwürfig sein wollen, als er seinen Sohn auf den Namen seines Brotherrn taufen ließ; er hatte an ein Geschenk gedacht und auch an Wohlwollen, aber wäre das Geschenk ausgeblieben oder kleiner ausgefallen, als es dann ausfiel, er hätte sich nicht erregt – was man sich selber dachte, war nicht immer das, was sich andere dachten, und der Herr Blumenthal hatte seine Sorgen und seine Launen wie jeder Mensch, und David, das war in jedem Falle ein schöner Name. Er war auch nicht mit ausgebreiteten Armen und aufgerissenem Hemd in das Gericht gelaufen; er wollte dort nur seine Ansicht sagen, das schien ihm nötig, denn in den Zeitungen standen andere, von denen er nichts hielt.
Natürlich begriff er, daß ihm Unrecht geschah, aber da er wußte, um wieviel mehr Unrecht dem Herrn Blumenthal geschehen war und geschah, mit seinem Tode und noch danach, raubte es ihm nicht die Besinnung und nicht die Besonnenheit, daß ihm sein Gutsagen für den toten Blumenthal wüste Beschimpfungen eintrug und einen Pritschenplatz in den Wüsteneien eines Lagers. Er konnte ein Auto fahren, und das konnten in dieser Zeit noch nicht so viele; da hielt er es aus.
Er sorgte sich auch nicht übermäßig um seine Frau; die war immer ängstlich gewesen, und wenigstens war sie so nicht überrascht, als dann das Böse kam; sie würde es auch aushalten.
Nur an den Jungen konnte er nicht ruhig denken. Der war so klein, und die Stadt, in der er jetzt gerade zur Schule gekommen war, war auch so klein, so klein, daß selbst schon ein Beinbruch Gesprächsstoff war; dem Jungen würden sie zusetzen, dessen Vater in einem fernen Steinbruch arbeitete, dieser Judengeschichte wegen. O David, Kleiner …
Aber auch David hielt es aus. Das Glück half ihm dabei, das Glück, den richtigen Feind gefunden zu haben. Denn dieser Mensch namens Kasten, sein Lehrer, war nicht nur eine Schweineseele, er war auch erleichternd dumm. Er verstand nichts von der Strategie der Bündnissysteme; er drosch nicht gezielt, sondern blindlings und also nicht nur den Schüler Groth; er gab sich Blößen, die nicht nur David sah, seine mickrige Herrschsucht war auf die Dauer unteilbar, und da er es zugleich doch nicht lassen konnte, David Großanteile seiner dämlichen Strafmandate zuzumessen, hatte er bald aus seiner Klasse ein gegnerisches Heer gemacht, ein Heer mit einem mächtig erfahrenen, weil oftmals geschlagenen Führer. Als Wilhelm Groth aus dem Lager kam, sie hatten ihn schon nach zwei Jahren als belehrt entlassen, fand er eine Frau, die recht behalten hatte mit ihrer Angst und deshalb seltsam sicherer war, und einen Jungen, um den er sich nicht zu fürchten brauchte. Der lernte gut, nicht übermäßig eifrig, aber so, daß er wenigstens dort unangreifbar war, wo man es sein konnte, wenn man selbst dafür sorgte; der war nicht sehr stark, aber schnell und findig; der war nicht gerade das, was man artig nannte, und seine Freude, den Vater wiederzusehen, war nicht überschwenglich, aber die Freude war da, still und fest, und das machte Wilhelm Groth sehr ruhig.
Er fuhr nun einen Lastwagen in einer Zementfabrik, und über Herrn Blumenthal sprach er nicht mehr; das dürfe er nicht, sagte er, wenn einer davon etwas hören wollte, denn der Herr Blumenthal habe einen Zusammenhang mit jener Tätigkeit, die er in den vergangenen zwei Jahren ausgeübt habe, und über die sich nicht zu äußern habe er sich verpflichten müssen, schriftlich, »also lassen wir das, denn wer will schon Geschichten hören, die plötzlich aufhören müssen, und wer will schon solche Geschichten erzählen? Ich nicht.«
Das hatte er auch seinem Bruder Hermann gesagt, als der einmal an einem späten Abend und in Zivil zu ihm gekommen war, verstohlen und lächerlich ängstlich für einen Militär, und später fragte sich Wilhelm Groth manchmal, ob das richtig gewesen war. Soviel Hermanns stumpfen und nie ganz passenden Worten zu entnehmen war, hatte auch er seine Schwierigkeiten gehabt; er hätte schon Oberfeldwebel sein können ohne den Prozeß und den Bruder im Steinbruch, und wenn sein Regimentskommandeur nicht gerade der Graf Rantzau gewesen wäre, hätte er längst wieder in den Klempnerladen gemußt. Aber der Graf und Oberst hatte für den Stadtverordneten Wolter, den Geschäftsführer der städtischen Abdeckerei, ebensowenig übrig gehabt wie für den jüdischen Zahngoldhändler, und Uniformen, die nicht im Reibert standen oder in Knötels Handbuch, waren zivilistischer Plunder und ihm ein Greuel; das galt auch für das braune Kostüm, in dem der Abdecker Wolter vor Gericht erschienen war. Der Graf hatte seinem Feldwebel bedeutet, daß Kontakt zu in Prozeß verwickelten Familienteilen zu meiden sei, und ihn dann wieder auf die Rekruten losgelassen.
Wenn Hermann Groth dennoch eines Abends vor seines Bruders Küchentür gestanden hatte, so nur, weil er auf seine tolpatschige Art David liebte. Den wollte er sehen, nicht so sehr seinen Bruder, diesen immer etwas spöttischen Älteren, und schon gar nicht die Schwägerin, die ihm mit ihrer ewigen Angst fast unheimlich war und ihm immer nur Vorwürfe machte, wenn er wieder etwas Feines und richtig Schönes mit David veranstaltet hatte. Oder war es etwa nicht eine richtig feine Veranstaltung gewesen, als er sich den Anderthalbjährigen unter den Mantel geknöpft hatte, auf seine 500er Triumph gestiegen und einmal rund um Ratzeburg gefahren war, einmal rum mit einem Radius von dreißig Kilometern, was dann auf zweihundert Kilometer Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Schwerin hinauslief und auf einen unverständlichen Krach mit der Schwägerin? Oder war die Veranstaltung nicht schön fein, wo sie zu einer Molkerei bei Mölln getuckert waren und dort beinahe vier Pfund Kümmelkäse gegessen hatten, David allerdings bloß ein knappes Pfund, und es hatte nichts gekostet, weil dem Molker sein Sohn Rekrut bei Hermann Groth gewesen war? Oder die Veranstaltung im Wald bei Segeberg, wo der Unteroffizier Groth seinem Neffen mal so richtig schön gezeigt hatte, wie Handgranaten bullern, wenn man sie in die Tannen wirft, war das nicht vielleicht ein feiner Spaß gewesen? Die Schwägerin hatte keine Vorstellung, was man alles veranstalten mußte, um so zwei Handgranaten beiseite zu zappzerappsen, aber er hatte es riskiert, wegen dem David, der lachte immer so schön fein.
Die Schwägerin hatte auch keine Vorstellung von dem, was er riskierte, indem er zu ihnen kam, wo der Wilhelm mal gerade so aus dem Konzertlager raus war, und nun wollte er den Bengel auch sehen, schlafen konnte der noch sein Leben lang, aber seinen Onkel Hermann hatte er wohl kaum sein Leben lang, denn der war nun mal Soldat, und irgendwann würden sie wohl was veranstalten, was mehr bullerte als die beiden Granaten im Segeberger Wald.
Er hatte David aus dem Bett geholt, ihm zwei Bilder geschenkt, eins von Immelmann und eins von Richthofen, hatte ihn gefragt, ob sie nicht mal wieder richtig feinen Kümmelkäse essen wollten, und hatte dann noch einen Augenblick unbehaglich mit Bruder und Schwägerin in der Wohnstube gesessen.
»Was haben sie denn da nun so veranstaltet in dem Konzertlager mit euch?« fragte er und sah dabei auf die Uhr auf dem Vertiko.
»Ach, du weißt ja«, sagte sein Bruder, »von morgens bis abends Konzert, und für unsereinen ist das nichts.«
Und dann sagte er seinen Spruch von den halben Geschichten auf, und Feldwebel Hermann Groth schlich sich aus dem Haus. Aber mit den Jahren, in denen Gras über das Grab von David Blumenthal wuchs und sich die Erinnerung an den Steinbruch wie Staub verlor, kam er wieder öfter, und immer brachte er David Bilder mit oder Merkblätter und sogar das eine oder andere Buch, und auf all dem Papier war von nichts anderem die Rede als von Artilleriebeobachtern, Hindenburg, Hindenburglichtern, eisernen Rationen, Chemin des Dames und Djibuti, Sappen und der Haltbarkeit von Erbswurstsuppen, soldatischen Gehbeschwerden, Großem Generalstab, Eskaladierwänden und Ehrenbezeigungen.
Wenn Onkel Hermann zu Besuch war, erfuhr man bei den Groths von den Bedingungen zur Erlangung einer Schützenschnur, von falsch gefalteten Fußlappen als Quellen verheerender Krankheiten, vom Zusammenhang zwischen Stahlhelm und Frühglatze, vom Ruhm des Regiments Rantzau und vom soldatischen Anstand, der sich zum Beispiel darin äußerte, daß eine Militärperson niemals ein einmal benutztes Schnupftuch wieder zusammenlegte.
Eigentlicher Adressat aller dieser Mitteilungen war aber immer nur David, dessen Aufmerksamkeit auch dann noch gleich groß blieb, als er sich selbst längst in die Verästelungen von Kriegs- und Heereswesen hineingearbeitet hatte und sich bei seinem Onkel für dessen umständliche Darstellung der Schwierigkeiten beim Hantieren mit der Zielkelle durch ein Referat über den Schlieffen-Plan revanchieren konnte.
Ihm barg das Gewehr 98 bald kein Geheimnis mehr, ihn interessierten eher spitze Einzelheiten, wie etwa die Herkunft der Bezeichnung Schießprügel, von der er herausgefunden hatte, daß sie von einem Vorzeit-Feuerrohr stammte, dessen Mündung mit Morgensternstacheln versehen gewesen war, was sich in Fällen von Munitionsmangel als recht praktisch erwiesen haben sollte.
Während Hermann Groths Soldatenhirn das Herkömmliche und Regelhafte magazinierte, suchte, fand und sammelte David militärische Extravaganz, war er auf Exquisites aus, auf den Sonderfall in Uniform, und da er in einem Lande aufwuchs, in dem ein beträchtlicher Teil des Lebens der Frage gewidmet war, wie sich am besten töten lasse, deckte dieses Spezialwissen allmählich ein wenig den Makel ab, den Namens-Makel, den Blumenthal-Makel, den Davids-Makel. Allmählich, ein wenig und nicht auf Dauer, denn erstens waren Menschen wie jener, der Kasten hieß, nicht rar im Lande, zweitens war ebender, der Ur- und Haupt-Kasten sozusagen, auf seine wenigen Einfälle so sehr angewiesen, daß er trotz des spürbaren Echoschwunds immer einmal wieder auf sie zurückkam, und zum dritten sorgten die Zeitläufte dafür, daß der Name David mehr als nur ein beliebiger Name blieb.
Und dafür, daß David und seine Klassenkameraden von diesem speziellen Lauf der Zeiten erfuhren, sorgte wieder jener Kasten.
»Du, Groth, Geliebter, steh auf und komm mal vor«, sagte er an einem klaren Novembermorgen, und er sagte es diesmal für ein größeres Publikum, denn das Kollegium der Schule saß zur Hospitation mit im Klassenraum, und es galt, ein Beispiel zum Thema Volk im Schrifttum zu geben, und der deutsche Mensch und Lehrer Kasten hatte dazu ein Gedicht von einem Hermann Burte ausgewählt, und David hatte es nun vorzutragen:
»›An Deutschland‹ von Hermann Burte, ›An Deutschland:
Du lagerst laß in Mitten fremder Frauen,
An einen Hünenstein gelehnt die Stirn,
Die Hände kühlen sich im Alpenfirn,
Die Füße im Germanenmeer, im grauen …‹«
»Gut, Schluß, bis dahin erst einmal. Und was bedeutet das nun?«
»Das bedeutet unser Vaterland, erdkundlich und geschichtlich gesehen«, antwortete David geläufig, denn das hatte ihnen der Lehrer Kasten nun schon mehr als einmal erklärt, und er verkniff sich wieder die Erkundigung nach dem Worte laß, denn in dieser Schule nahm man Auskünfte entgegen, forderte sie aber nicht an.
»In dieser Strophe erst erdkundlich gesehen«, sagte der Lehrer Kasten, »geschichtlich kommt erst in der nächsten Strophe. Die lautet?«
»Kein wälscher Wein kann dein Gefühl verwirrn,
Kein Wind von Osten aus versteppten Auen,
Der Wala Wissen blitzt um deine Brauen,
Dein Herz ist mächtiger als aller Hirn.«
»Gut, wieder Schluß hier. Wer oder was ist Wala?«
»Wala ist die allkundige Stabträgerin aus der Edda«, repetierte David und hörte den Geschichtslehrer Pamprin murren und sah ihn sacht den Kopf schütteln. Das gab ihm um so mehr zu denken, als Herr Pamprin nur äußerst selten zu murren pflegte, wenn David Groth, der Kenner militärhistorischer Unika, den Mund aufgetan hatte.
Aber Kasten sagte sehr laut: »Jawohl, Wala, allkundige Stabträgerin, der Wala Wissen blitzt um Deutschlands Brauen. Doch hier kommen wir vorzeitig ins Geschichtliche, zurück zum Erdkundlichen, Groth, und gleich wirst du sehen, warum ich gerade dich erkoren habe, hier vor versammelter Lehrerschaft das Schrifttumsstück ›An Deutschland‹ vorzutragen. Sage uns noch einmal die erste Strophe auf!«
David sagte sie noch einmal auf.
»Gut, gut«, sagte Kasten und freute sich, »Deutschland, unser Vaterland, lagert also nun laß zwischen allem möglichen, und was umgibt es?«
»Alles mögliche«, sagte David, »das Germanenmeer zum Beispiel.«
»Ja, ja, darin kühlt es sich seine Füße, das ist bekannt, so steht es im Gedicht, aber das Germanenmeer ist eben das Germanenmeer, also auch deutsches Land, deutsche See. Aber was ist da, wo nicht Germanenmeer ist?«
»Da sind Alpenfirn und versteppte Auen.«
»Weiter, weiter, und was ist das, das da hinter Alpenfirn und in den versteppten östlichen Auen, was ist das, zusammengezogen?«
»Zusammengezogen ist das Ausland«, sagte David.
»Wir kommen der Sache schon näher«, sagte Kasten und sah dabei zum hospitierenden Rektor hinüber, »der Sache, die wir heute im Zusammenhang mit diesem Beispiel aus dem Schrifttum behandeln wollen. – Wenn einer ins Ausland will, was muß er dann haben?« David Groth, elf Jahre alt, hatte noch nie ins Ausland gewollt. Er sagte es, und er sagte weiter, demzufolge wüßte er auch nicht, was man benötige, wenn man es wollte.
»Na«, sagte der Lehrer Kasten, »wir kommen schon noch drauf. Nun erst einmal die anderen: Wer weiß es?«
Der Klasse war das Problem neu, und sie verlegte sich aufs Raten. Jürgen Clasen vermutete, ein Koffer sei in einem solchen Falle das nötigste; Heinz-Georg, der Sohn von Schlachtermeister Kallmeyer, hielt Geld für die wichtigste Voraussetzung, und Fritze Scheel, der weniger in dieser als in der deutschen Märchen- und Sagenwelt zu Hause war, hatte einen Glanz in seinen sonst immer etwas blöden Augen, als er fest verkündete, wer eine solche Reise wagen wollte, bedürfe vor allem, der Hadersucht fremder Recken wegen, eines soliden beidseitig geschliffenen Schwertes.
Der Lehrer Kasten ließ das alles mehr oder minder gelten, gab aber dann bekannt, an erster Stelle in der Bedarfsliste habe ein Reisepapier zu stehen, ein sogenannter Auslandspaß.
»Denn sonst«, sagte er, »könnte ja jeder gehen, wann und wohin er will, und keiner weiß, warum. Das Warum ist von allererster Bedeutung, wenn einer ins Ausland will. Wenn zum Beispiel einer nach Südamerika will, um dem Deutschtum im Ausland den Rücken zu stärken, eine Aufgabe, an der auch ihr euch beteiligt, wenn ihr allmonatlich die schönen blauen Kerzen kauft, dann ist das ein erstrangiger Grund, und dann kann man reisen. Aber nun gibt es auch Zeitgenossen, die unserem Vaterland nicht den Rücken stärken, sondern ihm denselben kehren möchten, Emigranten nennt man die, und das sind vorzüglich Juden. Aber seit gestern ist dem Juden da ein Riegel vorgeschoben, denn seit gestern müssen die Juden ihren Paß hergeben, und damit sich keiner von ihnen hinter einem harmlosen Namen verbergen kann, manche Juden haben sich nämlich im vorigen Jahrhundert harmlose Namen gekauft, man sollte es nicht für möglich halten, aber das ging damals, ein Jude konnte hingehen und sagen, er möchte jetzt nicht mehr Itzig Mosse heißen, er möchte jetzt Meyer heißen, dann zahlte er und lief fortan in der deutschen Maske Meyer herum, allerdings waren manche Juden zu geizig, um sich einen Namen wie Meyer zu kaufen, der sehr teuer war, und dann kauften sie sich billigere, aber dafür auch auffälligere. Die ausgefallensten Namen waren die billigsten, zum Beispiel Treppengeländer, der war für ein paar Taler zu haben, und deshalb empfiehlt es sich, Leute mit ausgefallenen Namen genau anzusehen, es könnte ein Jude dahinterstecken. Aber seit gestern ist das einfacher, seit gestern steht in jedem Judenpaß, mit harmlosem Namen oder mit Treppengeländer, ein zusätzlicher Vorname, und der lautet bei den Judendamen Sara und bei den Judenherren Israel, und nun soll mal so einer kommen und sagen, er möchte nur einfach so, wegen Reiselust, in die versteppten Auen oder hinter den Gletscherfirn verduften, dann werden wir ihm schon eine Fahrkarte verpassen, und er wird sich wundern, wo er landet.«
Der Mensch namens Kasten hatte seinen Vortrag beendet und schien plötzlich zu seiner großen Überraschung David zu gewahren.
»Nanu«, rief er, »du stehst ja immer noch da, ja warum denn gleich? Laß mich überlegen: Volk, Schrifttum, Deutschtum, Ausland, Auslandspaß, Paßvermerk Israel, David – nun hab ich’s wieder: Du hast Glück gehabt, Groth, dein Glück ist, daß die Volksgenossen auf Israel verfallen sind, als sie einen für die Judenart bezeichnenden Zusatznamen ausgesucht haben; hast du ein Glück gehabt, daß sie nicht David genommen haben, dann wärest du jetzt aber schön in der Klemme, obwohl, so bist du es, jedenfalls, was mich anlangt, auch ein bißchen, denn, weißt du, in mir sträubt sich etwas, wenn ich höre, einer heißt David, aber du weißt es natürlich, denn wir kennen uns ja nun schon länger, wie lange kennen wir uns denn, sag du es mal!«
»Wir kennen uns schon fünfeinhalb Jahre, Herr Kasten«, sagte David Groth, und es schien ihm ungeheuerlich lange zu sein, aber dann dachte er: Wenn das schon so lange ist, und dem fällt nie etwas anderes ein als mein Name, und ich hab den Namen immer noch und muß nicht mehr heulen, wenn der mir damit kommt, dann hat er die Sache verloren, oder zumindest ist es unentschieden wie im Schach, wo es auch unentschieden ist, wenn einer immer wieder den gleichen Zug macht, auf den der andere immer wieder mit dem gleichen Zug antwortet, aber wenn es zwischen Lehrer und Schüler ist, dann ist es mehr als unentschieden, dann hab ich gewonnen.
Andere gewannen nicht gegen den deutschen Lehrer Kasten, andere verloren, und einer verlor gar sein Leben, und er verlor es auf eine Weise, die entsetzlich niederträchtig war, weil sie nicht wenige Bürger der schönen Stadt Ratzeburg zu unbändigem Lachen brachte. Der so zu Tode kam, hieß Hirsch Ascher.
Hirsch Ascher war ein Plutokrat, denn er besaß ein Warenhaus in der Sechstausend-Seelen-Stadt Ratzeburg, und er war ein abgefeimter Feigling, denn anstatt in seinem Bette zu liegen, als man ihm in der Nacht vom neunten zum zehnten November im Jahr achtunddreißig die Haustür eintrat, saß er im Zug von Dortmund herauf und tat so, als wüßte er nicht, daß er zweiter Klasse durch die Kristallnacht fuhr. Und Hirsch Ascher war gierig und geizig, denn nachdem ihm am Morgen der Gepäckträger Böhker auf dem Bahnhof zugeflüstert hatte, es sei da am Abend etwas mit dem Ascherschen Warenhaus geschehen, ging er sofort in sein Geschäft, um seine Verluste zu zählen.
Dort fand ihn der Sturmführer Kasten, und dort hatte der Sturmführer Kasten einen seiner seltenen Einfälle. Er ließ den Ascher in die zweite Etage seines Warenhäuschens bringen, in die Abteilung Haushaltswaren, er ließ ihn Aufstellung nehmen in der Unterabteilung Sanitäre Ausstattung, er hieß ihn sich mit dem Rücken gegen eine aufgerichtete Badewanne stellen, die Arme ausgebreitet wie der von den Juden gemordete Christ, dann befahl der Sturmführer und Lehrer und Mensch Kasten seine Männer neben eine sauber geschichtete Pyramide aus Nachtgeschirren, und dann schrie der Führer Kasten: »Feuer frei!«
Man muß es sagen, damit die Sache nicht allzu blutrünstig klingt: Viele der emaillierten Blechtöpfe flogen an Hirsch Ascher vorbei, denn die Schützen konnten vor Lachen kaum zielen, und selbst die Treffer waren meist harmlos, denn so ein Topf ist ein vor allem rundes Ding, und daß eines davon dem Ascher mit dem Henkel einen Schneidezahn ausschlug, war beinahe blinder Zufall, über den es allerdings zweimal Streit gegeben hat, einmal noch am zehnten November achtunddreißig, weil sämtliche elf Werfer den Klasseschuß getan haben wollten, und zum zweitenmal dann im Herbst fünfundvierzig, als keiner der fünf über den Krieg gekommenen Topfschleuderer sich auch nur zu erinnern vermochte, jemals an so einem Vorkommnis beteiligt gewesen zu sein – die Sache wäre ohnedies als eher humoristischer Bagatellfall nie wieder zur Sprache gekommen, hätte nicht der Sturmführer Kasten im Kaufhaus Ascher einen Anflug von nordischer List gehabt: Er entsann sich des stabilisierenden Kreiselprinzips und schleuderte seine Töpfe fortan, indem er sie mit Daumen und Zeigefinger am Rand hielt und sie dann aus federndem Handgelenk abschoß. Zwar verhinderte der Henkel das Zustandekommen ballistisch einwandfreier Bahnen, aber immerhin, die flatternd kreiselnden Blechgefäße trafen nach einiger Übung schon eher und wirksamer ins Ziel, und mit einem traf der Sturmführer Kasten den Warenhausbesitzer Ascher zwischen die Augen.
Da fiel der Warenhausbesitzer Ascher um und lag blutend zwischen seinen sauberen Nachtgeschirren, was aber nicht heißt, daß er nun auch hätte sterben müssen; sterben mußte er nur, weil ihm niemand rechtzeitig die Stirnhaut nähte, in Ratzeburg nicht und in Neuengamme schon gar nicht.
Als der Lehrer Kasten am Tag nach dem zehnten November wieder in seine Klasse kam, hatte sich die Geschichte von dem Juden, den sie mit Pißpötten bombardiert hatten, schon mehrmals herumgesprochen, und in der Schule sangen sie mit leichter und mehrfacher Verdrehung des Sachverhaltes, der zu solchem Gesang den Anlaß geliefert hatte: Abraham und Isaak schmissen sich mit Beefsteakhack!, und David Groth sang nur einmal mit, aber dann nicht mehr, und er schwieg nicht nur, weil er den Lehrer Kasten nicht leiden konnte.
Den Geschichtslehrer Pamprin dagegen mochte er ganz gern. Der war zwar keine Leuchte, und lieben konnte man ihn schon deshalb nicht, weil er allzu offensichtlich ein Schwächling war, ein allezeit ablenkbarer Mann, dem man nur ein militärhistorisches Faktum in den Unterrichtsweg zu legen brauchte, ein geharnischtes Stichwort, und schon hatte man ihn abseits vom Aufgegebenen, aber er war wenigstens kein Knochenbrecher und Heimtücker von der Kasten-Art. Und einmal war er sogar auf seine zwergische Weise ein bißchen tapfer. Das war zwei Tage nach jener Hospitation, bei der es um das Volk im Schrifttum und wieder einmal um Davids Namen gegangen war, und damit nur einen Tag nach jenem, an dem der Kaufhausbesitzer Hirsch Ascher in der Unterabteilung Sanitäre Anlagen zu sterben begonnen hatte.
Da nahm der Geschichtslehrer Pamprin den Schüler Groth beiseite und sagte: »Weil du dich doch so für Besonderheiten interessierst: Ich habe gestern in den Stadtannalen geblättert und bin auf die Liste der Ehrenbürger gestoßen. Liste ist schön gesagt; sie besteht aus drei Namen, und zwar sind es rückwärts gesehen folgende: Johannes Spehr; der ist neunzehnhundertzwölf Ehrenbürger geworden, vor allem wohl, weil er den Bahnbau nach Thurow in Gang gesetzt hat, und außerdem hat er auch vierzigtausend Mark für unser Krankenhaus gestiftet. Dann, vor ihm, achtzehnhundertneunzig, war es der Altreichskanzler Otto von Bismarck, das bedurfte ja weiter keiner Erklärung. Ach so, ja, und vor Bismarck, also als erster, nämlich schon achtzehnsiebenundsiebzig, ist der Stadtsekretär Richter Ehrenbürger geworden; der hatte auch den Roten-Adler-Orden, eine sehr preußische Auszeichnung. Ja, der war der erste von den dreien, von denen einer Bismarck war. Ach so, ja, und dieser unser erster Ehrenbürger, der Stadtsekretär Richter, fünfzig Jahre lang ist er das gewesen, der hieß übrigens wie du mit Vornamen, David Joachim Jakob Richter; das ist ganz hübsch, nicht wahr? – So, nun lauf, die Pause ist gleich um. – Ach so, ja, und falls du mal drauf kommen solltest: Du brauchst es nicht herumzuposaunen, woher du es weißt, sonst heißt es noch, ich erteile dir Nachhilfeunterricht, und den brauchst du ja nun nicht. Nun lauf!«
Daß David es seinem Vater sagte, zählte nicht unter Herumposaunen, und Wilhelm Groth hielt die Mitteilung auch für keines Posaunenstoßes wert.
»Das ist nett«, sagte er, »und irgendwann kannst du es dem Kasten mal stecken, aber keinen Mucks über Herrn Pamprin, und daran, daß du nach Herrn Blumenthal heißt, ändert es auch nichts. Ach, ist das eine beschissene Zeit, wo sie einem solche Lügen anbieten.«
David hatte schon lange gelernt, derartigen Äußerungen seines Vaters nicht weiter nachzufragen, aber ihnen war es zu danken, daß er nicht immer sang, was die anderen sangen, nicht immer tat, was die anderen taten, nicht immer ganz so war, wie die anderen waren. Diese kurzen und seltenen Bemerkungen seines Vaters, die bitter im Ton waren und eher schartig als scharf durch die scheinbare Ordnung der Dinge und Begriffe fuhren, machten aus dem jungen David Groth keinen Erwachsenen, was überdies nichts geheißen hätte, denn erwachsen waren auch jener Lehrermensch, der Kasten hieß, und auch der Feldwebel Groth und auch der Blumenthal-Mörder Wolter und all die anderen Leute, die es außerordentlich komisch fanden, wenn elf Männer mit Nachttöpfen nach einem älteren Juden warfen – die spärlichen, aber sperrigen Worte seines Vaters zu solchen Vorgängen hinderten David nur daran, allem und jedem sofort zu trauen, halfen ihm lediglich, manchmal noch einmal hinzuhören, und zwangen ihn oft und gerade dann, wenn es am wenigsten angebracht schien, zu der merkwürdig mühevollen und zugleich befreienden Anstrengung, die Denken heißt.
Und weder bittere Worte noch böses Geschehen änderten etwas daran, daß David Groth in dieser Zeit, die in späteren Aufsätzen immer wieder als die braune, die finstere, die blutige bezeichnet werden sollte, ein Junge war, zuerst ein sechsjähriges Kind, dann ein Bengel von elf und kurz vor ihrem Ende mit sechzehn immer noch ein neugieriger, frecher und lustiger grüner Schlaks, der zwar an Greueln und Scheueln mehr gehört und gesehen haben mochte als Gleichaltrige in früheren oder späteren Jahren, dem aber dennoch dieses Stück Lebenslauf vor allem gefüllt war mit Weihnachten, Ostern und Pfingsten und Geburtstagen, lauteren und stillen, aber Geburts- und Festtagen; ein Lebenslauf allenfalls über die Hürden der Herbst- und Osterzeugnisse, Hindernisse kaum zu nennen, ein im ganzen fröhlicher Lauf, dessen Schwierigkeiten sich rasch vergaßen: Ziegenpeter und Herr Kasten, Schlüsselbeinbruch und Gelegenheitsprügel, Gelbsucht und lange kein Fahrrad, wo andere längst eins hatten, Konfirmationsunterricht und das Wort KZ, geflüstert oder gehässig gebrüllt, die großen und die kleinen Verzichte, Verluste und Ungerechtigkeiten, die Schmerzen auf der Haut und im Herzen, die Narben auf den Knien und im Gedächtnis, die eigenen Tränen und die der Mutter, alles das, was Schiet war, alles das konnte sich damals, als es geschah, und noch weniger später, in der Erinnerung, gegen das behaupten, was, neben der Liebe vielleicht, die zwingendste Stärke hat: gegen die Jugend.
Was ist da der Tod? Der Tod, das ist, wenn man von einem absieht, auf den die Rede noch kommt, ein schwarzer Wagen, an den Ecken beschnitzt wie die vorderen Kirchenstühle; ein Kutscher, der, wenn er weniger betrunken ist, gar nichts sagt und, wenn er mehr als die üblichen drei genommen hat, die ganze Gasse mit vorsichtigem Gebrüll auffordert, hier nun bitte mal rein gar nichts zu sagen, denn hier werde ein Hingeewigter befördert, und Stille nun, verflucht noch mal; der Tod trägt weiße Astern und kleidet Fischermeister Schliecks in einen Zylinderhut, der immer eine Delle hat; der Tod bringt fremde Leute in die Straße, aus Lübeck und Schwerin sogar, und als es Frau Sagebiehl hingeewigt hatte, kam ein Professor aus Heidelberg, der Neffe, und wegen der Erbschaft soll er sehr gestritten haben; der Tod ist vor allem eine Alterserscheinung, und wenn er zu Kindern kommt, er heißt dann meistens Diphtherie, ist es in der Schule sehr komisch, so komisch still für eine Stunde. Der Tod ist etwas anderes, ja; er ist angeblich überhaupt nichts zum Lachen, und deshalb ist der Tod, was man aber nicht sagen darf, vor allem ein bißchen langweilig. Das ist der Tod.
Krankheit ist am Ende noch langweiliger. Zuerst nicht. Zuerst, wenn sie neu ist, gucken einen alle an und sehen alle nasenlang nach einem und fragen einen immerfort, und man ist wichtig. Aber wehe, man ist über den Berg, dann ist man gleich hinter allen Bergen, und die Mutter ist andauernd bei der Wäsche, und das Lesen hat jetzt plötzlich unbegreifliche Schwierigkeiten, ausgerechnet jetzt, wo man in Zeit erstickt, und draußen hört man Heinz Ahlers: Ich führe Krieg mit Engelland! schreien, aber mindestens drei Tage dauert es noch, bis man selber wieder schreien kann: Ich führe Krieg mit …, nun, das kommt ganz darauf an, wer mitspielt und wer Italien ist oder Rußland oder Amerika; wenn Heinz Ahlers Italien ist, dann führt man, solange es geht, Krieg gegen Italien, und man nennt Heinz Ahlers dann Makkaronifresser, Spaghettischeißer, und wenn man ihm ein Stück Land abgenommen hat, ruft man Ratzikatzimausifalli und weiß zwar nicht, was es bedeutet, aber es ärgert Heinz Ahlers, das soll es auch, denn der hat so lange Arme, und jetzt hat er so dicke Hände, die fühlen sich feucht an, und, igitt, was der für einen Kopf hat, der sieht ja aus wie der wilde Wassermann in der Burg wohl überm See, igitt, wer singt denn hier, hier singt einer, ich führe Krieg mit Lilofee, nein, nicht mit Lilofee, das ist doch Grete Milschewski, warum ist das Grete Milschewski, und warum singt die hier? Dann kommt die Mutter und sagt: Warum singst du denn? Nun schlaf mal, du hast wohl immer noch Fieber, und da willst du raus auf die Straße? Hah! Nun schlaf, und man schläft, und das ist erst langweilig, igitt!
Und fast jeder Kummer verwächst sich in dieser Zeit, schmerzt wie scharfer Hagel und schmilzt wie der. Kummer ist gefährlich und besiegbar wie ein Gänserich, gefährlich und besiegbar wie der Lehrer Kasten, ist gefährlich und ist besiegbar. Wenn man älter wird, scheint es schwieriger zu werden, ihn zu besiegen; die Zeit, so sieht es aus, scheint irgendwann zu ihm überzulaufen; je langsamer man wächst, um so länger dehnt sich der Kummer, und irgendwann dann wechselt er auch seinen Namen, heißt von nun an Sorge, und wer Sorgen hat, der ist erwachsen. Aber bis dahin ist es weit, und Kummer von gestern, wo ist heute dein Stachel, Kummer, wo bleibt dein Sieg? Wie willst du siegen gegen die Heerscharen der frühen Freuden; wer hört dein Knurren im Lachen auf dem gefrorenen Küchensee, wer vernimmt es im Fuchswald unterm Indianerschrei, wer soll ein Ohr dafür haben, wenn der Königsdamm unterm Wettlauf zittert? Wir laufen dir davon, Kummer, auf Schlittschuhen bis zur Farchauer Mühle, barfuß über die Stoppelfelder bei Ziethen, über die Chaussee nach Mölln zu Eulenspiegel hin; wir schütten dich zu mit Eicheln, Bucheckern und Kastanien; wir fliegen dir fort mit Drachen und Malayern im Wind, der aus Mecklenburg kommt; wir haben kein Auge für dich, wenn wir auf den Grund der Wakenitz tauchen oder siebenmal die Sonne sehen auf sieben lübischen Türmen; und wenn wir uns unterm Löwenbild Heinrichs verstecken oder hinter dem merkwürdigen Stein, der Singender Klosterschüler heißt und schon deshalb merkwürdig ist, weil er ein Grabstein ist, gemacht von einem, der selber unter ihm begraben liegt und berühmt sein soll, Barlach heißt er, und sein Vater ist hier Arzt gewesen – wenn wir uns dort verstecken oder unter den Pfählen der alten Badeanstalt oder hinter den Güterschuppen der Büchener Eisenbahn, dann findet uns keiner, und der Kummer schon lange nicht.
Die Geschichte wußte es später anders, aber für David Groth waren die Jahre zwischen dem Brand des Reichstags und dem Tag, an dem der zerschossenen Kuppel eine weithergekommene Fahne aufgesteckt wurde, zumindest über die weitaus größere Länge der Bahn gute, weil junge Jahre.
Gewiß, sicher, freilich, eigentlich dürfte von Glück und Freuden nicht die Rede sein, wenn von einer Zeit gesprochen wird, in der man den Mord industrialisierte und ihn abrechnete wie eine beliebige Tagesproduktion.
Sicher, freilich, gewiß, eigentlich dürfte die Erinnerung nicht so selbstsüchtig sein und sich den Spaß aus Tagen bewahren, an denen andere nicht einmal das Leben behielten.
Freilich, gewiß und sicher, eigentlich war Lachen nicht erlaubt, wo ungezählt vielen selbst das Weinen erstickt worden ist. Und dennoch läuft Jugend auf all das hinaus, auf Spaß, Lachen, Freuden und Glück, und wenn von David Groths Namensmalheur und von jenem beschränkten Teufel, der Kasten hieß und Lehrer war, und von Herrn Blumenthals Tod und dem des Hirsch Ascher und bald auch noch vom Sterben des Wilhelm Groth, der Davids Vater, gewesen ist, wenn davon hier so beinah gewaltsam ausführlich erzählt wird, so geschieht das zwar insoweit mit Recht, als David am Ende nicht wäre, was er ist, wären in seinen Anfängen nicht so viele blutrünstige Schäbigkeiten gewesen, aber zugleich muß zugegeben werden: Der Bericht tut sich hier etwas schwer, hebt unter Anstrengung hervor, was ohne sie nicht so rasch zutage träte, hätte David Groth selbst das Wort und sollte er selber sagen, was man so sagt, wenn man erst einmal angefangen hat: Meine Jugend, die war so … Hier zeigt sich, wie wichtig für einen, der Antworten hören will, wie wichtig für den es ist, richtig zu fragen. Fragt er: Du, sag mal, wie war eigentlich so deine Jugend? und setzt er womöglich noch hinzu: Gab’s da auch Spaß bei dir?, dann darf er sich nicht wundern, wenn der andere, in diesem Falle David Groth, ihm antwortet:
Aber sicher, Mann, was glaubst denn du, wo ich aufgewachsen bin, in der Hungersteppe, in einem Pestgebiet am Ganges, unter schlesischen Webern, schwarz in Weiß-Afrika? Ich komm doch aus Ratzeburg, Herzogtum Lauenburg, Schleswig-Holstein, Deutschlands noch grünem Norden, Ratzeburg am Großen See, an der alten Salzstraße von Lüneburg nach Lübeck, nahe der holsteinischen Schweiz, nahe der lustigen Kreidehöhle von Segeberg, nahe Eulenspiegels Mölln, in Elbe- und Ostseenähe, in einem Wind, der wechselweise nach Tomaten und Gurken riecht und nach reifem Korn, nach geräuchertem Schinken und Räucheraal, nach Marzipan und Schwartauer Konfitüre und nach dem sonnigen Kartoffelacker Mecklenburg und nach dem Teer an den Reusenpfählen im Küchensee. Ich komme doch nicht von der Ruhr oder aus einem Slum von Chikago, ich komme doch aus Ratzeburg, Inselstadt, Stadt im alten Palobenland, Stiftung des Slawenfürsten Ratibor, Grafschaft Heinrichs des Löwen, von Kriegen kaum berührt, nur einmal, da allerdings gründlich, zusammengeschossen, von einem der Dänenkönige, die nicht immer so friedlich und lustig Rad gefahren sind, aber dann wiederaufgebaut, so solide und bedächtig, daß selbst die Einweihung eines neuen Finanzhauses einen Festtag hergegeben hat, Garnisonstadt zwar, aber die Soldaten waren fünfzig Jahre lang hübsche und freche Elite, Jäger vom 9. Bataillon, und ihre Marschmusik ging nach der Melodie O Tannebaum, o Tannebaum, und später, zu meiner Zeit, als in der Belowkaserne nur plane Infanterie saß, hat die auch niemanden gestört, mich schon gar nicht, denn ich hatte meinen Onkel Hermann dort, und der war eine beschränkte Seele, aber Seele eben auch, und gelegentlich erzähle ich mal von dem.
Aber sonst, Mann, war Ratzeburg nicht so furchtbar Preußen, oder wenn schon Preußen, dann trotz der Platzkonzerte und Schützenfeste mehr ein schlurfendes Preußen; ein Kleinbürger-Preußen eher als ein Marschall- und Tagelöhner-Preußen, ein Idyll mit Fliegenfängern, Sesselschonern und grünen Sonnenrouleaus hinter den Scheiben der beiden Papiergeschäfte; eine Stadt, in der man wer war, wenn man bei der Sparkasse arbeitete oder noch mit dem Bruder des Feldmarschalls von Moltke gemeinsam im ersten Baß der Ratzeburger Liedertafel gesungen hatte.
Man war König beinahe, wenn man Schützenkönig war, und das wieder wurde man weniger durch Schießkunst als durch vielgeartete Gunst, oder anders und deutlicher gesagt: Man wurde sicher Schützenkönig, wenn man König oder ähnlich Feines war; und wenn es auch nicht die hohen Herren selber waren, die den Vogel von der Stange holten, das besorgte der Landdroste oder der Schützenkapitän, so legte sich doch von allerhöchst dero Beschiß ein Glanz über die Stadt; und das war dann auch schon alles an Glanz, zu mehr hat es in neunhundert Jahren Ortsgeschichte nicht gereicht; erstklassig wurde hier nichts, weder im Guten noch im Bösen.
Und was es an Zelebritäten in Ratzeburg gibt, das ist entweder nicht aus Ratzeburg, oder es gilt außerhalb seiner schon nicht mehr so sehr als Zelebrität. Zwar ist die Kirche Heinrichs des Löwen einer der ältesten Backsteindome Norddeutschlands, aber eben nur einer der ältesten und eben nur Norddeutschlands. Zwar gab es am Ort eine Schnitger-Orgel, aber erstens gibt es sie nicht mehr, zweitens handelte es sich nur um die Restaurierung eines älteren Instrumentes durch den Meister, und drittens hat der die Arbeiten von seinem Gehilfen Hantelmann besorgen lassen. Zwar steht im Domfriedhof ein großartiges Löwenbildnis, doch leider ist es nur ein Abguß vom Braunschweiger Original. Zwar liegt Barlach in der Vorstadt begraben, aber geboren ist er in Wedel. Zwar, geboren ist hier Jacob Friedrich Ludwig Falke, und der hat eine Geschichte des deutschen Kunstgewerbes geschrieben, aber wen interessiert schon die Geschichte des deutschen Kunstgewerbes, und wer also ist Jacob Friedrich Ludwig Falke? Und so weiter mit zwar und aber, und so war Ratzeburg, nicht weiter bemerkenswert, kaum bemerkt, weil in keiner Hinsicht merkwürdig genug. Nicht im Guten, nicht im Bösen. Im Bösen eben auch nicht. Da wurde nicht mehr gehungert, geprügelt, gestohlen oder gar gemordet als anderswo. Man starb im Bett, an Altersschwäche oder Kindsfieber, man starb normal bei uns in Ratzeburg. Nur selten half jemand sich selber hinüber; ich weiß nur von dreien: da war Fidel-Fritz, der sich an einer Buche erhängte, als sie ihm draufgekommen waren, daß er so blind gar nicht war; da war ein Mädchen, das Heike hieß und sich im Wald am Georgsberg den Puls aufschnitt, an derselben Stelle, an der man sie ein paar Wochen davor noch gesehen hatte, sehr lustig damals noch und sehr lebendig unter einem Kradschützen vom dritten Bataillon, und wenn Fidel-Fritz sich aufgehängt hat, weil niemand mehr ihm sein Geigenspiel honorieren wollte, denn er war ja gar nicht blind, so hat sich das Mädchen Heike aufgeschlitzt, weil es das Lied nicht mehr hören konnte, das rasch aufgekommene Volkslied – o nie versiegende deutsche Sangeslust, o nie versagende deutsche Reimeskunst! – vom schönen Mädchen Heike, das sich unter einer morschen Eicke von einem strammen Schützen – doch hier macht ihr nur selber weiter!
Der dritte war Wilhelm Groth, mein Vater, aber von dem erzähle ich später, und wenn ich ihn und meinen Namenspaten David Blumenthal und den Hirsch Ascher, den sie mit Nachttöpfen erschlagen haben, einmal auslasse, dann war Ratzeburg ein ruhiger Ort, in dem es sich leben ließ. Man mußte sich nur ruhig verhalten, und lange Zeit konnte man hier sogar Jude sein.
Und was meinem Vater dort passiert ist, hätte ihm auch irgendwo anders, irgendwo anders in Deutschland, passieren können.
Er hätte auch in Oldenburg bei einem Herrn Blumenthal arbeiten können. Er hätte auch in Friedrichshafen für einen Herrn Blumenthal vor Gericht treten können. Er hätte sich auch von Bitterfeld aus ins Lager bringen lassen können. Er hätte auch in Oldesloe einen Zementwagen fahren können. Er hätte auch in Schandau Soldat werden können. Er hätte auch in Weißenfels sterben können.
Daß er dennoch dies alles in Ratzeburg tat, hat nichts mit Ratzeburg zu tun, aber meine Erinnerung hat damit zu tun, meine Erinnerung an ihn und an Ratzeburg.
Das ist schon seltsam: Zuerst, wenn ich nach ihr gefragt werde, sehe ich die Stadt voll Licht und fröhlichem Wind, zuerst rieche ich die Reusen und die Kartoffelfeuer, höre den Wakenitzdampfer, der ein Motorboot war, und höre die Marktfrauen und den Karren des Eismanns. Dann kommen mir Nebenmenschen vor die Augen, die kleinen Freunde und die großen Feinde, mein Onkel Hermann; Herr Pamprin; Kasten, das Miststück; Fidel-Fritz und Ritzen-Heike und Fischermeister Schliecks mit der Delle im Zylinder, und immer noch mag ich die Stadt und sage, sie war kein Hungernest und kein Mordpfuhl, und wie ihr Glanz war auch ihr Elend nur zweiter Klasse. Es hat ihr zu beidem an Entschiedenheit gefehlt.
Dann aber komme ich zu meinem Vater, und da muß ich sagen: Dem hat es am Ende oder zum Ende nicht an Entschiedenheit gefehlt, der hat sich erschossen, in voller Uniform, zwischen den Buchen im Fuchswald, unter einem Galgen, der ihn gar nichts anging, und deshalb bin ich fort aus Ratzeburg.
Deshalb ist David Groth fort aus Ratzeburg, als er sechzehn war. Als David Groth sechzehn war und Wilhelm Groth fünfundvierzig, haben beide einen Schlußstrich unter ihren Teil an der Stadt gezogen, der eine für immer und der andere für lange, und beide hatten dafür beinah denselben Grund.
Wer lacht da, wenn es heißt, in Namen schon steckten Zeichen, gute oder böse? Wer lacht, wenn er hört, Wilhelm Groth könnte heute Rentner sein und David Groth brauchte wahrscheinlich nicht Minister zu werden, wenn ein bestimmter Zahnersatzdepotinhaber nicht David Blumenthal, sondern, sagen wir, Franz oder Friedrich mit Vornamen und mit Vatersnamen nichts mit -thal oder -baum oder -heimer am Ende geheißen hätte?
Da gibt es nichts zu lachen, denn dann hätte David Franz oder Friedrich geheißen, hätte womöglich aufs Gymnasium gedurft und gar auf die hohe Schule, wäre zum Ende des Krieges noch Fähnrich geworden oder auch Leutnant, wäre kaum als Bote zur Neuen Berliner Rundschau gegangen, hätte Ratzeburg nicht meiden müssen und meiden wollen, wäre jetzt Zahnarzt dort oder Chef einer Starfighter-Staffel oder Bootsverleiher auf dem Bodensee oder Pressesprecher der IG Metall, brauchte nicht einzutreten in die Regierung der DDR, wüßte vielleicht nicht einmal, daß es so etwas gibt, und das wäre doch ein Leben!
Und Wilhelm Groth hätte, bei einigem Glück, sein Leben noch. Aber alledem ist nicht so. Wilhelm Groth hat seinen Sohn auf den Namen David taufen lassen, hat dabei weniger an Goliath gedacht als an gut Wetter und ein nettes Taufgeschenk, und dann ist er ein bißchen zu lange dankbar gewesen und ein bißchen zu aufgebracht über den Tod im Küchenbach und ein bißchen zu uneinsichtig im Lager und am Ende ein bißchen zu konsequent.
Und was hat er nun davon?