Was wird man, wenn der Großvater Fotograf war, der Vater Fotograf ist und man selber auch etwas Anständiges und Solides werden soll? Was wird man, wenn man drei Geschwister hat, von denen dreie Fotografen sind? Was wird man, wenn man in Weißleben wohnt und einen alle die Tochter vom Fotografen nennen?
Dann wird man Fotografin. Dann ist man es schon, bevor man es geworden ist.
Macht das Spaß? Es ist immer ein Spiel gewesen und hat also Spaß gemacht. Hört der auf, wenn man muß, was man durfte?
Franziska sagt nein. Seit dem ersten Lehrtag war sie nicht mehr nur mit, sondern dabei. Das machte den ganzen Unterschied, aber es gab einen neuen Spaß: Du hilfst wohl dem Vater? – Ich bin sein Lehrling!
Wen und was fotografiert man in Weißleben in der Börde? Der Ort hat um neunzehnhundertfünfzig an die fünftausend Einwohner, von denen etwa dreitausendzweihundert bereits einen Personalausweis besitzen, also nur noch selten ein Paßbild benötigen. Ungefähr ein Drittel von ihnen steht im Rentenalter; da braucht man keinen Betriebsausweis und tritt auch kaum noch einer Organisation bei, die ihre Mitglieder mit Dokumenten versieht. Die arbeitsfähige Bevölkerung – Hausfrauen, die auch ohne Ausweisschwenken an den Abwasch dürfen, bereits abgezogen – besteht aus zirka zwölfhundert Werktätigen, aber von denen sind nur zweihundert in solchen Werken tätig, die zur Werktat nur einlassen, wer sein gestempeltes Konterfei vorzuweisen vermag; auf die Äcker um Weißleben und in die Backstuben und in den Hutladen von Weißleben kommt man auch ohne. Und nur dreihundert sind in Parteien oder gesellschaftlichen Gesellschaften, die Freiwillige Feuerwehr eingeschlossen, welche auf mitgeführte Ablichtungen ihrer Genossen, Kollegen, Freunde und Bundesfreundinnen Wert legen. Die Bildverbraucherspitzenposition hält der Lehrer Jaksch; der ist in deren Organisationen sechs, aber das ist mit einem Dutzend Abzügen von einer Aufnahme auch erledigt und läßt ihm noch eine stattliche Reserve für eventuelle Neugründungen und den dann freilich unerläßlichen Beitritt, denn der Lehrer Jaksch ist ein sehr bewußter Mensch.
Aber weder von ihm noch von den anderen in unterschiedlichen Graden bewußten Menschen der Ortschaft Weißleben kann die Familie des Fotografen Grewe leben, sie lebt eher von den unbewußten Menschen, oder besser: Sie lebt weniger vom Neuen und neuen Bewußtsein als mehr vom Alten und alten Bewußtsein. Sie lebt vor allem von den Kleinst- und Kleinkindern, die weder das eine noch das andere haben, und von den Bräuchen, die mehr geselliger als gesellschaftlicher Natur sind. Sie lebt von Kindstaufen und Einschulungen und auch noch ganz gut von Konfirmationen und vom auch in Weißleben ungebrochenen Glauben der Eltern, daß ihre Kinder die schönsten sind.
Als Franziska Lehrling wird, gibt es in Weißleben fast zweitausend Mitbürger, die jünger sind als sie. Die Geburtenzahl hat sich beinahe verdoppelt seit dem Jahre sechsundvierzig, da der Vater von den Amerikanern heimkam und den Laden wieder öffnete. Auch die anderen Männer, die wiederkommen konnten, sind wiedergekommen, und Wiederkommen hat da einen doppelten Reim auf Niederkommen. Und andere sind gekommen, die vorher nicht da waren; sind aus Eydtkuhnen nach Weißleben gekommen und aus Stargard auch und auch aus Liegnitz in Schlesien und sind zuerst eng aneinandergekrochen, weil sie in der Fremde waren, und als sie nicht mehr in der Fremde waren, haben sie es sich gemütlich gemacht und haben mit ihren Kindern ein Recht auf Heimat angemeldet, ein Recht auf die Heimat Weißleben in der Börde.
Andere zwar sind gegangen, nach Westen, der von Weißleben aus vierzig Kilometer nach Westen liegt und dort zuerst Helmstedt heißt; sie sind zu Fuß dorthin gekommen oder mit dem Rad oder mit der Bahn über Magdeburg oder später mit dem Flugzeug nach einem Umweg über Berlin-West und durch ein Lager am Sachsendamm in Schöneberg oder das in Marienfelde, und bevor sie über Marienborn hinausgeflogen sind aus ihrem alten und ihnen unerträglich neuen Land, haben sie bei gutem Wetter Weißleben links unten liegen sehen können, haben es links liegenlassen, da noch, haben sich sehr hoch gefühlt, da noch, und haben Weißleben hinter sich gebracht, da noch, aber wer weiß, wie denen war?
Später hat Vater Grewe behauptet, er hätte von vielen, die sich mit Reiseplänen trugen, angeben können, daß sie es taten, und er hat seine Behauptung mit dem Geschäftsbuch belegt; er hat Bestellungen von Familienaufnahmen ganz ohne festlichen Anlaß und von Bildern, die häusliche Anwesen zeigten oder gute Stuben oder einen Hund, vorweisen können und zugleich erklärt, daß von den nämlichen Leuten, die ihm diese Aufträge gegeben hatten, niemals vorher ähnliches von ihm verlangt worden war, und nachher auch nicht mehr, denn nachher waren sie fort, hatten das Haus zurückgelassen und die gute Stube und den Hund und die vielen Cousinen auch, und da war der Grund zu Versammlung und Gruppierung vorm Bilderapparat zutage gekommen und hatte Abschied geheißen.
So hat sich die Fotografenfamilie Grewe von Gehen und Kommen ernährt und von dem Verlangen der Menschen, ihre Schatten festzuhalten und Zeugnis zu haben und zurückzulassen von sich und ihrem Erdenwandel, und das war es eigentlich, was Franziska in ihrer Lehrzeit erlernte: einiges über die Eigenheiten der Menschen und einiges über den Umgang mit ihnen.
Sie erfuhr etwas von den Schattierungen der Eitelkeit, von den Absprachen, die das Leben in einer Ordnung hielten, vom Verhältnis zwischen Leuten und Sachen, von den Möglichkeiten, stolz zu sein, von der Macht des richtigen Wortes, von der Gunst, der sich die treffende Lüge erfreut, von den Künsten, derer die Wahrheit braucht, von der Entfernung zwischen Schwarz und Weiß; sie lernte zu beobachten und zu schweigen, zu übertreiben und zu vertuschen, und sie lernte, eine Arbeit zu tun und den Spaß daran zu behalten.
Mit Kindern, den Hauptkunden ihres Vaters, hatte sie wenig im Sinn: Ganz klein waren sie noch ohne Tricks, und etwas größer dann, waren die Tricks nicht von ihnen; das Fotokleid hatte ihnen die Mutter angezogen, und die Fotohaltung hatten sie dem Vater abgeguckt.
Klassenbilder waren schon etwas anderes; da gruppierten sich Charaktere; die Ordnung sprach von Rängen, und in die Kamera wurde je nach Lage der Schuldinge gesehen – nicht bei der mit viel Brimborium angekündigten Hauptaufnahme, da starrte alles auf den einen Punkt und begriff sich als Mitte des Bildes, aber bei den anderen, den verstohlenen, gestohlenen sogar, denn das, was sich da dann später auf den Filmen fand, hätten seine Besitzer wissentlich kaum hergegeben: den Neid auf den Pullover der Banknachbarin, die Gier nach dem Schinkenbrot zwei Reihen weiter, das Liebeszeichen zwischen Dieter und Marita, beide zwölf, den Hagenblick auf einen Lehrerrücken.
Franziskas Vater murrte über das vergeudete Negativ, aber er ließ es dann sogar hingehen, daß sein Lehrling die besten Stücke der Beute vergrößert abzog, und er lachte mit ihr und schüttelte den Kopf mit ihr und half ihr, die Teile zu einem Panorama zusammenzufügen, dem sie, als sie siebzehn war, den Namen gab: »Wie die Menschen in Weißleben ihr Menschenleben leben.«
Es war dies eine erfrischende Sammlung, in manchem aber auch eine erschreckende, und man tat gut daran, die Seitenansichten vom Feuerwehrball erst nach denen von Weißlebens einzigem tödlichem Autounfall zu betrachten, denn Franziska hatte nicht die beiden Toten auf der Straße fotografiert, sondern die Gesichter der Leute, die die Szene säumten, und am schlimmsten war es, daß man alle diese Gesichter ganz anders kannte: Moment, Fräulein Grewe, Ihr Kuchen ist fertig, den haben Sie aber wieder wunderbar angerührt! – Guten Tag, Fräulein Grewe, wenn Sie am Sonntag manchmal zur Taufe rüberkommen möchten, die Oma in Braunschweig hätte gern ein Bild! – Ach, Fräulein Grewe, ich hätte hier was zum Entwickeln, es ist aber mehr intim, aus dem Urlaub, Sie verstehn vielleicht! – Oh, Fräulein Grewe, nun sehn Sie doch bloß, wie der Junge wieder dasitzt, eben das Hemd gebügelt, und was mach ich bloß mit seinen Haaren?
So grauenhaft die Leute auf die Straßentoten gestarrt hatten, so komisch waren sie wieder bei Beerdigungen und dem, was denen folgte. Sie standen um frischgesetzte Grabsteine wie um einen Fußballpokal. Sie bissen in den Leichenschmaus mit der ungehemmten Freude derer, die noch lebten. Sie wußten, wie affig ihnen der geborgte Zylinder zu Gesicht stand, und würden einen Muskelkater bekommen von den zwei Stunden kommandierter Würde. Sie waren glänzend vertreten durch jenen älteren Mann, den Franziska einmal aufgenommen hatte, als er die Rechnung der Bestatterin prüfte, dann, als er geschlagen und weinend zum Friedhof schritt, und schließlich, als er in der Hocke neben dem Sargdeckel saß und prüfend an das Holz pochte: Tatsächlich Eiche! – Die Totenfrau hatte ihn nicht beschissen!
Man wurde älter, als man war, in diesem Beruf, jedenfalls dann, wenn man ihn so nahm, wie Franziska es tat. Man konnte nicht hundert Posten Schwäche buchen, ohne einmal eine Summe zu ziehen, und man kam da auf etwas von Grundgewicht, etwas, das Widerspruch hieß, Widerspruch zwischen Schein und Sein, zwischen Anspruch und Erfüllung, zwischen Abbild und Wesen, zwischen Absicht und Ergebnis, man kam hinter die Allgegenwart dieser ineinander verspannten Gegensätze und war deshalb ständig bereit, hinter dem eben Erfahrenen weitere Erfahrung zu erwarten.
Franziska war bereit, aber dennoch hätte sie ein Ereignis beinahe aus allem Glauben geschleudert, und ihren Vater hat es wohl umgebracht. Er hatte ihr den Auftrag auf einen Zettel geschrieben, und sie war auf ihr Fahrrad gestiegen, etwas belustigt und etwas neugierig, aber beides nicht sonderlich. Haustrauung auf dem Lande, das kam immer mal vor. Eine gewisse Genantheit der Beteiligten war da meistens im Spiel, eine alberne Verlegenheit, die alberne Erklärungen produzierte: Die Braut war immer wieder krank geworden, wenn es ans Heiraten gehen sollte; der Bräutigam hatte ständig auf Montage gemußt; die Mutter hatte nun einmal einen Lieblingstag, und eben an diesem habe die Hochzeit sein sollen, aber inzwischen sei nun doch das Kind gewachsen und die Braut nun doch ein wenig zu schwer zu Fuß für die Kirche, und da komme eben der Herr Pastor ins Haus, was machte das alles, Hauptsache glücklich!
Auf dem Wege zu den glücklichen Hochzeitern holte sie den Pfarrer ein; das war ihr lieb, denn einsame Wanderer neigten zu merkwürdigen Scherzen, wenn ihnen ein achtzehnjähriges Mädchen auf einem Fahrrad vor die Augen kam. Auch dem Pfarrer war die Begleitung lieb, da er Grund zu haben glaubte, sich als ein von allem Heereswesen Verfolgter betrachten zu müssen. Auf dem Weg zur ersten Kriegschristmette hatte ihm ein verirrtes Gewehrgeschoß den Vorderreifen von der Felge gefetzt, und ein anderes Mal war er auf einen Sperrbalken gefahren und hatte sich das Nasenbein gebrochen, und er argwöhnte, seither gebreche es seinen Predigten an Überzeugungskraft, da der übermäßig näselnde Ton, in dem er sie vorzutragen gezwungen war, leicht auf Hochmut schließen lassen könne.
Eben der aber sei ihm fremd, erklärte er Franziska, und er bat sie, nichts Gegenteiliges zu glauben, obwohl er vor ihr herführe, mit ihr spräche, aber dennoch nicht ein einziges Mal seine Augen auf sie richte; er richte nämlich diese Augen auf den Weg vor ihnen beiden, suche ihn ab nach Tücken und Gefahr, und er habe da schon seine Gründe.
Sie kamen aber unbeschädigt in das Hochzeitshaus, ein einsames Gehöft mitten in den planen Bördefeldern, wurden beide mit Respekt begrüßt und auch mit festlichen Speisen und Tränken und machten sich beide zur gleichen Zeit an die Arbeit.
Der Vielzahl der Verwandtschaft und der Enge der Räume wegen hatte man eine Art Hilfsaltar unter dem Himmel auf dem Hofe errichtet; dem Pfarrer war das recht, Gott hatte so weniger Mühe, auf die Szene zu blicken, und auch Franziska war es recht, da gab es keine Lichtnot, und eine Bauernhochzeit unter freiem Himmel war etwas für ihre Sammlung.
Sie hörte der Predigt zu, während sie ihr Stativ aufbaute, und fand sie ganz gut, und die übertriebenen Nasallaute störten sie nicht, da sie von deren physischer Ursache wußte.
Für die Minute, in der das doppelte Jawort fallen würde, hatte sie einen Standort gewählt, von dem aus sie die ganze Gruppe erfassen konnte, die Gäste, die Eltern, die Zeugen, das Brautpaar und den Pastor und dazu ein Stück vom Haus und ein Scheunendach dahinter und den Bördehimmel darüber.
Sie hielt den Auslöser locker zwischen den Fingern und hörte gespannt auf den Pfarrer, der die bekannte Formel sprach: »Und so frage ich dich denn …«
Sie hatte zwar die Hochzeiter gewarnt: Wenn sie just beim Jawort auslöste, würde der Sprecher mit offenem Munde festgehalten werden und nicht jedermann stünde das gut zu Gesicht, aber zumal den Eltern der Braut war es wenig um ästhetische Fragen gegangen, Lessing und Laokoon interessierten sie kaum, ihnen war es nur um das Dokument zu tun, und wahrscheinlich hatten sie ihre Gründe, wenn sie so darauf drangen, einen optischen Beleg für die Zustimmung des Bräutigams in die Hand zu bekommen.
»Und so frage ich dich denn«, sagte der Pastor, sagte dann aber einen Augenblick lang gar nichts, sagte nicht den Namen der Braut, der hier hätte folgen müssen, verhielt jäh und schien in den Himmel zu starren mit dem ganzen Körper, sagte auch danach noch nichts, schrie aber nun und tat auch dies wieder mit dem ganzen Körper, schrie aus Mund und gebrochener Nase immer noch nicht den Namen der Braut, sondern brüllte in gequetschtem Ton, dem es dennoch, wie sich sogleich erwies, nicht an Überzeugungskraft mangelte, ein Kommandowort, und dieses lautete: »Hinlegen!«
Hinlegen heißt, so vorgetragen, hinwerfen, und es war niemand in der Hochzeiterschar, der dies nicht gleich begriff, und so lag die Gesellschaft in Frack und Klack im Handumdrehen auf der Erde, die alten Frauen und die überreife Braut zwar nicht ganz so schnell wie die Männer, die zwischen Wolgamündung und norwegischen Fjorden Einschlägiges geübt hatten, und niemand so rasch wie der Prediger, aber als das Bündel brüderlichen Schrifttums – bei Helmstedt an einem Ballon aufgelassen und zwecks besserer Verteilung durch den Zonenhimmel mit einer Sprengladung versehen – in das Scheunendach schlug, hatte die gesamte Festversammlung auf der Hoferde Deckung genommen, nur die Fotografin Franziska stand aufrecht hinter ihrem Apparat und fertigte so das Bild ihres Lebens.
Kaltblütigkeit war nicht das Wort, das dies erklärte. Es verhielt sich einfach; es war leicht erklärt, wenn man bedachte, daß Franziska im Gegensatz zu den Versammelten an dem frommen Vorgang nicht weiter beteiligt war; sie hatte auf das Jawort des Bräutigams gewartet, der aber war noch nicht an der Reihe gewesen, und so hatte sie nicht so innig wie die Anverwandten des jungen Paares auf die Worte des Pastors gelauscht und war nicht wie jene aus tiefer Anteilnahme seelisch bereit gewesen, die Aufforderung des Kirchenmannes als auch ein wenig an sie gerichtet zu nehmen und im Chore mit der nunmehr jungen Frau ja zu sagen oder zu denken; sie war einfach nicht, wie die anderen, eingestimmt gewesen, war nicht Teil der Gemeinschaft und hatte noch das Denken zwischen sich und dem Geschehen, und wo die anderen, ohne zu fragen, in den Sand sprangen, hatte sie noch erst ein Nanu im Kopf, und der Daumendruck auf den Auslöserknopf war nur ein Reflex.
Aber es geschah ihr nichts; der einzige Blessierte war der Pastor; er hatte sich beim Fall die Kinnlade ausgerenkt, und seine Sprache war nun doppelt verquetscht, als er zu Franziska sagte: »Sehen Sie, ich sagte ja, ich habe meine Gründe!«
Das Kinn wurde wieder gerichtet, die noch heilen Schindeln eingesammelt, ein älterer Cousin aus der Ohnmacht geholt, der Hilfsaltar neu aufgebaut, die Trauung vollzogen, der Bräutigam mit offenem Mund fotografiert, die Hochzeit gefeiert, der Sprung des Pfarrers belacht, der Schreck begossen und das Glück auch und wieder das Glück und noch einmal der Schreck und Prost und Dunnerwetter und ei der Daus, und Franziska fuhr nach Haus.
Dort entwickelte sie das Bild, und es war das Bild ihres Lebens. Es war über die Maßen komisch und über die Maßen schaurig, aber was danach kam, durch das Bild danach kam, war für Franziska schaurig über alles Maß.
Denn sie verlor ihren Bruder dadurch und dadurch wieder ihren Vater, und auch so war dieses Foto, auf dem eine geputzte Hochzeitsgesellschaft im Bördesande lag, während hinter ihr ein Stück Scheunendach in die Lüfte flog, das Bild ihres Lebens.
Dies aber konnte die Fotografenfamilie Grewe noch nicht wissen, als sie den ersten Abzug betrachtete und sich vor Lachen nicht halten mochte; eine komplette Festgemeinde in Bauerngala auf dem Boden, das hatte noch keiner gesehen, und Lachen war bei allem Schrecken erlaubt, denn es war doch niemand ernstlich zu Schaden gekommen.
Zu Schaden kam die Familie Grewe, weil der älteste Sohn einen Einfall hatte.
Der war ein netter Junge, dreiundzwanzig Jahre alt, als Franziska achtzehn war, der große Bruder immer und seit jener Zeit besonders, in der er Kugeln hatte pfeifen hören; der wußte, wie das Leben ist, der hatte quer durch die Börde seine Bräute, und zweie hatte er in Berlin, eine in Ost und eine in West; das war alles nicht billig.
Klaus hieß der und war eine ehrliche Haut, soweit es in der Familie blieb. Der fuhr nach Tempelhof, wenn es in Magdeburg keinen Entwickler gab; der kannte den Wechselkurs wie den Tabellenstand der Oberliga; dem war Charlottenburg sein Macao: Markt und Abenteuer, Hehlerloch und weite Welt; dem konnte keiner, kein Gemüsebauer und kein Zöllner und nicht einmal die Hirten um den Bahnhof Zoo.
Den Laden in Weißleben wollte er nicht; er lachte, wenn sein Vater von Erbfolge sprach; er wollte ins Große und Freie, Agha Khan fotografieren oder sibirische Mineralogen, Taifune, Zyklone, Diors geheimste Kleider, sowjetische Hunde mit sieben Köpfen, sechs davon aus Kunststoff, Manfred von Ardenne, wie er gerade das Telefon ohne Wählscheibe erfindet, die sozialistische Revolution in Madrid, Lok Magdeburg mit dem Europapokal, den Nordpol und den Titisee im Schwarzwald.
Er war nicht besessen von solchen Träumen, er nahm sie nicht einmal als Träume; es waren Markierungen eines Areals, in das er auszuziehen gedachte, nicht um Millionen zu machen, sondern um eine Arbeit zu tun, die nicht umschrankt war von Weißlebener Brauchtum, den Schönheitsvorstellungen der Bäckermeister und Spargelschieber daselbst und den technischen Grenzen der heimischen Fotochemie. Er stürzte nicht einfach davon, denn er wußte Bescheid: Weder »Paris Match« noch »Time« noch der »Stern« warteten auf ihn, und es zog ihn nicht in eine Bewerberschlange; das hatte er nicht nötig, denn so gesehen, war Weißleben auch kein Dreck; ehe er bei denen betteln ging, retuschierte er hier lieber seine Silberpaare und machte mit Fleischertöchtern seine Gildenwitze, von wegen Eisbärfell und Stellungswechsel und Schönheit der schieren Natur, und wartete eben auf seine Gelegenheit.
Die war mit dem Irrläufer ins Scheunendach und Franziskas Reflex am Auslöser gekommen.
Was heißt: Diebstahl und Lüge! Die Schwester konnte ohnehin nichts mit dem Bild anfangen, und ob sie es nun den Kuhbauern als Draufgabe zum Hochzeitsfoto schenkte oder in ihre Sammlung tat, das war die gleiche Vergeudung.
Für Klaus Grewe aber war die Aufnahme der Aufnahmeschein in eine bedeutende Redaktion; das Negativ und der bisher einzige Abzug genügten als Gepäck, und einiges Geld in beiden Farben hatte er so schon beisammen.
»Ich fahr noch mal rüber nach Magdeburg! – Bitte, einmal Zweiter nach Berlin-Friedrichstraße! – Ja, hier ist Bahnhof Zoo, warten Sie, ich helfe Ihnen, ich steige auch hier aus! – Guten Abend, haben Sie ein Zimmer für die Nacht? – Guten Morgen, ich komme von drüben und hätte da ein Bild … – Klar, Mr. Dornemann, klar bin ich weg aus politischen Gründen; was meinen Sie, wie die nach mir suchen!«
Zunächst suchten sie nicht ihn, sondern das Bild. Sie kamen am Tag nach der Bauernhochzeit und wollten den Sachverhalt klären. Da sei ein Unglück passiert, und gründliche Analyse sei vonnöten. Ein Glück nur, daß alles so glimpflich abging, und ein Glück auch, daß es ein Foto gab, ein aufklärendes Dokument. Der Brautvater hatte Klage geführt und gesagt, die Kleine von Grewe, dem Fotografen, die ist Zeuge, die hat’s geknipst, wie’s ausgesehen hat bei uns, als es gekracht hat, die fragen Sie mal! Nun fragten sie und wollten das Bild und waren höflich, bis Franziska mit leeren Händen wiederkam. Da sahen sie selber nach, und so höflich waren sie nun nicht mehr; man sah ihnen an: Sie standen im Kampf und waren auf den Gegner gestoßen. Dabei waren sie noch gut dran; sie taten eine Arbeit: Ein Bild fehlte, also suchten sie es. Die Familie Grewe aber war schlimmer daran: Sie mußte bald auf den Zusammenhang kommen zwischen dem Verschwinden des Sohnes und dem Fehlen des Bildes, und das rückte den Sohn in die unerreichbare Ferne.
Franziska und ihr Vater mußten mit in die Stadt. Drei Tage lang fragte man sie und ließ sie berichten über ihr Leben und über ihre Ansichten über das Leben, und manchmal wunderte sich Franziska, wie lang ihr Leben schon gewesen war und wie verdächtig oft.
Als man sie entließ, war sie fast bereit, ihren Beruf zu wechseln, aber sie sagte davon kein Wort, ihres Vaters wegen. Dem saß der Schrecken im Herzen. Der war ein kleiner Nazi gewesen und im Kriege Feldwebel und hatte Aufklärungsfotos der Luftwaffe entwickelt; dies hatte alles längst erledigt geschienen, aber nun hatte er Worte gehört wie Dokumentenhinterziehung und Aufklärungsbehinderung, und das schlimmste war, es hatte ihm alles eingeleuchtet. Dabei war er ein ehrlicher Mann, oder eben weil er ein ehrlicher Mann war, ging ihm die Sache so zu Herzen. Er hatte sich doch Mühe gegeben, seine Fehler zu sehen und sie nicht zu wiederholen. Er hatte versucht, sich gegen die Selbstgerechtigkeit zu wehren, die ihm empfehlen wollte, sich für ein Opfer von Umständen zu halten. Aber nun waren hier wieder Umstände eingetreten, an denen er keinen Teil haben konnte, und nun mußte er sich fragen, ob es nicht doch so sei, daß der gute Wille nichts vermöge gegen die bösen Umstände.
Der Brief des Sohnes machte nichts besser, denn er war so fremd und unsinnig verlogen und enthielt auch kein Wort über das Bild, das verschwunden war.
Das wenigstens erklärte sich bald, denn bald kamen die Untersucher noch einmal ins Haus, diesmal aber nicht, um etwas zu suchen, sondern um etwas zu bringen.
Es war eine Zeitschrift, und Franziskas Bild ging über eine Doppelseite. Auf seinen Vordergrund war weiß auf schwarz ein Text gedruckt, der von einem erschütternden Dokument sprach und von dem täglichen Terror und einen glauben machen konnte, ein atheistischer Richtkanonier habe ein Geschoß in die Scheune gelenkt, des religiösen Vorgangs auf dem Bauernhofe wegen, und von der Bedrohung des Christenmenschen in der Zone war die Rede und vom standhaften Mut des Fotografen, dessen Name Klaus Grewe sei.
Das wunderte Franziska schon nicht mehr, aber über sich selbst wunderte sie sich sehr, und sie fragte sich, ob ihr Verstand gelitten habe. Denn sie fühlte beim Betrachten des Fotos einen irrwitzigen Stolz in sich aufkommen: die Aufnahme war hervorragend gelungen; die Schärfe hatte unter der Vergrößerung nicht gelitten, die Lichtwerte waren vorbildlich, und in dem Tausendstel einer Sekunde, diesem Zeitpünktchen, war alles von einer explosiven Bewegung. Und noch unsinniger war es, daß sich auch jetzt noch Heiterkeit in ihr regte und daß sie mit dem Zwerchfell äußerste Mühe hatte, als sie den Pastor sah: Ausgerechnet dessen ohnehin schon lädiertes Gesicht wurde nun auch noch in effigie durch den Seitenfalz in zwei scheinbar ungleiche Hälften geteilt.
Sie und ihr Vater schrieben eine weitere Erklärung; Duplikate davon gingen zu den Akten, und das Original ging an die Illustrierte, aber der Bruder schickte fortan ungerührt Zeitungsausschnitte mit seinen Fotos und seinem Namen darunter, und einmal war auch ein Bild dabei, das zeigte den Agha Khan.
Zu allem, was so schon seltsam war, kam nun noch dies: Das komisch und böse verworrene Ereignis, der Vorgang, in dem sich Fotografenglück in das Unglück einer Fotografenfamilie verwandelte, der Fall, der sich zur privaten Tragödie zuspitzte, weil ein allzu lebenslustiger Bruder ihn an die Öffentlichkeit hatte bringen müssen, ausgerechnet dieses Geschehen weckte in Franziska die Lust, der Börde ade zu sagen und Berlin guten Tag und guten Tag in fast jeder Redaktion in der östlichen Hälfte der Stadt.
Sie gab sich nicht Rechenschaft und vermied es, vor sich selbst Gründe anzuführen, denn die Rede kam dann rasch auf den Vater, den sie in seinem Kummer zurückließ mit nun noch mehr Kummer, oder sie kam auf die Immoralität des Gewerbes, dem sie jetzt in der Spur ihres Bruders zustrebte, als wäre nicht gerade diese Spur Beweis genug, daß Gesinnungsschaden wohl möglich war auf solchem Wege. Und geradezu peinlich war ihr der Gedanke, der sich auch einmal gemeldet hatte in diesem Disputansatz, der Gedanke: sie könne im östlichen Journalismus ein Gegenbild herstellen wollen zum nunmehr westlichen Grewe-Bruder.
Um sich über diese Peinlichkeit hinwegzuhelfen, hatte sie sich Johanna von Weißleben gescholten, Ehrenretterin der DDR, die fromme Jungfer mit dem sauberen Objektiv; das gab einen großen Lacher. Seit wann war denn sie politisch; wie kam denn sie ins Flattergewand der Patriotin; wo kam denn diese Fahne her? Schulunterricht hatte sie mit dem Bescheid versehen, sie habe sich zum Kleinbürgertum zu zählen; Bücher hatten die Auskunft hinzugefügt, dies sei nichts Gutes; Filme lieferten den Beleg: Man schwankte dann sehr.
Schwanken war, wenn sie es recht verstand, politischer Neigungswandel, je nachdem. Dem war leicht zu entkommen, fand sie: Man brauchte sich nur aller solcher Neigungen zu enthalten. Keine Neigung, kein Wandel, kein Schwanken!
Und wie der Jugendverband in Weißleben war, wurden auch Neigungen nicht weiter verlangt; sauberes Blauhemd, pünktliche Beitragsentrichtung, kein Murren vorm Kartoffeleinsatz, das machte aus Franziska Grewe eine zuverlässige Jugendfreundin, und daß sie vom Kartoffeleinsatz fröhliche Bilder für die Kreiszeitung lieferte, machte eine aktive solche aus ihr, und nachdem das Zentralorgan zwei ihrer erfrischenden Dokumente nachgedruckt hatte, fand sie sich in einer gewählten Leitung wieder.
Ihre Kunstfertigkeit, das Jugendleben auf Fotos lebhaft erscheinen zu lassen, trug ihr die Reputation guter Gesinnung ein, und als sie gar die Anleitung eines Zirkels Junger Knipser, genannt Die Neue Optik, übernahm, war sie reif, zum Treffen der Jugend in Berlin delegiert zu werden.
Die Einladung war noch vor dem schrecklichen Hochzeitstag und dem schmählichen Abgang des Bruders und dem Besuch der Untersuchungsorgane und der Publikation des entsetzlichen Bildes ausgesprochen worden, doch als Franziska den Kreissekretär auf diese Vorgänge verwies und ihn fragte, ob es nicht besser sei, sie nun zu Hause zu lassen, winkte der ab; die Sache sei geklärt. »Alles klar, Mädchen, was kannst du für deinen Bruder, und wenn du nun schon wegwillst von hier und nach Berlin, dann kannst du dich doch gleich umsehen; ich kenn da einen beim Magazin für junge Menschen, dem schreib ich einen Brief, kannst du mitnehmen; aber wenn du diesmal wieder so Bombenbilder machst, dann halt sie fest!«
Da es sie nicht zu sehr in ein Magazin für junge Menschen drängte, stahl sie sich hin und wieder vom Treffen fort und besuchte die Redaktionen von Zeitungen so mehr für alle Menschen, aber so wohlgefällig man sie dort auch musterte, man war mit Fotografen versehen, und nun eine Bördenjungfer, nee, Kindchen!
Also dann das Magazin für junge Menschen! Der Freund vom Kreissekretär hieß Helmut, und er kam auch tatsächlich auf einen Sprung ins Haus, als Franziska dort auf ihn wartete.
»Der hat Nerven«, sagte er, als er den Brief gelesen hatte, »hier trifft sich die Hälfte der jungen Generation, und davon wieder die Hälfte muß ich interviewen, und der schreibt, ich soll mich mal mit dir unterhalten. Alle Male, die ich hab in diesen Tagen, sind besetzt. Wenn du willst, lauf neben mir her; kannst gleich ’n paar Bilder dabei machen; Proben brauchten wir sowieso von dir. – Was hast du denn mit deinem Blauhemd gemacht?«
»Wieso?«
»Das sitzt so flott; man sieht richtig, daß du ein Mädchen bist.«
Innerhalb von drei Tagen kam er immer mehr darauf, daß sie ein Mädchen war, und er ließ es sie merken, daß er ein Mann war, ein junger, tatendurstiger, tüchtiger, lustiger, gewitzter und ziemlich rücksichtsloser Mann. Er bekam die Interviews, die er wollte, und sie holte er nebenbei gründlich aus; am Ende kannte er ihre Schulzeugnisse und ihren Brustumfang und alle ihre Tanten, und er wußte auch, daß sie bis jetzt noch nichts Schärferes, wie er das nannte, mit einem Mann gehabt hatte.
»Mußt du ändern«, sagte er, »schade, ich komme jetzt bei dem Gehetze nicht dazu, sonst würde ich mal ’n bißchen Hand anlegen.«
Der läßt das wie einen Gefallen für mich klingen, dachte sie, aber wie ich gehört hab, soll das auch für einen Mann ganz nett sein. Sie merkte, daß sie sich langsam in ihn verschoß; es war ihr ein wenig unheimlich, aber nicht zu sehr. Sie machte ihre Bilder und unterdrückte die Neigung, ihn allzuoft mit auf die Fotos zu bringen; ein paar hatte sie schon von ihm, und die würde sie bewahren als die Bilder von einem, mit dem es beinahe dahin gekommen wäre. Aber es kam dahin, und kurz nachdem sie die Aufnahmen entwickelt hatte, war es schon wieder vorbei.
Sie waren beide abgehetzt und froh, als die wilden Pfingsttage mit der Abschlußkundgebung zu Ende gegangen waren. Sie waren heiser vom hundertfachen Sang des Liedes »Blaue Fahnen nach Berlin«, und am Eingang zum Wedding, kurz hinterm neuen Walter-Ulbricht-Stadion und schon im französischen Sektor von Berlin, waren sie auf heftige Abneigung gegen Lied und blaue Fahnen gestoßen, waren zurückgeknüppelt worden über die Grenze, dorthin zurück, wo Fahnen und Lieder zu Hause waren, und Franziska war es, auch dank der Schläge am Wedding, leicht geworden, einzustimmen in die Lieder und Schwüre, die zum Abschied noch einmal von Jugend und Frieden sprachen. Sie tranken im überfüllten Berolinakeller am Alex einen schlimmen Wein und bummelten Richtung Friedrichstraße durch die Nacht, die immer noch nicht ruhig war. Auf dem Marx-Engels-Platz tanzten noch ein paar hundert Verrückte Laurenzia unter dem riesigen Stalinbild, das an einem Fesselballon im Himmel hing. Vier Scheinwerfer beleuchteten von den beiden Spreearmen her den lächelnden Generalissimus.
Franziska und dieser Helmut sahen lachend den Tänzern zu, da schrie einer der Laurenzia-Turner: »Hallo, Jugendfreundin, liebste Fotografin, mach ein Bild von uns; mir hier beim völkerverbindenden Danze, das gibt eine Freude in Schmilka!«
»Geht leider nicht«, sagte Franziska, »mir sind die Blitzer ausgegangen, und das Licht reicht nicht.«
Aber auch den anderen Tänzern schien es nun äußerst dringlich, daß ein Foto von ihren Kniebeugen angefertigt werde, und sie bejubelten den Vorschlag ihres Wortführers: »Mir fragen die Freunde, ob sie manchmal einen Strahl vom teuren Genossen Josef Wissarionowitsch abzweichen möchten, da möcht’s doch reichen mit ’m Lichte!«
»Das geht doch nicht«, sagte Franziska, aber Helmut legte den Arm um sie und sagte: »Warte hier; ich versuche es.«
Wenn er das schafft, dachte sie und ärgerte sich zugleich über so etwas Kindisches, dann schafft er alles, und von mir aus darf er es auch. Sie machte ihre Kamera fertig und hoffte und wußte dabei nicht, was sie sich erhoffte. Da könnte ich doch gleich Blütenblätter zupfen: Es geschieht, es geschieht nicht, es geschieht, was will ich denn überhaupt, will ich es, will ich es nicht, Väterchen, laß ein bißchen ab von deinem Licht, nein, behalt’s doch besser, oder nicht, ich weiß schon nicht!
Dann erhob sich ein mächtiges Geschrei, rhythmisches Klatschen schlug bis an die ferne Marstallmauer, ein langes Ooh tönte über den Platz, und der Gesang »Laurenzia, liebe Laurenzia mein« stieg in den Himmel, an dem sich das große Abbild mählich verdunkelte und endlich verschwand, denn alle vier Scheinwerferstrahlen senkten sich herab, und auf der gepflasterten Erde wurde Tag.
Nun ist es entschieden, dachte Franziska, alle vier gleich, dagegen komme ich nicht an, nun ist es entschieden!
Helmut hielt ihr die Jugendfreunde vom Hals, die ihr ihre diversen Adressen in Schmilka und Schkölen und Schlatkow und Geld für Abzüge und fürs Porto dazu aufnötigen wollten; er sagte: »Schreibt ans Magazin für junge Menschen, schreibt: Betrifft nächtliche Laurenzia, dann weiß ich schon. Und wer bei der Gelegenheit abonniert, kriegt die Bilder gratis. Freundschaft!«
Und zu Franziska sagte er: »Immer praktisch denken; wenn du praktisch denkst und nett bist, kriegst du fast alles, und was du nicht kriegst, schimpft doch nicht hinter dir her, wegen der Nettigkeit.«
»Wie hast du das mit den Scheinwerfern gemacht?«
»Praktisch und nett. Ich hab dem Kompanieführer ein Pioniertuch umgebunden, etliche Male Drushba gerufen, und der Rest ging mit Händen und Füßen. Ich hoffe, er kriegt keinen Ärger wegen der Finsternis. – Nun los, nun suchen wir uns ein Stückchen Finsternis, ich möchte nett mit dir sein.«
Das war nicht ganz einfach. Wo immer sie die Linden hinunter bis zum Brandenburger Tor einen dunklen Winkel fanden, erwies sich der als schon besetzt, und Helmut zeigte sich ein weiteres Mal von seiner praktischen und von seiner freundlichen Seite, als er das Lied von Sonne, Mond und Sternen anstimmte, um die zärtlich gelaunten Jugendfreunde und Jugendfreundinnen zu warnen, die bis dahin in einigen Fällen erbarmenswert hastig auseinandergesprungen waren.
Franziska ging mit wie im Schwindel, oder sie versuchte sich doch einzureden, sie ginge ein wenig wie im Schwindel mit. Ich bin etwas von Sinnen, sagte sie zu sich, ich war noch nie in soviel Fröhlichkeit, ich glaube, ich weiß nun, was Freiheit ist, nie hatte ich solche Kraft, ich bin von Sinnen in dieser Nettigkeit, hier ist etwas zu Ende gegangen, hier hat etwas angefangen, ich bin zu Hause hier, wir sind zu Hause hier, jetzt weiß ich, was Jugend ist, und ich bin etwas von Sinnen vor Liebe wohl und auch etwas angesteckt von all der Liebelei hier herum, das liegt einfach in der Luft heute, und es ist nichts dabei. Aber es war doch etwas dabei, es war so nicht ganz geheuer, und dieser Helmut war ihr ein Quentchen zu praktisch, und sie hatte es sich auch etwas anders vorgestellt, sie wußte zwar nicht, wie anders, aber in einem nächtlichen Torbogen hatte es sicher nicht anfangen sollen, und daß es dann zwischen dem Holz auf einem Bauplatz nahe dem Reichstag anfing, war fast schon zuviel.
Doch nur fast, denn Helmut war praktisch und freundlich und machte sie vergessen, wo sie war, nicht gleich, aber dann doch; er war zärtlich und ohne Hast, er baute zuerst ein Versteck und sprach sinnlosen Schnickschnack, er hielt sie ruhig, als wolle er sie beschützen, und sie nahm diesen Schutz, brauchte ihn, brauchte den verrückten Augenblick dieser Nacht gegen die verkehrte Welt der letzten Tage, wußte nun alles und wußte nichts mehr, wußte nicht, ist Glück Vergessen oder ist Begreifen Glück, gewahrte die Versuchung, sich herausfallen zu lassen aus der Welt, und wehrte sich, indem sie Bilder der Welt aufrief, den Pastor, den Bräutigam, das Scheunendach, das Labor, die Untersuchungsorgane, den Vater, den Bruder, die Redaktionen, den Tänzer aus Schmilka, den Platz in der Nacht und das Bild im Himmel, und wußte von dem steinernen Schatten in ihrem rechten Augenwinkel, daß es der Reichstag war, und wollte nicht wissen, daß sie sich die Schulter an einem Zimmermannsbalken zerrieb, und verteilte Verantwortung für den Wahnsinn hier an Lichtkanoniere und Scheinwerferkommandeure und rief wütend: »Drushba!«
»Spinnst du?« sagte dieser Helmut, und sie sagte: »Natürlich spinne ich, was dachtest du? Ich heiße Laurenzia und bin aus Schmilka. Ich habe eben einen Pastor fotografiert, der hat mit einem Scheinwerfer einen Fesselballon abgeschossen, an dem hing ein Illustriertenbild von einem Untersuchungsorgan. Ich bin die Jugendfreundin Johanna und frage dich nunmehr, bist du gewillt, den Reichstag zu abonnieren, so sage denn laut und vernehmlich: Hinlegen!, so singe denn praktisch und freundlich: Franziska, liebe Franziska mein, wann werden wir wieder gefangen sein? Ich heiße Maria und bin jetzt aus Heu und aus Stroh. Freundschaft!«
»Freundschaft«, sagte Helmut automatisch, und dann schimpfte er: »Jag mir doch nicht solchen Schrecken ein; ich dachte wirklich, du bist übergeschnappt, aber du guckst ja ganz normal!«
»Ich bin auch ganz normal«, sagte sie, »ich habe meine Gründe, ganz normal zu sein, denn die Lage ist ganz normal, meine Lage ist völlig normal: Ich liege auf drei künftigen Dachsparren, zwanzig Meter weiter beginnt Westberlin, dort wohnt mein Bruder, über mir steht der Reichstag und ist abgebrannt, in der Börde zu Haus hält sich mein Vater das Herz, ich glaube, ich blute ein bißchen, ich habe Stalins Scheinwerfer als Blitzlicht benutzt, ich liebe dich wohl, heißt du nicht Helmut? – Und jetzt will ich nach Hause.«
Er brachte sie an die Haustür ihrer Wirtin in Treptow, und am nächsten Abend war sein Zimmer wieder frei, das Treffen der Jugend beendet, blaue Fahnen aus Berlin, und ein Hoch zwar auf alle Bauplätze dieser Welt, aber ein Bett war doch etwas anderes.
Sie ließen sich nun Zeit, und erst am Ende der Woche hatte Franziska ihre Bilder entwickelt und vergrößert und die mit zuviel Helmut darauf beiseite getan, und die Aufnahmen vom nächtlichen Laurenzia-Tanz nahm sie nur spaßeshalber mit zur Besprechung beim Chef des Magazins für junge Menschen, denn sie waren nicht besonders geraten, die Scheinwerfer waren doch mehr für den Himmel gedacht gewesen als für die Erde, und so nahm sich die Fröhlichkeit aus Schmilka und Schkölen mehr wie ein Gespenstertanz aus, aber sie legte dem Chef auch diese Bilder vor und sagte, die Geschichte dazu erzähle Helmut besser.
»Ach«, sagte Helmut, »da ist nicht viel zu erzählen. Da haben noch welche getanzt nach all dem Trubel, und um die Zeit sah es lustig aus. Die Bilder laß nur weg.«
»Nein, warte doch«, sagte der Chef, »vielleicht kann man mit denen noch was machen. Es müßte natürlich ein passender Text dazu: Je später die Nacht, um so fröhlicher die Gäste; Jugend ist Trunkenheit ohne Dingsda; der Enthusiasmus dauert an; Laurenzia im Lustgarten – ich find’s ganz lustig. Schade, daß das Bild vom Genossen Stalin nicht mit drauf ist, vielleicht kann man das reinmontieren. Wieso ist denn das nicht drauf, von dem Standpunkt aus hätte es doch eigentlich mit raufkommen müssen, oder hatten die die Scheinwerfer schon ausgemacht?«
»Runter«, sagte Franziska und wunderte sich über Helmuts leises Kopfschütteln, »die haben die Scheinwerfer runtergemacht, runtergedreht wohl, damit ich fotografieren konnte.«
»Ja, die sowjetischen Freunde«, sagte der Chef, »die sind Klasse. Das müßte selbstverständlich mit hinein in die Geschichte: Beherzt bat eine junge Jugendfreundin die sowjetischen Freunde, na, zweimal Freunde geht nicht, das muß man noch durchformulieren, also: beherzt bat, wie heißt du gleich, Franziska Grewe die sowjetischen Freunde, ihr ein bißchen von ihrem großen Licht abzugeben, damit … das wäre doch ein Titel: Das große Licht der Freundschaft! … und schon senkte sich gleißende Helle über das weite Rund! Das beherzte Wort der Jugendfreundin aus, wo bist du her? …«
»Sie ist aus Weißleben, das ist in der Börde«, warf Helmut ein, »aber der Vollständigkeit halber: Die kleine Verhandlung mit dem Scheinwerferbatterieführer, die habe …«
»Vergiß deine Rede nicht«, sagte der Chef, »ich überlege eben schärfstens: Gleißende Helle, bleiernes Dunkel, sachte, sachte, jetzt mal schärfstens überlegen: Was wolltest du sagen, Helmut?«
»Nichts«, sagte Helmut, »hat sich schon erledigt, wollte was Ähnliches sagen.«
»Primstens«, sagte der Chef, »brauche ich die Sache ja nicht mehr durchzuformulieren. Kannst du mal sehen, Jugendfreundin, was man hier für eine Verantwortung hat. Schärfste Analyse, ohne die kommst du hier nicht aus. Erscheinungen: schön, Wesen: besser. War ja gut gemeint, dein Bild, feine Initiative, primstens, aber da bist du ganz schön über den Bodensee geschwommen. Nee, Jugendfreundin, die Bilder pack mal wieder ein, und da du dich noch nicht so auskennst, pack noch einen guten Rat von mir dazu: Erscheinung schön, Wesen besser, schärfste Analyse und immer sachte, sachte.«
Er schüttelte ihr die Hand und ermahnte Helmut, sich ein bißchen um die Jugendfreundin zu kümmern, ideologisch und so, und Franziska und dieser Helmut gingen auf der Friedrichstraße auseinander.
Er hatte gesagt: »Das hätte aber schiefgehen können.«
Und sie hatte gesagt: »Es ist schiefgegangen.«
Er hatte gesagt: »Dir konnte doch nichts passieren.«
Und sie hatte gesagt: »Mir ist etwas passiert.«
Er hatte gesagt: »Hätte ich vielleicht reden sollen?«
Und sie hatte gesagt: »Du hättest so nicht schweigen sollen.«
»Das verstehst du wohl noch nicht«, hatte er gesagt, und »Ich will es auch niemals lernen«, hatte sie geantwortet, und dann hatte sie »Freundschaft« gerufen, und er hatte automatisch »Freundschaft« erwidert, und da hatte sie gelacht und war gegangen.
Sie heulte erst in Treptow, und zum Glück war ihre Wirtin nicht da, sonst hätte sie ihre Miete gezahlt und wäre abgefahren in die Börde, aber die Wirtin war nicht da, und so blieb Franziska, und bald fand sie auch Arbeit.
Den David Groth fand sie erst zwei Jahre später. Da war ihr dies seltsame Berlin mit seinen verschiedenen Weltteilen schon lange vertraut, und daß sie eine gelernte Fotografin sei, hatte sie schriftlich, aber sie hörte nicht auf, sich über die Wandlungskünste der Stadt zu wundern, und auf den Glauben, sie beherrsche ihr Handwerk nun, ließ sie sich nicht ein.
Deshalb, auch deshalb war ihr der David Groth so hochwillkommen. Daß er ihr gleich gefallen hatte mit seinen losen Reden in der Leihbücherei von Geschonnek, war etwas merkwürdig, denn jener praktische Helmut damals hatte zwar nicht übermäßig viel bleibenden Eindruck hinterlassen, aber eine Abneigung immerhin gegen Dialogkünstler und Maulartisten und die gar zu findigen Kerlchen. Um so seltsamer, daß sie diesen David, der nie recht zu wissen schien, ob ihm nun gewitzte Jugend oder gegerbte Erfahrenheit besser zu Gesichte stünde, und überdies noch an dem Ehrgeiz litt, auf jeden Fall für eine besonders harte bolschewistische Nuß gelten zu wollen – um so seltsamer, daß sie den gleich mit in ihr Zimmer genommen und Mutterns Leberwurst mit ihm geteilt hatte und dann auch noch mit ihm auf der heiklen Wirtin Sofa herumgelegen war.
Aber sie hatte recht behalten mit ihm, und das hieß unter anderem, sie hatte ihm bald manches abgewöhnt. Zum Beispiel dies Aus-dem-Mundwinkel-Sprechen und seine dämliche Handkanten-Argumentation, mit der er einen zwar umhauen, aber nicht überzeugen konnte.
Da machte sie sich ihr äffisches Talent zunutze und zeigte ihm sein leicht verzerrtes Spiegelbild; das mochte er nicht leiden.
Sie wußte, wann ein Streit aufkam, und sie kannte ihre beste Waffe dagegen: Sie brauchte ihn nur aus seiner geliebten Haltung eines kühlen Kunden herauszulocken und ihn ins Eifern zu stacheln, dann geriet ihm bald alles zum übergroß Komischen, und da brauchte er nicht lange, um auf sich selbst in der Bramarbasrolle zu stoßen und sich dann idiotisch zu finden; da wechselte er das Thema. Aber Meinungsverschiedenheiten hatten sie genug. Das störte Fran nicht, denn anders wäre es unheimlich gewesen. Ihr Weg war nicht seiner, und seine Ansichten konnten nicht ihre sein.
Ob er mehr Feinde hatte als sie, war nicht auszuzählen, daß er aber mehr sah als sie, war sicher. Er glaubte sich immer im Kampf, und er freute sich merkwürdig, wenn er auf Gegnerschaft stieß: Eine Grundformel hatte sich dann wieder bestätigt.
Sie wußte auch, daß es manchmal tückisch zuging in der Welt, aber sie hielt das für einen Fehler und nicht für ein Gesetz. Sie konnte kämpfen, aber sie mochte es nicht. Er mochte es.
Für ihn war es logisch, wenn etwas, das er tun wollte, auf Widerstand traf: Entweder waren die Ansichten seiner Opponenten falsch oder die seinen, und falsch, das hieß: politisch falsch. Dummheit, Faulheit, Feigheit, Neid, Mißgunst und Feindseligkeit waren ihm keine Gründe, sondern nur Erscheinungsformen politischer Gegnerschaft oder wenigstens Rückständigkeit, und sein Lieblingsbegriff lautete: objektive Ursachen.
Wenn ihr etwas in der Arbeit verquer ging, weil ein anderer, dessen Ansichten wichtig waren, die ihren nicht teilte und sie doch sah, sie hatte recht, dann machte sie das traurig und auch zornig, aber sie kam nicht auf den Gedanken, den Herrn Adenauer oder den »Herrn« Klassenkampf verantwortlich zu machen.
David kam immer auf diesen Gedanken, und den Ausdruck »Herr« Klassenkampf, den sie erfunden hatte, verbat er sich, denn das sei ein, Augenblick mal, verdammt, wie hieß das noch, ein Anthropomorphismus, die, wie sagt man das, Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Nichtmenschliches, und im Augenblick des Streits war er bereit, an diesem Unsinn festzuhalten und seinen allgegenwärtigen Klassenkampf eher für etwas Nichtmenschliches zu erklären, als daß er den verehrten Grundbegriff in Gefahr sehen wollte, ins Subjektive aufgeweicht zu werden.
Da verfiel Fran auf das Gegenteil und bestand vorerst darauf, allen Personen das Persönliche zu streichen, und sprach also nur noch von dem objektiven Herrn Adenauer und der objektiven Genossin Müntzer und dem objektiven David Groth und erklärte es für politisch, daß der kein Hammelfleisch mochte, und für einen Ausdruck des Klassenkampfs, wenn sie ihren Kamm nicht fand.
Sie verhedderten sich tief in dieses Spiel. Sie fuhren mit grotesk verformten Begriffen aufeinander los und ließen die sich wie Kasperlefiguren balgen, wild und nicht gebremst von Abmachungen der wirklichen Welt; sie brachten die Übertreibung als einen Schutz zwischen sich und die ernsten Dinge; die Wortmarionetten fochten einen Kampf aus, vor dem sich nicht nur Franziska gefürchtet hätte, aber mit Begriffskarikaturen ließ er sich führen, und wo Rückzug nötig war, verlief der von der Karikatur zurück zum Begriff; man hatte klein beigegeben und war doch bei seiner Ansicht geblieben.
Die Versuchung, sich dieser Erfindung öfter zu bedienen, als nötig war, lag nahe, aber daß sie sich beide davor hüteten, zeigte, wie gut sie zueinander paßten.
Zueinanderpassen heißt auch, von den Gefahren des Miteinander wissen, von denen der Schmirgel Gewohnheit eine der schlimmsten ist. Zuerst verschleift er die störenden Unebenheiten, aber dann kommt die Glätte, nichts greift mehr, keine Reibung, keine Reibungswärme, keine Reibungselektrizität, spannungsloser Zustand, Langeweile, ein Leben zu zweit nach außen hin, und wenn es gut geht, Trennung, und wenn es schlecht geht, Goldene Hochzeit so.
Fran und David hatten Glück: Sie kamen nicht zur Ruhe, nicht zu jener Ruhe, in der Fahrrinnen versanden. Diese Ruhe kann wie Bewegung erscheinen. Ebbe und Flut sind Bewegung, aber die ist von Ewigkeit, und alle Abweichungen in Dauer und Stärke fallen, wo das so lange geht, zurück in eine Regel, und in den Augenblicken, da die Flut zur Ebbe kentert oder die Ebbe zur Flut, in den Waagemomenten des Stillwassers, sinken Schlamm und Planktonreste zu Boden, und der wächst, und einmal ist nicht mehr freie Fahrt, wo neulich noch freie Fahrt gewesen ist. Und sie hatten Glück, die beiden: Ihr großer Streit kam früh.
Fran bestand auch später darauf: Der Anlaß und die Umstände hatten zu ihnen gepaßt, und es wunderte sie nicht, daß David sich nicht erinnern mochte. Er entsann sich der Geschichte allenfalls bis dahin, wo sie gerade noch lachhaft war. Wenn schon die Rede darauf kam, hielt er sich wortreich an diesen Teil, denn in dem anderen sah er nicht gut aus. Und dieser andere Teil verjährte nicht. Den einen konnte man lachend erledigen, der war vorbei, die Torheit war vorbei, diese Torheit jedenfalls war längst vorbei. Der andere aber konnte höchstens vergeben werden, vergessen nicht, und deshalb kam er nicht vor in Davids Erinnerung.
Fran wußte noch jedes Wort, und der Baum stand immer noch da am Wasser, aber als sie einmal nachgesehen hatte, war der Ring nicht mehr dagewesen oder nur nicht zu sehen; vielleicht war Holz um ihn gewachsen, oder eine Elster hatte sich an ihren Ruf gehalten. Ein Verlobungsring, einer von zweien, einer im Baum und der andere im Wasser.
Werfen hatte sie nie gekonnt, nicht weit und nicht geradeaus, und es sah lächerlich aus, wenn sie warf, und es war lächerlich gewesen, daß sie die Ringe geworfen hatte, einen ins Wasser und einen in einen Baum. Der hatte auch ins Wasser gesollt, aber er war in den Baum geflogen, und das hatte alles gerettet.
David hatte von Anbeginn alle Schuld auf Annette Wunder geschoben, aber Fran hatte ihm immer widersprochen. Natürlich wäre es ohne Annie, wie Davids Wirtin in Fach- und Freundeskreisen genannt wurde, nicht zu dieser Verlobung und so auch nicht zu diesem Streit gekommen, aber am Ende hatte ja nicht Annie die Ringe gekauft, sondern David hatte es getan, und Frau Wunder hatte allenfalls den Anlaß zur großen Auseinandersetzung beigesteuert, nicht aber deren Ursachen. Der Anlaß bestand in einer Ansicht, in Annettes Ansicht, daß unter ihrem Dach niemand zu jemandem ins Bett kriechen dürfe, wenn nicht die an solchem Tun Beteiligten die Absicht wenigstens glaubhaft machen könnten, ihre Beziehungen bei nächster Gelegenheit ins amtliche Register zu bringen.
Bei einer beliebigen Zimmerwirtin wäre das nicht erstaunlich gewesen, aber Annette Wunder war in kaum einer Hinsicht beliebig. Sie war die Prinzipalin eines Marionettentheaters von beachtlichem Ruhm, und sie war reizend, als David sie aus dienstlichem Anlaß besuchte. Zuerst kochte sie Tee. Dann reichte sie selbstgebackene Plätzchen. Dann zeigte sie David ihre Oblatensammlung, und es nahm David sehr für sie ein, daß diese bedeutende Persönlichkeit von ihrem Hort aus Lackbildern fast kindlich schwärmen konnte. Dann erfuhr David etwas von Annies Jugend in dem Städtchen Marne, Süderdithmarschen, einer Gegend, in der auch Pole Poppenspäler zu Hause gewesen und durch die der Puppenspieler Georg Wunder gekommen und nicht gegangen war ohne Annette, die Tochter des Papierwarenhändlers. Dann wurde David nach seinem Zuhause ausgeholt, und gleich darauf war er künftiger möblierter Untermieter bei Frau Annette Wunder, fünfzig Mark monatlich auf die Hand und hin und wieder ein wenig Formulierungshilfe fürs Programmheft, abgemacht. Dann und von da an wurde David von Annie Wunder geduzt, und dann und von da an, wann immer er wollte, durfte er den Probenarbeiten beiwohnen, und natürlich durfte er eine Fotografin mitbringen, und natürlich durften beide ausführlich in Wort und Bild berichten, und zuerst durfte die Fotografin den neuen Untermieter auch am Abend besuchen und am Morgen wieder heimwärts gehen, aber dann ging das nicht mehr, dann mußte eine Verlobung sein.
Dies mochte ein Tick sein, und sie mochte ihre Gründe für diesen Tick haben, denn ihr Poppenspäler Georg hatte sein Lebtag fröhlich an der Verfestigung eines odiosen Rufes mitgewirkt und mit allen Poppen gespält, die eben mit sich spälen ließen, und das waren nicht wenige gewesen und für Annette Wunder viel zuviel; so hatte sie also Gründe, aber dennoch konnte David es kaum fassen, daß ausgerechnet sie ihm mit Verlobung kam.
Verlobung war ähnlich altbacken wie Einsegnung oder Poesiealbum oder Oblaten aus buntgelacktem Papier, und David dachte schon an neuerlichen Umzug, aber Fran nahm das leichter.
Unter heftigem Gekicher verfaßten sie eine geschwollene Verlobungsanzeige, und David fertigte nach Feierabend in der Setzerei der Rundschau einen einmaligen Sonderdruck davon, den legte er Annie Wunder vor.
Sie las den Schwulst zufrieden, aber dann wollte sie den Verlobungsring sehen, und den hatte David nicht.
Es war nicht mit ihr zu reden. David versuchte, ihr klarzumachen, daß im Handel weder goldene noch silberne Reifen zu haben waren und daß für ein Geschäft hinter der Tür sein Geld nicht reichte und daß doch wohl überhaupt so ein Ring, so ein Vogelring, weniger wichtig sei als das nunmehr vollzogene und schriftlich bestätigte Verlöbnis. Annie aber ließ die Handelslücke nicht gelten, und sie zitierte aus Georg Wunders grundlegender Theorie des Puppenspiels jenen Satz, demzufolge ein Sachverhalt kein eigentlicher Sachverhalt sei, sofern er sich nicht in Zeichen fassen lasse.
Also, verlobt war nicht, wer kein Zeichen davon trug, und verlobt mußte sein, wer Annies Untermieter bleiben wollte.
David wollte gern, denn die Wohnung lag nahe der Redaktion, und dank Annette Wunders Bedeutung waren immer Kohlen im Keller, und Gäste aus aller Welt kamen ins Haus, und man wußte von Wirtinnen, denen auch eine gedruckte Verlobungsanzeige lange nicht Ausweis genug war, um außerehelichen Beischlaf unter ihrem Dache zu dulden.
Da tat David zehn Schritte und kaufte die Ringe, aber die zehn Schritte waren ein gewaltiger Satz, waren ein moralischer Salto mortale, ein halsbrecherischer Akt, ein Gang, ein Vorgang von solcher Inkonsequenz, wie es sie bis dahin in Davids Leben noch nicht gegeben hatte.
»Was darf es sein, mein Herr?« sagte der Verkäufer.
»Ringe, bitte.«
»Eheringe, der Herr?«
»Nein, Ehe nicht, das heißt, ja, Eheringe.«
»Wenn ich Ihnen da einmal etwas zeigen darf, mein Herr, wir haben gerade einige neue Muster hereinbekommen, oder dachten Sie an die traditionelle Form, rund und glatt?«
»Lieber rund und glatt, und wenn Sie welche einfach mit Auflage haben …«
»Selbstverständlich, mein Herr, preiswert und geschmackvoll, die Möbel kosten schließlich auch Geld, wie wäre es mit diesen, darf ich mal, paßt ausgezeichnet, und haben Sie die Maße von Fräulein Braut, wenn ich mal so sagen darf?«
»Wie mein rechter kleiner Finger.«
»Das wäre dann dieser, mein Herr, sechsundvierzig Mark das Ganze, mal den Tageskurs sind’s dann zweihundertachtzig sechzig, sagen wir zweihundertachtzig Ost, wenn’s recht ist, geb ich Ihnen kein Kästchen, am besten, Sie knoten die Ringchen ins Taschentuch, auf Wiedersehen und viel Glück im neuen Leben!«
Der Ausdruck traf: neues Leben. Frisch beflecktes Leben, Lebenswechsel, Wechselkursleben, Kurswechsel, von nun an schiefe Bahn, das hätte David Groth nicht gedacht von David Groth.
Der hatte zweihundertachtzig Mark zum Kurse von eins zu sechskommazehn getauscht, und nun war ihm, als hätte er den bisherigen David Groth durch sechskommazehn geteilt. Blieb ein Sechsundvierzigmarks-Groth, ein Sechstel-David, ein David Groth mit so dünner Auflage, daß er fast schon eine Fälschung war.
Ein Irrsinn. Ein Irrsinn in zehn Schritten. Zehn Schritte auf der Friedrichstraße anno einundfünfzig: »You are entering the American Sector«, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, »Was darf es sein, mein Herr? … Viel Glück im neuen Leben!«, zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, »Sie betreten den Sowjetischen Sektor von Groß-Berlin«, David Groth ist wieder da, um zweihundertachtzig Mark leichter, um zwei Verlobungsringe schwerer; erleichtert, weil nicht ertappt bei Währungsverbringung, und beschwert von Schuld und mit einem Riß versehen, der nicht heilen wird.
Nie? – Franziska wußte: Wahrscheinlich nie! Es fiel ihr schwer, das zu verstehen, aber es zu sehen war ihr leicht. David hatte seine Art, Dinge auszulassen, wenn es ans Erinnern ging, und ein Apostroph war hier ein Ausrufezeichen. Er hatte seine Technik, begangene Fehler so lange zu wenden, bis er ihre komische Seite gefunden hatte; dann konnte er sie bewältigen. Aber mit der Geschichte ihrer Verlobung der Annette Wunder zu Willen kam er nie zu Rande; die hatte einen Sektor, den er nicht mehr betrat. Da saß ein Apostroph, wenn es ans Erzählen kam, und natürlich kam es manchmal ans Erzählen, Stichworte wie Annette Wunder oder Krach zwischen Liebesleuten oder Damals in Berlin genügten.
Fran wußte, diesem David tat es weh, daß er nicht heil durch das Berlin von damals gekommen war, und wenn es auch einem Dritten völlig verrückt hätte erscheinen müssen, so wußte sie auch, daß ohne ihre lächerlichen und zur Hälfte verunglückten Wurfübungen am Spreeufer aus der Ehe von David und Franziska Groth wahrscheinlich nie etwas geworden wäre.
Davon nun sprach er wieder gerne: von ihren ungelenken und nur halbwegs erfolgreichen Bemühungen, zwei Ringe in die Spree zu schleudern: »Ich dachte schon, in ihrer Wut hüpft die nun gleich selbst ins Wasser, und ich sah mich nach einem trockenen Plätzchen für mein Parteibuch um, das hätte nur Ärger gegeben mit den Wasserflecken beim nächsten Kassieren, und die schreit immerzu, wegen Annette Wunder will sie keinen Ring an den Finger, sie ist keine Kasperlefigur von der Marionetten-Witwe, aber ich bin eine, ich bin der blödeste Holzkopf aus Annie Wunders Poppenensemble, mit meinem Charakter passe ich in Annies Oblatensammlung, flach und oberflächlich angelackt, wie ich bin! Mich dreht es noch heute auseinander, wenn ich daran denke: Die Fenster in der Kaserne gegenüber liegen voller Polizisten, und die da hat den Veitstanz und erklärt Georg Wunders grundlegende Theorie des Puppenspiels für Mumpitz und ernennt Annette Wunder zur letzten Monopolkapitalistin der DDR, und die Neue Berliner Rundschau ist ein mieses Käseblatt, und ich bin ein obermieser Käseblattredakteur, und eher heiratet sie einen Hundefänger, als daß sie mir den Finger reicht für meinen dämlichen Hühnerring, und dann fliegt der eine Hühnerring ins Wasser, und der andere landet in einem Baum, und da hängt er wohl heute noch!«
Fran nahm es hin, daß sie in dieser Darstellung etwas exaltiert aussah, und daß er von den Worten, die sie wirklich gesagt hatte, kaum eines wiederholte, war ihr nur recht.
Denn frei von zeitbedingter Hysterie waren die auch nicht gerade gewesen, und so übermäßig spaßig war es nicht, zu denken, daß sie des Streites wegen einander ausgewichen waren. Schuld an ihrem großen Zorn waren weniger seine albernen Rechtfertigungssprüche und die wütenden Bezichtigungen, die unausweichlich folgten, als er mit seinen halbherzigen Späßen nicht durchdrang zu ihr, schuld war die Enttäuschung.
Ost und West und dieser Ismus und jener Ismus und CDU und SED und Adenauer und Grotewohl und Schwindelkurs oder nicht, das war ihr alles nicht so wichtig; Arbeiterklasse, Ausbeutung, Revolution und Weltfrieden, das waren kaum mehr als Schulbuchbegriffe, ebensowenig angezweifelt wie das spezifische Gewicht von Kupfer oder die Länge des Äquators, das gab’s eben, aber was sollte es ihr? Natürlich war sie für den Frieden, was denn sonst? Selbstverständlich war sie gegen die Atombombe, wie denn anders? Auf keinen Fall wollte sie, daß die einen praßten und die anderen hungerten, was glaubt ihr denn? Wenn sie schon für wen war, dann war sie für die Anständigen gegen die Unanständigen, für die Wahrheit und nicht für die Lüge, und sicher für Gerechtigkeit und für Mut und für Konsequenz.
Deshalb hatte sie ja diesen David gemocht. Der hatte seine Überzeugungen, weil er seine Erlebnisse hatte. Dem waren die Nazis nicht irgendwelche verkleideten Männer, die Umzug durch Weißleben machten; der konnte sie hassen, weil er sie fassen konnte. Der dachte nicht zuerst an Schule, wenn von Klasse die Rede war; da kam der leichter klar mit Marx und Engels. Der war in der Partei und gehörte da wohl auch hin.
Aber sie gehörte nirgendwohin. In keine Klasse so recht, nach Weißleben so recht nicht mehr, nach Berlin auch nicht, weil es das mit diesem einen Wort nicht gab, denn da gab es zweie, und wohin also gehörte sie?
Deshalb hatte sie diesen David gemocht. Der hatte gewußt, wohin er gehörte.
Und dann tat er das! – Es war ihr wichtig, von ihm nicht falsch verstanden zu werden: Sie war nicht die sagenhafte Genossin ohne Parteibuch, die dem irrenden Mitglied mit Instinkt aushalf, wo es ihm an Bewußtsein fehlte. Sie nahm keine Fahne auf, die er fallengelassen. Sie respektierte die Verbote nicht, die er gebrochen hatte. Sie hätte, um es sehr genau zu sagen, die Ringe selber gekauft und sich den Teufel um den Klassenfeind geschert.
Worum sie sich scherte, war er. Er hatte seine Gründe gehabt, nicht zu denen zu gehen mit seinem Geld. Er hatte seine Gründe gehabt, die Schilder auf der Friedrichstraße als Grenzschilder zu sehen zwischen Freund und Feind. Er hatte seine politischen Gründe gehabt, aber sie hatte keine politischen Gründe, jetzt mit ihm zu hadern.
Sie hatte nur genug gehabt von den Leuten mit zwei Gesichtern und geglaubt, in David einen gefunden zu haben mit einem Gesicht für alle Gelegenheiten. Aber David hatte sich nicht durchgehalten.
Das sagte ihm Fran dann auch, während sie gegenüber der Polizeikaserne an der Spreereling standen und stritten. Der Gang um die Museumsinsel war einer der Pausentörns, die sie immer drehten, wenn sie über Tag Zeit füreinander fanden, und sie hatte nicht ahnen können, daß ausgerechnet hier und an diesem Tag ihre Zeit miteinander ein Ende finden sollte auf lange Zeit. Er war lustig, als er sie anrief, und er war lustig, als er sie abholte, und er war immer noch lustig, als er ihr von seinem Ringkauf erzählte.
Aber da merkte sie doch schon, daß er manchen Ton erzwang, und zuerst wollte sie ihm nur helfen, die angequälte Lustigkeit fallenzulassen, als sie ihn beschimpfte. Erst als er sich mit Witzen verteidigte, die ihm zusehends pappiger gerieten, griff sie ihn heftiger an, und erst mitten im Streit begriff sie die wahren Gründe ihres Zorns. Das konnte nicht gut gehen. Er verzieh sich selber schon nicht mehr und konnte nicht vertragen, daß sie ihm sagte, was er wußte.
So nahm das seinen Gang. Was eben noch albern hieß, wurde jetzt zynisch genannt. Was Unverständnis war, sprach sich wie Haß aus. Enttäuschung bekam den Namen Verachtung. Innerlich drängten beide sich und den anderen: Nun hör doch auf!, und laut sagten beide dem anderen: Nun hör mal zu, Mensch! Und was der andere dann hörte, machte die Katastrophe.
Welch ein Glück dann am Ende, daß Fran immer noch ein so junges Mädchen war, unerprobt in einem solchen Streit und deshalb gezwungen, sich Gebärden auszuleihen bei mäßigen Büchern und mäßigen Filmen, zum Beispiel die: Wenn zweie Krach miteinander haben und sie sind verlobt oder verheiratet, jedenfalls etwas Beringtes, und es soll nun Schluß sein mit der Sache, ein neuer Sachverhalt soll her, Trennung auf immerdar und Nimmerwiedersehn, dann braucht der Sachverhalt ein Zeichen, und dieses geht dann so: Die Braut, respektive Gattin, zieht ihren Ring vom Finger und feuert ihn durch die gute Stube; in der Ecke klingelt es noch einmal leise, und dann ist es still, und dann, weiß man, ist es aus.
Franziska zog den Ring nicht vom Finger, denn sie hatte ihn gar nicht erst aufgesteckt; sie hielt die beiden Ringe in der Hand und hätte die Hand nur zu öffnen brauchen, den Rest hätte die Schwerkraft besorgt, ein kaum hörbarer Doppelglucks und Ende.
Aber Franziska hatte ihre Bücher gelesen und ihre Filme gesehen, und so schelte man die Bücher und die Filme nicht, denn so kam die Gerechtigkeit ins Spiel, die man auch Humor nennen kann, jene Heiterkeit, die auf Verständnis beruht. Etwas jedenfalls, das es gut mit ihr und dem David meinte, gab ihr den großen Bogen ein, auf dem die Ringe ins Wasser fahren sollten, erst der eine und dann der andere auch. Der eine Schuß ging gerade noch an; zwar wurde da entschieden zuviel Aufwand mit dem Körper getrieben, der Schwung hätte auch einen Medizinball weit ins Wasser gebracht, und schon schmerzte das Schultergelenk vom hyperbolischen Einsatz, aber immerhin, der Ring war weg, das Ding war weg, dreiundzwanzig Mark West, einhundertvierzig Ost, der Gestus war gelungen, die Gebärde kam erst nach den Worten, aber sie unterstrich sie doch eindrucksvoll, hier konnte nichts mehr mißdeutet werden.
Nun noch das andere Zeichen zum bösen Sachverhalt hinterher, und das würde das Ende sein.
Aber jenes Etwas, das es gut mit Franziska und David meinte, sorgte noch einmal und noch ein wenig mehr für Übertreibung, und so fuhr der zweite Ring gegen den Himmel auf und blieb in einer trockenen Linde hängen, und als Fran und David voneinandergingen, der eine nach hier und der andere nach dort, da sahen sie in ihrem blinden Schrecken noch nicht, daß neben dem Ring im Baum an der Spree ein großes Gelächter hockte.
Doch es saß dort, und der Grimm starb, und an einem grauen Junimorgen, grau nicht nur, weil Regen fiel, denn es war der siebzehnte Tag im Monat Juni, brachte der verläßliche Zufall, jenes humoristische Etwas, den Genossen David Groth auf dem Strausberger Platz an die Seite eines jungen Mädchens, das sich anschickte, einen schreienden Mann in Maurerhosen zu fotografieren. Da waren die ersten Worte, die die beiden nach zwei Jahren miteinander sprachen, die: »Bist du verrückt, die haun dir den Kasten über den Kopf!« und: »Aber die Hosen, mit seinen Hosen stimmt was nicht!« und: »Hier stimmt noch mehr nicht, aber komm jetzt weg!« und: »Und du, bist du nicht selbst verrückt, hier mit dem Abzeichen an der Jacke!« und: »Ich hab keine Angst!« und: »Dann hast du noch nicht richtig zugehört!«
Das wurde ein langer Tag, entsetzlich lang und wunderlang, lang wie ein alter Krieg und lang wie eine alte Mär, lang wie ein Schmerzenslaut und lang wie die Jugend, ein Tag, der schrecklich zu Ende ging und gut, ein Tag, der dem Schreien ein Ende machte und einem Schweigen, kein Feiertag und ein Feiertag.
»Ich will hier fotografieren«, sagte Franziska, »da machst du entweder dein Abzeichen ab, oder du gehst weg. Ich will deinetwegen keine Dresche kriegen. Ich will Bilder machen, das kriegt hier nie wieder einer zu sehen.«
»Hoffentlich«, sagte David und zog das Abzeichen aus dem Revers. Aber das bewahrte sie doch nicht vor zweimal Prügel.
»Was bist du denn für ein Journalist?« sagte Fran nach dem erstenmal. »Du sollst hier doch nicht agitieren, du sollst beobachten.«
»Ich scheiß dir aufs Beobachten«, sagte David, »wenn ich beobachte, wie sie Scheiben eintreten und Puppenlappen aus der Fahne machen, dann scheiß ich drauf.«
»Dann geh weg«, sagte sie, »die Sorki hat achthundert Mark gekostet und meine Augen noch mehr.«
»Hier geht was kaputt, was mehr gekostet hat«, sagte er, und sie schrie ihn an: »Nun nicht auch noch mich, du Blödmann, nun agitier du mich nicht, laß mich in Ruh, ich will arbeiten!«
Da ließ er sie arbeiten und fing sich eine Faust ans Ohr ein, als er einem Zimmermann an den Hals wollte, der ihr auf den Arm geschlagen hatte.
»Hatte der eine Axt?« fragte er, aber sie legte gerade einen neuen Film in ihre Sorki.
Von da an sah er diesem siebzehnten Juni zu und dieser Franziska Grewe. Er sah das Sektorenschild an der Friedrichstraße zersplittern und auch das am Haus Vaterland, Potsdamer Platz, und er sah auch den Brand im Kaufhaus dort, und ein Buch von Kellermann sah er unter abgetragenen Schuhen und eine Frau mit einem Taschentuch im Mund, und er sah Steine aus einem Hause fliegen, das aber schon lange und immer noch eine Ruine war, er sah die Scherengitter vor dem Haus der Ministerien und einen Radfahrer unter seinem zerbrochenen Rad und ein OdF-Abzeichen an der Jacke eines Mannes, dem sie den Arm ausrenkten, und er sah sich nach Genossen um, fand aber nur wenige, denn man hatte ihnen am Abend vorher noch gesagt: Nur Ruhe, nun ist alles in Ordnung!, doch nun stand die Ordnung auf dem Kopf, und er sah die Leute, die dafür sorgten, und das schlimmste an ihren Gesichtern war, daß nicht alle die des Feindes waren.
Und er wußte nicht mehr genau, wer und was er selber war, als er merkte, daß er, auch noch, als ihm übel war von Furcht und Nichtverstehen, den Verlust und die Niederlage vor seinen Augen sekundenlang und gar minutenlang vergaß und zu träumen begann von Gewinn, Neugewinn, Wiedergewinn dieses Mädchens, das nicht anders zu sein schien als vor zwei Jahren und ganz anders doch, das fast widernatürlich ruhig schien in diesem Wirbel aus Recht und Unrecht und wenn nicht gelassen, so doch besonnen seine Arbeit tat. »Was ist mit dir«, sagte er, »regt dich das gar nicht auf?«, aber darauf bekam er keine Antwort.
Was für ein entsetzlich dummer Mensch, dachte sie, was für ein beschränkter Erbpächter der parteilichen Erregung, was für ein Alleininhaber positiver Moral! Wer nicht heult, der blutet auch nicht; wem nicht die Hände fliegen, der hat ein steinernes Herz; wer sich nicht die Lippen zerbeißt, der ist nicht betroffen! Die Frage wirst du mir noch büßen; die stopf ich dir zurück in den Hals.
Aber jetzt ist hier nicht die Zeit dazu. Jetzt will ich dies sehen und festhalten; jetzt hab ich einen Beruf, und eine Ahnung hab ich, daß man mich eines Tages nicht fragen wird: Wie laut hast du Empörung geschrien?, sondern fragen: Wo ist deine Arbeit?
Hier tanzt der Teufel Laurenzia; was hier durch die Luft fliegt, hat sich nicht verirrt, und ich werde euch das beweisen, Bild um Bild.
Wozu sonst hätte ich das Hinsehen gelernt und das Festhalten? Wozu anders wäre ich jetzt gut?
Geh mir aus dem Weg, Junge, bleib bei mir, aber geh mir aus dem Weg, jetzt bin ich Fotografin.