Es ist aber recht aufschlußreich, daß man einen Vorfall oder eine Geschichte oder auch ein Bild unerhört nennen kann und meint es so oder so.
Einmal ist die unerhörte Begebenheit eine gewesen, die noch nie dagewesen war in allen Tagen, welche vergangen bis zu dem Tag, an dem sich das Unerhörte begab. Und war sie doch dagewesen, so hatte man aber nicht von ihr gehört.
Dann jedoch – zur gleichen Zeit oder später, wer kann es noch sagen – gewann das Wort einen anderen Klang hinzu und zeigte Empörung an; die unerhörte Begebenheit war eine ohne Moral oder eine gar wider die guten Sitten.
Diese zweifache Fracht derselben drei Silben gibt zu denken und läßt einen Verdacht aufkommen, den man scheel nennen mag oder gehässig: Sollte am Ende der Doppelsinn eine Beziehung ausdrücken? Könnte es sein: zur Entrüstung genügte, daß etwas anders war? Anders, neu, gegen Erfahrung, Gewohnheit, Herkommen und Brauch? Waren ein Vorfall, eine Geschichte oder auch ein Bild in dem einen, im moralischen Verstande unerhört, weil sie es, eben weil sie es in dem anderen, dem zeitlichen, waren?
Waren sie es? Sind sie es?
Franziskas Bilder waren unerhört, und die Geschichte, die sie zu dem einen erzählte, war es auch, und unerhört war der Vorfall, von dem Franziska unter unerhörten Umständen erfuhr. Sie lag nämlich in den Wehen, und das ist zwar ein sehr hergebrachter Umstand, aber hergebracht ist auch, daß man in diesen Stunden verschont wird mit haarsträubenden Geschichten, und so war es unerhört, wenn Schwester Turo die ihre, die haarsträubend war im schlimmsten Sinne, dennoch an Franziskas Kindbett erzählte.
Es war eine Liebesgeschichte, die hatte mit Turos Haar zu tun, und Franziskas Bilder hatten mit der Geburt ihres Kindes zu tun, und alles war so unglaublich.
Fran hatte sich zu genau umgesehen, um eine Schwärmerin zu sein, und heilige Schauder waren ihr fremd, aber es war ihr doch seltsam, als sie mit ihrem Koffer in das Taxi stieg, und um sich davonzuhelfen, sagte sie dem Fahrer zur Adresse noch: »Ich geh jetzt Kinder kriegen.«
Der gönnte ihr einen Blick über den Innenspiegel und sagte: »Das steht Ihnen frei, Madame.«
Immerhin setzte er ihren Koffer auf die dritte Stufe der Kliniktreppe, und seine Weise, sich aus den Angelegenheiten seiner Fahrgäste herauszuhalten, war angenehmer als die Art der Pförtner und Aufnahmeschwestern, den Zugang mit Mutti anzureden.
Der Arzt hatte sich mit einer anderen Sicherung gegen die bestürzenden Vertraulichkeiten seines Berufs versehen: Er war aseptisch höflich und so altmodisch vornehm wie ein lübischer Senator. Er sagte gnädige Frau zu Fran und nannte ihren Zustand vorzüglich und überließ das Weitere der Schwester Turo.
An der war etwas, woran Fran sich festhalten konnte, sich ablenken von der verrückten Spannung, die sie zwar für zulässig und den Umständen angemessen hielt, die sie aber dennoch ableiten wollte auf das Außen hin; so hatte sie es immer mit sich gehalten.
Wenn Schwesterntracht gedacht war zu neutralisieren, durch Unform Form vergessen zu machen und durch Uniform Funktion zu betonen, dann war der Entwurf an dieser Schwester Turo gescheitert.
Fran sagte sich, die besondere Lage habe sie womöglich mit einem Sonderblick versehen, einem Überauge, und wahrscheinlich sei ihre Wahrnehmung nur ein Ergebnis der allgemein gesteigerten Empfindlichkeit, aber es half nichts: Schwester Turos Gestalt blieb ein Gleichnis für alles, was weiblich war.
Nur ihr Gesicht stimmte nicht zu dem übrigen, oder stimmte doch? Es war ein verwirrendes Gesicht; schön in fast allen Einzelheiten, im ganzen aber wie ein Bild unter verschrammtem Glas.
Vielleicht war die Haube schuld, die ein unmäßiges Ding war, so ein Nonnenhelm, dessen Rand beinahe auf den Augenbrauen saß und alles Haar verbarg. Oder war es die Glätte der Haut, eine glänzende Glätte, die durch Überstraffung kam, als wäre das Gesicht vom Kinn her bis hinauf in die verdeckte Stirn neu verspannt worden, und nun fehlten zur Schönheit die Falten?
»Sie haben sich eine gute Zeit ausgesucht«, sagte Schwester Turo, »das andere Bett in Ihrem Zimmer ist frei. Oder haben Sie lieber Gesellschaft?«
»Ich werde ja bald welche haben, und wenn es ans Jammern geht, bin ich gern allein«, sagte Fran und packte ihren Koffer aus.
Die Schwester sah den Fotoapparat. »Das Ungetüm hätten Sie aber zu Hause lassen können; jetzt sind Ferien.«
»Dann mache ich eben Ferienbilder«, sagte Fran, »dann knipse ich mal. Sonst fotografiere ich. Das Bett ist meine Strandburg, und Sie sind die nette Burgnachbarin, der man immer verspricht, ein Bild zu schicken. Und der Doktor ist der vornehme Herr, der am Strand entlangkommt und stets nur der Wellen und Möwen achtet. Ich hab es aus Gewohnheit eingepackt, und vielleicht lenkt es mich auch ab.«
»Davon lenkt nichts ab«, sagte Schwester Turo, »aber versuchen Sie es. Hier kann jede versuchen, auf ihre Art damit fertig zu werden.«
Doch, es stimmte, es war die Haut, die zu fest gespannt war. Die Lippen der Schwester bewegten sich, wenn sie sprach, aber sonst bewegte sich kaum etwas in diesem Gesicht, und wenn nicht die sehr dunklen Augen gewesen wären und winzige Fältchen wenigstens in den Ecken dort, wäre das schrecklich gewesen.
»Ich glaube, ich leg mich«, sagte Fran, »es wird schon wieder albern.«
Schwester Turo ging zur Tür. »Ich sehe nach den anderen, dann komme ich wieder.«
Fran zog sich aus und haderte mit sich, um den noch fernen, aber doch nahenden Schmerz zu übertönen, den sie mit einem unsinnigen Wort einen sehnsüchtigen Schmerz genannt hatte: Was war das nun wieder für ein Ausdruck: Es wird albern! Das war von der gleichen Qualität wie: Ich geh jetzt Kinder kriegen! Wenn etwas albern ist, dann das. Das ist diese blöde Burschikosität, die wir alle nicht ausstehen können. Damit fallen wir der Welt aufs Gemüt, und die verschanzt sich dagegen. Dann sagt so ein Taxifahrer eben: Das steht Ihnen frei, Madame. Der fährt sein Lebtag Ehekräche durch die Gegend oder widerwillige Theaterbesucher, und jede Nacht fragt ihn ein Besoffener: Bissu mein Freund?, und zur Entbindung hat er schon tausend Frauen gekarrt, da bleibt ihm nur: Das steht Ihnen frei!, sonst verwechselt er sich bald mit einem Fuhrmann des Schicksals und wird verrückt darüber.
Der Doktor hat sich diesen nördlichen Grauschlipsadel zugelegt, damit wir ihm nicht zu nahe kommen mit unserem Gejammere oder dieser so durchschaubaren Forsche, und die Schwester hat gleich zwei Tricks: Wenn du sagst, jetzt wird dir so, und es gar noch albern nennst, womit durchblicken soll, es ist durchaus nicht albern, sondern sehr ernst und höchst besonders, dann sucht sie die Tür und sagt, nun ginge sie erst einmal zu den anderen, damit du nicht vergißt, es gibt noch andere, und sie zeigt dir ihr Gesicht, das ist wie eines unter überspanntem Pergament.
Nein, ich will nie wieder so reden, als kriegte ich, hoppla, ein Kindchen, ich will nicht quatschen wie ein Bubikopf von Tucholsky, ich mach jetzt Schluß mit dem Rheinsberg-Schnodder, ich geb jetzt alles zu und gestehe: Es tut weh!
»Ich sage ja: Sie haben sich eine gute Zeit ausgesucht«, sagte Schwester Turo, »die anderen scheinen vergessen zu haben, wozu sie hergekommen sind. Ich habe Zeit für Sie, und die nehme ich mir auch immer, wenn es das erste ist. Geht es wieder?«
»Ach ja«, sagte Franziska.
»Dann ziehen Sie sich wieder an. Sie müssen noch genug im Bett liegen. Sie können mir zeigen, wie man mit so einem Apparat umgeht, dann knipse ich Ihren Mann, wenn er sein Kind besehen kommt.«
»Ich weiß nicht, ob er schon zurück sein wird. Er ist unterwegs, beruflich.«
»Das könnte sein Glück sein«, sagte Schwester Turo, »oder Ihres, ich weiß ja nicht.«
Das war eine etwas dunkle Bemerkung, aber die Schwester half: »Ich habe hinter der Besucherscheibe nur selten Fassung gesehen. Wenn man ein paar Jahre hinter dieser Tür gestanden hat, die Neugeborenen im Arm, und auf der anderen Seite immer nur Männer, die sich schrecklich zusammennehmen, damit man ihnen die Freude und die Verwirrung nicht zu sehr anmerkt, hundertprozentig ernst nehmen kann man sie dann nicht mehr.«
»Das muß man sowieso nicht«, sagte Fran, »meiner ist ganz gescheit, aber wenn er vom Friseur kommt oder wenn er so sinnend unter die Motorhaube guckt und versucht, wie der Herr Otto auszusehen, der den Motor erfunden hat, dann fragt man sich auch … Komisch, wenn man an Krankenschwestern denkt, denkt man eigentlich nie, daß sie verheiratet sind. Sind Sie?«
»Nein«, sagte Schwester Turo, »kommen Sie, sitzen Sie da nicht rum. Bewegung ist gut für alle Beteiligten.«
Fran ging auf den Gang hinaus und sah durch das Fenster einem Mann auf dem Klinikhof zu, der einen Schubkarren reparierte. Vielleicht bin ich doch zu früh gekommen, dachte sie, herumlaufen und warten könnte ich auch zu Hause. Aber diese Schwester ist angenehmer als Frau Mauer; wenn Frau Mauer erzählt, wie inständig anders es früher gewesen ist mit dem Kinderkriegen, das hab ich nun lange genug gehört: Ich sage immer, Frau Groth, viel heißes Wasser und eine erfahrene Hebamme, inständig, Frau Groth, da schenke ich Ihnen jeden Doktor, das ohnehin.
Diesem freilich, dem Chef, der jetzt durch die Flügeltür kam, hätte auch Frau Mauer vertraut: Inständig, Frau Groth, der Mann ist eine Erscheinung!
»Na, gnädige Frau«, sagte der Arzt, »hier ist wohl nichts zu holen für Ihre Kamera.«
»Das weiß man nie«, sagte Fran, »aber ich habe gar nicht um Erlaubnis gefragt. Darf ich?«
»Selbstverständlich, wenn es Ihnen Spaß macht. Nur sehe ich so gar nichts hier. Wie fühlen Sie sich? Vorzüglich, nicht wahr? Sehr schön, wir sehen uns ja bald.«
Vielleicht hätte ich ihn fragen sollen, ob ich ihn aufnehmen darf, dachte Fran, es wäre interessant zu sehen, ob der sich dabei auch verändert. Aber dann fühlte sie, daß sich der Schmerz wieder bereit machte, über sie herzufallen, und sie ging in ihr Zimmer.
Schwester Turo sagte: »Sie müssen nicht Ihre Zunge verschlucken, nur weil Sie nicht jammern wollen. Jammern hilft zwar nicht, aber wer weiß das schon, wenn ihm so ist. Nur Angst sollten Sie nicht haben.«
»Es ist schon vorbei«, sagte Fran. »Der Professor hat mich mit der Kamera erwischt, aber er hat gesagt, ich darf, wenn ich etwas finde. Wenn Sie da stehen bleiben, mache ich von Ihnen …«
»Nein«, sagte die Schwester und ging zur Tür. Dann blieb sie stehen, stand lange still und ging schließlich wieder zurück an den Platz am Fenster. »Es ist Unsinn, machen Sie nur. Viel wird sowieso nicht zu sehen sein von mir, so mit dem Rücken zum Licht.«
Fran lachte erleichtert: »Stimmt, aber ich kann Ihnen verraten: Das, was von Ihnen bei dem bißchen Licht zu sehen ist, kommt bei anderen Frauen nicht einmal heraus, wenn sie ihren Schneider mitgebracht haben und ich mit Lampen und Schatten nachhelfe.«
»Gott im Himmel, erinnern Sie mich nicht«, sagte Schwester Turo, »das war einmal, ich weiß es. Vielleicht darf man so etwas nicht sagen, aber da es vorbei ist, sage ich es: Einmal war ich schön.«
»Ich will mich nicht mit Ihnen streiten«, sagte Fran, »nur weiß ich nicht, warum Sie die Vergangenheitsform wählen.«
»Weil es Vergangenheit ist. – Wenn ich wüßte, Sie sind nicht sehr empfindlich, würde ich es Ihnen erzählen. Und wenn ich wüßte, daß Sie nicht denken, ich warte hier immer nur auf jemanden, dem ich es erzählen kann. Dabei weiß ich nicht einmal, ob es nicht doch so ist. Es ist wahr, ich hab lange nicht darüber gesprochen, aber daß ich nicht darüber hätte sprechen wollen, ist nicht wahr. Man kann sehr allein sein, wenn man Pech gehabt hat, und wenn man davon redet, ist man es nicht ganz so. Sie können mir gleich sagen, ob Sie es hören wollen; ich laß mich rasch noch einmal bei den anderen Damen sehen, dann haben wir Zeit.«
Franziska war nie sehr scharf auf die Unglücksgeschichten anderer Leute gewesen, und sie hatte mehr als einen Streit mit David gehabt, weil der ein fast süchtiger Zuhörer und Ausforscher war, Unglück oder Glück, Banales oder Ausgefallenes, er raffte alles an sich, was anderen geschehen war, und wenn er auf jemanden stieß, der seine Sache verschlossen hielt, war er beleidigt und wurde mißtrauisch: Was hatte der zu verbergen?
Fran fürchtete, in Pflichten zu geraten, nach denen es sie nicht verlangte. Man konnte doch nicht einfach zuhören, die Geschichte schlucken und dann schweigen; es wurde eine Meinung von einem erwartet und ein Urteil, und sie war froh, wenn sie für ihr eigenes Leben auf ein Urteil kam.
Und doch war es ihr jetzt recht, Zuhörerin zu sein, auch wenn die Schwester nichts Gutes verheißen hatte, denn wenn sie sich im Augenblick auch fühlte, als sei alles blinder Alarm gewesen, so wußte sie nun schon, wie rasch sich das ändern konnte, und das Warten darauf setzte ihr zu.
»Ich hab mich schon öfter mit dem Chef gestritten«, sagte Schwester Turo im Hereinkommen, »ich behaupte, es muß an bestimmten Tagen in der Luft liegen, daß die Männer zu ihren Frauen ins Bett kriechen, und ein Dreivierteljahr später stehen sie dann verwirrt hinter der Glasscheibe; anders ist es nicht zu erklären: Mal ist es so still wie jetzt, und dann wieder denkst du, du bist auf dem Weihnachtsmarkt. Der Chef hält nichts von meiner Theorie. – Ich war vorhin ein bißchen komisch, aber ich habe mich seit einer Ewigkeit nicht mehr fotografieren lassen. Ich hab mir eben gesagt, wenn eine den Mumm hat, jetzt noch mit dem Fotoapparat zu hantieren, dann kann ich ihr auch sagen, warum.«
Dann sagte sie es, und manchmal dachte Franziska, jetzt wäre es besser, sie hörte nicht mehr zu, aber dann sagte sie sich wieder, nein, das ging nun nicht mehr; sie hatte der Schwester auf irgendeine Weise Mut gemacht, wie, wußte sie nicht genau, aber sie wußte, sie würde ihr den Mut nehmen für lange Zeit, wenn sie jetzt bremste, was da in Gang gekommen war.
Das Arrangement war etwas seltsam: Die Schwester saß in der Fensterecke auf dem Besucherstuhl und sprach, und Franziska ging langsam zwischen Wand und Wand hin und her und hörte zu. Wenn Turo stockte, blieb Fran stehen, und so kam sie ohne ermunternde Worte aus und gab doch ein Zeichen, daß sie bei der Sache war.
Die Sache war zunächst nichts anderes als eine etwas altmodisch klingende Liebesgeschichte, und zuerst hatte Fran Mühe, mit ihrer Vorstellung den Worten Turos nachzukommen, denn der Bericht ging von einer sehr entlegenen Gegend und von Haltungen, die sehr vergangen schienen.
Mein Gott, ein Frauenroman aus der Lüneburger Heide, dachte Fran, als Turos Rede von Wanderarbeitern war und von einem schwarzäugigen Kerl, dem es eine Ernte lang bei ihrer Mutter gefallen hatte, und dann das alte Lied: Ein Kind und kein Vater dazu, blödes Gerede im Dorf, fürchterliche Kinderverse, Weibertratsch von Zigeunerbalg und Hurenkünsten, Katenkammer und Mutterjammer, die Schule, der uralte Alp, ein Pastor, hilflos in seinem Zorn und schrecklich in seinem Mitleid, Starrsinn der Mutter, die nicht fortwollte trotz alledem und nun gerade nicht, gefährliche Freundlichkeit der Männer nach dem sechsten Schnaps und in der dunklen Scheunenecke und der Haß dann, wenn es nichts war mit dem raschen Spaß, die Mutter rackert sich ab, wenigstens da soll man ihr nichts nachsagen können, und das andere: wenigstens ihrem Kind soll man es nicht auch wieder nachsagen können, also: Wo warst du, wo willst du hin, dahin gehst du nicht, du bleibst hier, dir soll es nicht so gehen, geh ins Bett, warum schläfst du noch nicht, was wollte Krügers Willi heute von dir, wozu diese Schleife, willst du sie noch wilder machen, in die Stadt niemals, wir bleiben hier, es kann doch nicht so bleiben, es ändert sich manches, hier muß es auch noch werden.
Aber der Roman spielte nicht in der Lüneburger Heide, sein Schauplatz war die Uckermark, und wenn Fran auch noch nie dort gewesen war, jetzt war sie dort; die Schwester vermochte zu sagen, was sie sagen wollte. Sie beschrieb einen Herbst am Haff, der alle Erinnerung an Sommer und Feriengäste und Badestrand erschlug. Regen ab September, Nebel ab Oktober, Nässe das halbe Jahr, nasse Wiesen, nasse Wege, feuchte Wände, feuchte Wolle, der Schnee hält sich nicht lange, aber die Gräue des Wassers im Haff hält sich auf Ewigkeit, und ewig quietschen die Windräder der Wasserpumpen im Haffsumpf; hält der Wind an, saufen die Wiesen ab, aber der Wind hält selten an, die Pumpen stöhnen, und die Menschen in all der Feuchte am Rande des Landes saufen und halten den Landesrekord und glauben an Hexen, und was man das Neue nennt, kriegt den Fuß nur schwer auf den nassen Boden.
Zwar, der Bürgermeister wettert: Sie haben jetzt Traktoren hier und Mähdrescher in der Genossenschaft und keinen Gutsbesitzer mehr und eine Mittelpunktschule mit zwei Fremdsprachen und die Gleichberechtigung der Frau vor Arbeit und Lohn und die Fürsorge für die Mütter, auch die ledigen, und eine wissenschaftliche Aufklärung, die kein Hexengerede und keinen Zigeunerquatsch duldet, das ist die neue Zeit, die ist kein leerer Spruch, die ist Wirklichkeit, und wehe, er kriegt einen zu fassen, der etwas über Turo sagt.
Aber er kriegt keinen zu fassen; Turo muß sich selber helfen, und sie hilft sich auch. Sie arbeitet und sie liest, und eines Tages wird sie fortgehen.
Aber dann kommt ein Tag, da meint sie, nie wird sie fortgehen, denn das, worauf sie gewartet hat, ist jetzt hier, ist gekommen und bleibt. Es ist ein Mann, aber es wäre nicht richtig, zu glauben, sie hätte auf nichts anderes gewartet als auf einen Mann, gewartet hat sie auf das, was der Mann ist: die Ruhe, die schöne Selbstverständlichkeit, der Schutz, der unversteckte Spaß, der klare Blick auf ein Ziel, die Sicherheit, die Zärtlichkeit, die in der Stärke wohnt, der Anfang eines neuen Lebens.
Noch braucht das neue Leben Geduld, noch wohnt der Mann mit anderen zusammen in einem Wagen, noch ist seine Arbeit in ihrem Anfang, noch geht sie vor und hält ihn lange auf, aber, und das ist der Ausschlag, er wird bleiben, er wird der neue Meister der Pumpenstrecke sein, er wird hier bauen, für sich und für Turo. Bis dahin ist noch kein anderer Platz für die beiden als im Unterbau der großen Flügelpumpe; dort dreht sich zwar die Welle, sie dreht sich erstaunlich schnell auch bei trägem Wind, dort beißen zwar die Zähne des Getriebes ineinander, sie schnappen kreischend zu, daß es sich bedrohlich anhört in der Nebelstille, aber den Unterbau trennt ein Gitterkäfig von dem Rest der Welt, eine Türe ist verschließbar, eine Leiter geht es hinab, in die Nähe von Wellen und Rädern zwar, aber da ist auch eine trockene Planke und zwei dicke Decken und ein Kissen sogar, und ein Platz, an den niemand sonst kann, ein Platz für Turo und ihren Mann.
Seltsam, dachte Fran, als sie erzählte, wie häßlich es war, hatte ich Furcht, es würde noch häßlicher werden, und jetzt, da sie sagt, wie schön es war, fürchte ich mich noch viel mehr. Sie spricht von dem Schönen wie von etwas Totem, das ist es, und ich höre zu und müßte doch wissen: Das ist jetzt keine Geschichte für mich, denn sie geht nicht gut aus, und ich stecke selber in einer Geschichte, von der man weiß, daß sie manchmal noch ein häßliches Ende hat.
Es ist unerlaubt, was diese Schwester macht, es ist gegen alle Regel, ich hab ein Recht auf regelrechte Behandlung, ich merke doch, es zieht schon wieder heran, das Kind ist fast schon auf der Welt und muß gleich solche Sachen hören, was soll es denn denken von uns und der Welt?
Dann merkte Fran, daß sie stehengeblieben war und sich am weißlackierten Bett festhielt, und sie spürte, wie der Schmerz noch weit in der Ferne kehrtmachte, oder wenn nicht kehrt, so doch halt, und jetzt lagen die Dinge wieder anders, jetzt war ihr leicht, und sie war stark, wer sagte da, daß sie die Kraft nicht hätte für ein böses Märchen aus der Uckermark; den wollte sie sehen, und jetzt wollte sie diese Moorballade weiterhören, mochte es gehen oder brechen, und lange konnte es so nicht mehr dauern, die Geschichte nicht und das Warten nicht, und das eine verging mit der anderen, da hörte sie doch besser zu.
Turos Erzählung kam an ihr schlimmes Ende dort, wo sie gerade schön geworden war:
Eine begreift eben, was Glück ist, was einer einer sein kann und eine einem; sie pfeift auf das Dorf und hört nicht auf der Mutter Vergleiche zwischen dem Wanderer damals und diesem hier, der andere war ein Schatten, und dieser ist Fleisch und Blut, der andere war der Beginn des Unglücks, und dieser ist der Beginn des Glücks, den anderen hat es nie gegeben, und diesen wird es für immer geben, da geht sie an jedem Abend zu der lustigen Pumpe, ganz oben schwingt sich das mächtige Blätterrad durch den Wind, ist ein nützliches Karussell, gibt von seiner Kraft an die schlanke Welle weiter, die dreht sich flink und fleißig und bringt die Kraft nach unten ins Getriebe, das Getriebe nimmt der Welle die Kraft ab, gibt ihr eine andere Richtung und einen anderen Rhythmus, aus dem Kreiseln wird ein Auf und Nieder, aus der raschen Propellerfahrt ein fast gemächliches Schöpfen, die Pumpe kreischt nicht, sie pfeift und singt, die Pumpe ist kein heulendes Nebelgespenst, sie ist Zufluchtsort und Ausgangspunkt für alle Zukunft, und dann, einmal, mitten im Glück, ist sie doch das mahlende Ungeheuer, beinahe eine Mörderin, aber Schlimmeres noch, Mörderin aller Träume, Mörderin aller Zukunft, ein kreischendes Ungetüm, das mit stählernen Zähnen in das Haar eines Mädchens greift, eine Schleuder, die alle Hoffnung zerreißt, und ein Deicharbeiter, der auf dem Heimweg ist, denkt noch: Die elende Pumpe, jetzt schreit sie schon wie ein Mensch! und: Man wird es den Wasserwerkern aus der Stadt sagen müssen; wenn eine Maschine so schreit, das ist unmenschlich!, und weil der Deicharbeiter einer von denen ist, die stillestehen müssen, wenn sie denken wollen, bleibt er noch so lange an seinem Fleck, bis das Pumpwerk wieder seinen alten Ton gefunden hat, der fast gemütlich klingt und anheimelnd jetzt, da der andere, der unmenschliche, nicht mehr mitgeht in dem Geräusch aus Räderwerk und Wind, und so sieht der Mann, der auf dem Heimweg ist, etwas über die dunkle Wiese kommen, und nach Stunden erst, als er aus dem Krankenhaus der Stadt endlich nach Hause fährt, weiß er: Es war doch nicht die Pumpe, die da so geschrien hat.
»Wissen Sie«, sagte die Schwester Turo, »manche Dinge, die man macht oder denkt, stimmen einfach nicht. Sie sind die richtigen, aber wenn man sie ausrechnen würde oder messen mit dem, was man vernünftig nennt, dann würde man sehen, daß es gar keinen richtigen Sinn ergibt. Sie werden jetzt denken, das, was ich sage, hat auch keinen richtigen Sinn, aber mir fehlt nur der Ausdruck dafür, die Vorstellung hab ich schon. Ist das schwer, aber ich will es mal so versuchen: Wenn der Deicharbeiter nicht gewesen wäre, das ist klar, dann wäre ich nicht mehr am Leben. Das ist ganz einfach, das hat mit Blutverlust zu tun, mit der Verletzung eben, die man Skalpierung nennt. Ich wäre da irgendwo über Nacht liegengeblieben und aus. Aber das ist es nicht, denn ich hatte noch wochenlang im Krankenhaus die Möglichkeit, einfach aufzugeben. Ich sage: einfach, und das meine ich. Ich bin ganz sicher, es gibt einen Punkt, da hat man sich selbst in der Hand; läßt man los, dann ist es vorbei. Und ich hatte alle Gründe loszulassen. Was sollte ich noch? Für wen? Für meine Mutter? Der war ich schon einmal eine Last gewesen, sehr lange, und jetzt würde ich wieder eine Last für sie sein; die war besser dran ohne mich.
Und die Leute im Dorf? Im Leben nicht. Es gibt Meinungen, an denen kann nichts etwas ändern. Die hatten doch recht behalten: Mit mir war es nicht geheuer, und das war die Strafe.
Oder der Mann? Der hat das Weite gesucht; ich kann es ihm nicht verdenken. Einmal war er noch mit Blumen im Krankenhaus, und er ist beinahe ein zweites Mal in Ohnmacht gefallen. Er hat gesagt, als die Polizei den Unfall untersucht hat, er ist in Ohnmacht gefallen da unten in der Pumpe, und als er zu sich kam, war ich weg. Ich glaub’s. Er hat mir noch einen kümmerlichen Brief geschrieben; wer will ihm denn einen Vorwurf machen, ich war ja nicht mehr die von vorher. Und nun das, was nicht stimmt: Ich hab mich an den Deicharbeiter gehalten, wenn es darum ging, ob ich nun einfach zu atmen aufhören sollte oder nicht; es wäre nicht schwer gewesen. Ich weiß, allgemein geht das Herz, ob der Mensch will oder nicht, aber ich weiß auch: Wenn ich gewollt hätte, wäre es stehengeblieben. Ich wollte nur nicht, und das ist die Unstimmigkeit, ich wollte nicht, wegen diesem krummen Kerl aus dem Dorf, dem Voigt.
Nicht was Sie denken – der war alt und krumm und hatte fünf Kinder, der säuft und taugt nichts. Der ist auch nicht edel geworden oder so was, weil er nun ein Retter war. Der hat hinterher einen mächtigen Krach mit der Versicherung gehabt, weil sie ihm die verdorbenen Kleider nicht so ersetzen wollte, wie er sich das vorstellte. Ich hörte, er hat eine Rechnung gemacht, nach der muß er einen Brokatmantel angehabt haben und darunter eine Weste aus Hermelin. Was er dann gekriegt hat, hat er gleich versoffen, und dann war es seine große Nummer: Wie er die Turo durch die Wiesen geschleppt hat! Ich kann mir’s schon vorstellen.
So genau wußte ich das damals natürlich noch nicht, als ich mich entscheiden konnte zwischen Leben und Nicht-Leben, aber daß es etwas war für ihn, daß ich noch am Leben war, wußte ich, und ich dachte wohl: Nun hat dieser krumme Kerl mal was Besonderes; beinahe wäre er aus der Welt so weggedämmert, wie er durch sie durchgedämmert ist, aber nun hat er was, und wenn ich mich jetzt fallenlasse, werden die Leute sagen, so wie die Leute hier sind: Na, Voigt, du versoffener Dämlack, wozu hast du dir da deine kostbaren Gewänder versaut, wo sie nun doch hin ist?
Vielleicht waren es auch nur die Leute, warum ich nicht losgelassen habe, vielleicht die viel mehr als der krumme Voigt; es kann sein, daß ich denen diesen Gefallen nicht auch noch tun wollte. Ich sage ja, es paßt alles nicht richtig, aber weil ich eine Erklärung haben muß, ist der Deicharbeiter die Erklärung.
Und Sie haben nun auch Ihre Erklärung. Die letzten Bilder, die von mir gemacht worden sind, die sind in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu sehen. Ich hab sie mir einmal angeguckt und dann nicht mehr. Was der Doktor da oben mit mir angestellt hat, war ein medizinisches Wunder, und er hat gesagt, die werden nur geglaubt, wenn sie fotografiert und genau beschrieben sind, und für andere Ärzte wäre es wichtig, daß er es in die Zeitung gibt, damit sie nicht zu früh aufstecken, wenn ihnen mal so ein Unglücksmensch wie ich auf den Tisch kommt.«
Sie dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ich kann nur wünschen, sie brauchen die Bilder nie.«
Schwester Turo ging und ermunterte Fran, sie solle sich jetzt getrost etwas ausruhen, sie sei ja fast so weit marschiert wie von hier bis in die Uckermark, und lange könne es nun auch nicht mehr dauern.
Es dauerte auch nicht mehr lange, oder wenn, dann verging die Zeit so rasch, weil Fran sich zwischen Schmerz und neuem Schmerz fast wütend an Turos Geschichte klammerte, die eine war von anderem Schmerz und mit anderem Ausgang; eine Geschichte, die gerade verlief wie ein Sturz und die Geschichte eines Sturzes war, aber nicht nur eines Sturzes.
Wer da herausgekommen ist und nicht an den Teufel glaubt und kein Teufel geworden ist, nicht vor Haß vergeht oder vor Jammer und eine Arbeit tut, die Ruhe braucht und Liebe, ja, Liebe, absurdes Wort in dieser Geschichte, aber Liebe, der ist das, was wir immer suchen und immer suchen sollten, der ist ein Mensch, und das ist schon ein ganz schöner Zufall, oder wenn es kein Zufall ist, dann ist es ganz schön so eingerichtet, daß dieser Mensch gerade hier seine Arbeit tut, das kann man hier brauchen, denn hier tut es manchmal sehr weh, und Angst hat man hier auch nicht selten, und zu oft kommt man sich hier zu außerordentlich vor, da ist es sehr gut, daß es hier die außerordentliche Schwester Turo gibt.
Später dann, als das Gerede um die unerhörten Bilder Franziskas ging und das Geschrei auch, und als man Franziska fragte, woher sie den erstaunlichen Mut genommen habe – und erstaunlich klang dann wie unheimlich und empörend –, den Mut, vom Kindbett aus den eben geborenen Sohn, das gerade abgenabelte Kleinstkerlchen, das Neugeborene, das neuer geboren kaum zu denken war, in aller Ruhe – von der Ruhe gab die Schärfe der Bilder Auskunft – zu fotografieren, dann sagte Fran manchmal, es habe kein Mut dazu gehört, nur eine gewisse Sicherheit, und wenn schon Mut, dann gleich Übermut, der einen gelegentlich so packe, vorzüglich wenn man gerade begriffen habe, wie gut es einem eigentlich gehe, ja, zum Übermut wolle sie sich bekennen, verrückt sei sie gewesen vor Freude, und Gründe habe sie genug gehabt, und einer davon sei eine traurige Geschichte gewesen.
Aber sie behielt die Geschichte für sich, teilte sie nur mit David, und auch eine Erzählung, zeigte sich wieder, konnte eine Prüfung sein; David bestand sie, er hörte stumm zu, und erst am Ende sagte er: »Ach, Mensch, was wir uns manchmal antun!«, und Fran verstand: Dies war eine lange, laute Klage.
Um so fröhlicher machten ihn die Bilder seines Sohnes, und die Aufregung, die sie verursachten, brachte seine Beredsamkeit in Fahrt; abends hockte er auf dem Teppich neben dem Babykorb und erstattete dem schlafenden jüngeren David Bericht: »Oh, Junge, haben wir dich fein hingekriegt! Ich hoffe, du weißt, wen ich meine mit diesem ›wir‹. Zuvörderst, das muß eingeräumt werden, ist da deine Mutter, die amtlich, wenn auch ungern auf den Vornamen Franziska hört, und ist diese eine anerkannt angenehme, anziehend anmutige, anregend ansehnliche Anverwandte für unsereins, für deinereins und meinereins, aber für andrereins ist sie manchmal auch eine anstrengend anspruchsvolle Angelegenheit, wodurch sie den Mittelstand erschreckt, welcher in dem zwischen dir, mein Sohn, und mir, deinem Vater, erörterten Zusammenhang keine soziale Kategorie ist, sondern eine geistige. Wir beide, du David und ich David, wir beide meinen, wenn wir von Mittelstand reden, den Mittelmaßstand, den behäbigen Bishierherundnichtweiter-Verein, die normfromme Diekirchemußimdorfbleiben-Gemeinde, das erschreckend große Allesmußseinegrenzenhaben-Lager. Die also, mein schöner Sohn, die hat deine Mutter mit dir erschreckt, mit Bildern von dir, von denen sie meinen, die gehören sich nicht, weil, du errätst es nicht, weil sie sich nicht gehören. Ihre Rede geht, ihre Gründe lauten, ihre Logik spricht: Ein Anstand ist ein Anstand ist ein Anstand … und nur völlig Schwindelfreie sind gut für eine Diskussion mit ihnen – so tief sind die Abgründe, in die man blickt, blickt man ihnen in die Argumente.
Aber, lieber Sohn, davon wollen wir jetzt nicht reden, wir ereifern uns sonst, ich kenne uns doch; wir wollen vom Aufruhr der Gemüter sprechen, den dein Auftritt ausgelöst unterm Dache der Neuen Berliner Rundschau, und sage du selbst: Hättest du solches für möglich gehalten?
Ich nicht, Sohn, ich sage es offen, ich nicht, und ich kenne mich runde dreißig Jahre länger aus mit der Welt als du und runde zehn Jahre länger mit der Neuen Berliner Rundschau; mich hat dieses beinahe auseinandergezwirnt, Junge, jungejunge!«
Merkwürdig, jedenfalls für David, merkwürdig war, daß ausgerechnet Fran, die Urheberin der Bilder und also des Trubels, die Ruhigste blieb im Für und Wider der Meinungen und Verständnis aufbrachte für fast alle Ansichten, wenn auch nicht völlig für die der Reporterin Helga Gengk, denn diese Ansicht richtete sich weniger auf die Fotos als auf die Fotografin.
»Mondo cane«, hatte Helga Gengk gesagt, und David hatte es Franziska treulich berichtet, »das ist doch mondo cane pur, die Welt von der Hundeseite! – Deine persönlichen Sachen gehen mich zwar nichts an, Genosse Groth, aber fragen werde ich dürfen: Fürchtest du dich nicht ein wenig, wenn du siehst, wozu deine Frau imstande ist?«
Und dann hatte Helga ausgemalt, wozu sie Franziska imstande hielt: »Wenn die merkt, ihr letztes Stündlein kommt, jetzt geht es ans Sterben, was, glaubst du, wird sie tun? Ich will dir sagen, was sie tun wird: Sie wird aus dem Bett kriechen, ihre Lampen aufstellen, ihr Stativ, die Kamera einrichten, den Auslöser zwischen die schon klammen Finger nehmen und warten. Sie wird warten, bis sie merkt: Den nächsten Schlag tut das Herz nun nicht mehr, der nächste Atemzug wird nur noch ein matter Versuch sein, den nächsten Augenblick verdunkelt das Ende. Da wird sie, was noch geblieben ist an Kraft, zusammennehmen, und es wird gerade noch reichen zu einem Daumendruck in Richtung Verschluß, und dann ist Schluß, aber auf dem Film, dessen bin ich sicher, wird ein authentisches Sterben sein, und mir grauste vor solcher Aussicht, wäre ich an deiner Stelle, Genosse Groth!«
Aber David hatte sich auf die Vorstellung nicht näher eingelassen. »Da bin ich ruhig, Helga, da ich es nicht erleben werde. Statistisch gesehen sterben die Männer vor ihren Frauen, und ich bin sehr statistisch, was also soll mir grausen?«
»Vielleicht der Gedanke, sie stellt das alles, was ich eben beschrieben habe, mit deinem Sterben an?«
»Nein, Helga, aber jetzt weiß ich, was mich wirklich gruseln macht: Du!«
»Ich?«
»Ja, du! Ich hab mir nie Gedanken gemacht, ob du Franziska magst oder nicht. Warum sollte ich? Wahrscheinlich gehört das zu den häufigsten Fehlern, die wir begehen: Daß wir denken, alle dächten so wie wir. Also machen wir uns keine Gedanken. Und jetzt ist als mindestes zu sagen: Du kannst Franziska nicht ausstehen. Mußt du ja nicht, aber warum die Krallen? Ich hab das Wort nicht aufgebracht, du hast von mondo cane gesprochen, aber jetzt erlaube ich mir zu sagen: Das war heftig hündisch eben. Warum?«
»Wie kommst du auf: nicht ausstehen? Ich habe nur geglaubt, es gehört doch einige Gefühlskälte dazu, solche Bilder zu machen; das hat mich erschreckt, und du redest von Krallen! Ich meine nur: Wer in einer solchen Stunde imstande ist, ich meine, wer praktisch imstande ist, die Geburt des eigenen Kindes zu fotografieren, wozu ist der noch imstande? Es gibt doch Grenzen, und ich habe nur gedacht: Ich möchte aber nicht an deiner Stelle sein!«
»Das bist du ja auch nicht, da sei nur froh, aber so froh, wie ich darüber bin, kannst du gar nicht sein. Und so froh, wie ich darüber bin, daß kein anderer an meiner Stelle ist, kann kein anderer sein, weil kein anderer an meiner Stelle ist. – Gefühlskälte, das zerbröselt mich. Was muß denn eine Frau in solcher Lage tun, damit man merkt, ihre Gefühle haben die richtige Temperatur? Aber sag es nicht, ich hab es oft genug im Kino gesehen: Feuchter Blick durch die Nachthemdrüschen, o selig, o selig, ein Kind ist nun mein, und all dieser Klostermist-Liebfrauengeist, das ist die rechte Herzenswärme, und später darf auch fotografiert werden: Kind überm Taufstein, Kind auf ’m Pott, vollfettes Kind mit Breichen im Gesicht, selbstbestricktes Killekindchen, aber wehe, eine macht es anders, macht einen Film, auf dem wirklich etwas Neues zu sehen ist, ein Stück mondo humane, ein Stück Menschlein pur, und zwar aus der einzigartigen Perspektive der Hauptbeteiligten, dann röhrt die reine Seele auf und schwenkt das Herzensthermometer!«
»Jetzt wirst du geschmacklos, Genosse!«
»Jetzt kriege ich Appetit, Genossin! Jetzt kommt die große Schimpflust über mich, jetzt packt mich die bleiche Rage, weshalb, wieso, warum, weil ich Zustände krieg bei allem, was nach Mittelalter riecht. Aber weil man in Zuständen nicht gut diskutiert, fasse ich mich zusammen und sage dir in aller Ruhe: Du zeigst die Symptome einer bösen Krankheit.«
»Jetzt reitet wieder die Grothsche Kavallerie gegen die Spieße des Spießbürgertums. – Deine Idiosynkrasien sind mir hinlänglich bekannt, und bekannt ist mir auch: Die Spießerei ist nicht die Hauptgefahr.«
»Ich kenn ihn, den Spruch, und soweit ist er richtig: Sie ist wirklich nicht die Hauptgefahr, aber ich wehre mich gegen die Übersetzung, die ihr euch davon macht: die Spießerei ist keine Gefahr. Ich werde mich hüten, Armeen gegen sie zu werfen, aber versäumen werde ich nicht, meinen Posten auf dem Rundgang zu sagen: Und nicht vergessen, liebe Freunde, der Feind kommt nicht immer mit Donnerschwall, und er kommt nicht nur aus einer Richtung!«
»Und jetzt, mein guter Genosse, verstehe ich das recht, jetzt steht der Feind im Land und ist ins Lager eingebrochen, weil ich eine Abneigung geäußert habe gegen die Bilder deiner werten Gattin? Herrscht ein Notstand nun, weil ich die Bilder nicht so appetitlich finde und unsere Leser vor der Begegnung mit ihnen bewahren möchte? Darin siehst du Spießerei, und deshalb, allen Ernstes deshalb, stößt du in dein Kriegerhorn, David?«
»Nicht darin, Helga, und nicht deshalb; vergiß die Bilder, es geht mir nicht mehr darum, es geht mir nur noch um den entsetzlichen Widerstand, der sich aufbaut, nur weil etwas anders ist; es geht mir um den scheußlichen Einfallsreichtum derer, die ihr Vorurteil verteidigen. Es muß viel Finsternis in einem sein, der sich seinen Kontrahenten in den Tod denkt, damit er etwas Wildes von ihm zu denken hat.«
»Nun reicht es, Meister Groth«, sagte Helga Gengk, und David berichtete, sie habe zum Fürchten ausgesehen und er habe geglaubt, sie werde sich auf ihn stürzen, aber dann hatte sie nur gesagt: »Das Weitere und den Rest besprechen wir wohl vor der Parteileitung!«
»So was«, sagte David zu Fran, »das Weitere und den Rest! Das klingt wie eine Duellforderung, findest du nicht auch?«
»Ich finde, du brauchst dich nicht zu wundern«, sagte Fran, »wenn ich deinen Worten, die du mir wiedergegeben hast, deinen Ton hinzufüge, den du mir, schlau von dir, nicht wiedergegeben hast, den ich aber ohne Mühe ins Ohr kriege, dann bewundere ich Helgas Geduld.«
»Dies«, sagte David, »dies, mein Sohn, ist deiner Mutter Art, sich zu bedanken. Ich preise ihren Liebreiz und ihre Kunst und ihren Mut und fürchte den Streit nicht, der bis vor die Parteileitung geht, ihretwegen, ich scheue das Weitere nicht und auch nicht den Rest, und dann folgt dies.«
»Hör auf«, sagte Fran, »ich finde den Streit mit Helga nicht so lustig. Wenn ich in der Leitung wäre, würde ich ihr recht geben. Es tut mir leid, daß sie denkt, ich war auf die Sensation aus. Aber sie darf erschrocken sein, hörst du, sie darf es, und was du nicht darfst, ist: sie zu einem Überbleibsel des Kapitalismus ernennen.«
»Langsam, Jugendfreundin, langsam; nichts dergleichen habe ich getan, und ein bißchen Widerspruch darf ich wohl anmelden, wenn mir eine sagt, ich sei mit einem mörderischen Eiszapfen verheiratet.«
Sie fiel ihm ins Wort: »Du zitierst schon wieder die dramatisierte Fassung. In Prosa ging es lediglich um Helgas übertriebene Vorstellungen von meiner Kaltblütigkeit, und die Übertreibung war nur ein Auslaß, den sie brauchte, weil sie erschrocken war. – Helgas Ansichten gefallen dir nicht, das verstehe ich, aber jetzt: Was willst du ändern, bekämpfen, beseitigen, Helgas Ansichten oder Helga?«
»Die Frage ist die Antwort.«
»Aber deine Art, mit Helga umzugehen, deckt sich nicht mit deiner Antwort, David, merkst du das nicht? Du bist immer wieder zu schnell bei der Hand mit dem Großverdacht. Du läßt den anderen nur die Wahl zwischen dem langen Fluchtweg und dem schnellen Schritt vor die Parteileitung. Das ist anmaßend. Du maßt dir an, deine Mitmenschen vor die Wahl zwischen Szylla und Charybdis zu stellen; niemand gab dir solchen Auftrag.«
David erhob sich und balancierte vorsichtig über eine Linie im Teppichmuster. »Ich könnte jetzt alles mögliche tun«, sagte er leise. »Ich könnte dich fragen, ob es dir Ernst war, als du die Parteileitung zum schlingenden Ungeheuer ernanntest, ich könnte mir jetzt allerhand anmaßen, oder ich könnte mich fragen, wieso ich mich vor dir verteidigen muß, weil ich dich gegen eine Unterstellung verteidigt habe, aber ich werde bei der Sache bleiben. Die Sache fing mit den Bildern an. Warum hast du sie gemacht?«
»Mit den Bildern ist es wie mit vielem: Die Gründe findet man erst später, erst, wenn man sucht, und man ist nie sicher, ob es die wirklichen Gründe waren. Vielleicht habe ich nur fotografiert, weil das meine Art zu leben ist, mich auszudrücken und mich zu vergewissern. Wenn man ein Kind bekommen hat, das ist so unglaublich. Ich komme ja jetzt noch mitten aus dem Schlaf und starre in den Korb und kann es nicht fassen. Anderen Frauen geht es nicht anders. Wenn das Warten vorbei ist und der Schmerz wie nie gewesen, dann sehen sie auch auf ihr Kind und versuchen, den Zusammenhang zwischen ihm und sich nicht aus den Augen zu verlieren – vielleicht, weil sie das ihr Leben lang brauchen werden. Man spricht von Glück in diesem Augenblick, und ich glaube, das Wort ist hier sehr berechtigt. Mich hat eigentlich noch nie jemand gefragt, warum ich dies oder das fotografiert habe – das Hochzeitsbild aus der Börde war wohl die einzige Ausnahme –, daß ich Bilder machte, wurde von mir erwartet, warum also jetzt nicht? Wo steht geschrieben, wann man damit anfangen darf? Ab wann darf eine Mutter ihr Kind fotografieren? Wenn es zur Schule kommt? Warum nicht in der ersten Stunde? Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, und ich war auch nicht kühl, ich war eher heiß vor Glück, nur muß das nicht heißen, daß man dann auch noch ohnmächtig wird. – Das ist wahrscheinlich alles, und alles andere ist schon riskant.«
»Was ist das: das andere?« sagte David, der seine Wanderung auf dem Teppich längst abgebrochen hatte. »Die Leute glauben, es sei ihnen Außerordentliches mit diesen Bildern geschehen; womöglich muß man ihnen außerordentliche Gründe nennen, damit sie es ruhiger hinnehmen?«
»Vielleicht hätte ich es ohne die Schwester Turo nicht getan. Sie hat mich ja nicht niedergedrückt mit ihrer Geschichte, und es kann sein, weil diese Geschichte so einen Schluß hatte: Weil so eine, der doch aller Mut zum Leben hätte ausgerissen sein können, nicht aufgegeben hat, ist nicht böse geworden und benimmt sich auch nicht so, daß man sie nun für eine durch Unglück geläuterte Heilige halten muß; die macht eine Arbeit mit Sachverstand und versteht andere Leute und freut sich, wenn andere Leute aus ihren Schwierigkeiten kommen – das finde ich außerordentlich, wenn schon von außerordentlich die Rede ist –, und ich glaube, ich riskiere es, das zu glauben: Als ich sie mit dem Kind sah, hab ich den Schuß Mut bekommen, der manchmal auch dazugehört, um das Natürliche zu tun.«
»Es kann sein, daß auch unsere Freunde die Bilder ruhiger hinnähmen, wenn sie das wüßten: da hätten sie ihren außerordentlichen Grund. – Aber sonst siehst du immer noch nicht, daß ich ein Recht habe, denen an den Hals zu gehen, die nach einem Blick auf ein ungewöhnliches Bild ein fertiges Bild von der Person haben, die es aufgenommen hat? Mir geht es weniger um dich und darum, daß Helga Gengk dich für ein eiskaltes Wesen hält, als vielmehr um die Reaktionen solcher Leute auf das, was anders ist, als sie es erwartet haben. Mir geht es nicht um die Urteile über dich, mir geht es um die Vorurteile. Es ist gespenstisch, daß fast nichts so zuverlässig funktioniert wie die Mechanismen der Vorurteile. Aber ich habe es erlebt: Es hat genügt, einen anderen Namen zu haben, da griffen sie schon nach dir. Es hat genügt, anderer Meinung zu sein, da griffen sie nach deiner Gurgel. Mir ist nichts geschehen. Aber schon mein Vater ist ihnen nicht mehr entkommen. Zweimal ist er gegen ihre Urteile angegangen, die nur Zuspitzungen ihrer Vorurteile waren, und dann hatte er sie so begriffen, daß er anders gestorben ist, als ihre Erwartung wollte. Damals hat das nichts genützt, aber es hätte überhaupt nichts genützt, wenn ich es vergessen hätte.«
»Du kommst doch dieser Gegenwart nicht bei, wenn du sie als eine Fortsetzung behandelst! Das stimmt auch gar nicht zu dir, David; du kannst doch nicht den Zorn von damals auf die Dummheit von heute wenden.«
»Das gerade bezweifle ich manchmal«, sagte David, »keine Sorge, ich verwechsle Helga Gengk nicht mit dem Lehrer Kasten, die Weiber in der Uckermark nicht mit den Schweinen, die den Hirsch Ascher erschlagen haben, aber das macht mich rasend: daß in der guten Genossin Gengk noch etwas steckt, das sofort Stimme kriegt, wenn ihre Gewohnheiten irritiert werden, und in den fleißigen Frauen dort bei Ueckermünde funktioniert immer noch etwas, womit man jahrhundertelang alles Fremde ins Unglück funktioniert hat: das Ungewohnte, das einsame Neue, das abweichende Talent, das verstörend Andere. Das zieht sich doch hin, Mädchen, von Olim her: Die Erde ist ein Jammertal – wer’s anders sagt, kommt vom Teufel; der König ist von Gott gesandt – wer’s anders sagt, fahr zur Hölle; die Weiber sind aus Adams Rippe, und Rippenfleisch hat das Maul zu halten; die Erde ist eine Scheibe; Unternehmer sind Arbeitgeber; vom Impfen kriegt man die Pocken; Schauspielerinnen müßten mal arbeiten gehen; der Mensch kann nicht fliegen; Braunkohle gibt keinen Hüttenkoks; wer Sozis wählt, richtet Deutschland zugrunde; Lesen verdirbt den Charakter; Politik verdirbt den Charakter; Juden haben keinen Charakter; Deutschland über alles; Rotwein macht Blut, und im Kindbett fotografiert man nicht – so!«
»So«, sagte Franziska. »Du berennst alles mit der gleichen wütenden Wucht, wenn du dich erst einmal zum Angriff aufgeblasen hast: Bären oder Flöhe, und manchmal frage ich mich, wie das mit uns beiden überhaupt hat etwas werden können. Ich meine, soviel Vorurteile, um bei dem Wort zu bleiben, soviel Vorurteile wie Helga Gengk hatte ich damals allemal.«
David hütete sich zuzugeben, daß dieser Gedanke ihm nicht neu war. Er sah seiner Frau und seinem Sohn zu, die sich miteinander zu schaffen machten und kein Auge für ihn zu haben schienen; das war gut so; er hatte rote Ohren.
Er wußte es: Hätte er beim frühen Umgang mit dem Mädchen aus der Börde nicht diesen oder jenen seiner Grundsätze ausgesetzt, hätte er nicht dem einen oder anderen Prinzip für die Dauer eines Besuchs bei Fran Urlaub gegeben, dann säße er jetzt nicht hier und nähme teil am schönen alten Spiel: Vater, Mutter und Kind, oder zumindest wäre die Besetzung von zweien der drei Titelrollen eine andere; er mochte nicht daran denken.
Nichts hatte gepaßt: Weißleben nicht, ein Ratzeburg in der mitteldeutschen Börde, nur kleiner noch und noch mieser, und er hatte doch losgewollt von allem Ratzeburg.
Das künftige Schwiegerhaus hatte nicht gepaßt, Kleinbürgerhäuslichkeit mit blassen Freuden und blassem Zorn, Innungsgesinnung, halbherzig geübte Riten nach August Hermann Francke, gute Stube und Feiertagshemden und Lebenshilfe von Matthias Claudius und: Essen Sie nur, es ist noch alles draußen!
Der Schwiegervater nicht, der eine merkwürdige Neigung zum Gebrauch des Wortes selbstverständlich zeigte und sich doch verzehrte, weil er die Welt nicht verstand; weiteres Lieblingswort: Schicksal; Hauptbeschäftigungen: Schaffen und Klagen, ein flaches Zisternenwesen, nicht geeignet für Streit noch Gelächter.
Die Mutter machte sehr gute Leberwurst.
Das paßte nicht zu David Groth, paßte ihm nicht; wieso paßte ihm Franziska?
Die war zwar hübsch und praktisch und erstaunlich wenig fromm gerade in Bezirken, von denen David gemeint hatte, wenigstens hier noch werde er auf die Nachhuten des sächsischen Pietismus stoßen, und sie hatte eine Menge gelesen, und sie hielt sich für zuständig für den Lauf der Welt und hatte weder vor Johanna Müntzer Angst noch vor Annette Wunder und beherrschte ihr Fach so, daß selbst Fedor Gabelbach sagte, sie beherrsche ihr Fach, und sie konnte einem so zuhören – o Tugend Nummer eins! –, daß man immer wieder Lust bekam, ihr etwas zu erzählen.
Aber – aber, aber!
Zum Beispiel hielt sie größere Stücke auf Camus und Malaparte, mochte Ballett und lief ins Kino am Steinplatz, um immer noch einmal »Orphée« zu sehen.
Zum Beispiel sagte sie gräßliche Dinge über die Ostsee und Nebelwetter, und David war für beides, für Nebel und für Ostsee, und am besten beides in einem.
Und, hier wurde es kritisch, sie litt an Objektivismus und sprach dem Erfinder der Parteilichkeit, David Groth, von wertfreier Sachlichkeit, und über alles das hinaus hatte sie auch noch einen Stich ins Pazifistische.
Aber hier war Liebe, und das hieß: Wir helfen uns schon!
Wir helfen uns schon! war nicht die schlechteste Übersetzung von Liebe, eine Teilübersetzung auch nur, aber die eines wichtigen Teiles.
Sie hatten einander geholfen, und anders wäre es nicht gegangen. Denn Grundsätze ließen sich zwar aussetzen, aber nur auf Zeit, und Prinzipien gingen nur ungern in Urlaub und kehrten zurück, und irgendwann mußte man sich entweder von ihnen trennen oder bei ihnen bleiben. Das eine ging, oder das andere ging, wenn man einander half dabei.
Der Änderung Bewegungsformen waren unendlich viele. Manches erledigte sich von selbst. Manches wurde einem durch übergeordnete Beschlüsse wegerledigt. Moden gingen dahin und mit ihnen der Widerstand gegen sie. Kenntnisse kamen, die Anerkennung ermöglichten. Neue Beleuchtung, und Lichter gingen auf. Andere Gewichte waren zu tragen, und das machte eben noch Unentbehrliches unwichtig. Zeit war nicht nur Griffel, war auch Schwamm. Verständnis gebar Verständnis.
Aber auch Beharrung war möglich; war möglich, wo sie nötig war. Nur mußte bewiesen werden, daß sie nötig war; und auch das hieß einander helfen, hieß Liebe: sich die Beweise nicht schuldig zu bleiben.
Das war anstrengend, und daß man die Anstrengung nicht scheute, sie freiwillig übernahm, mit Lust manchmal gar, war Beleg, daß es bei aller Unstimmigkeit stimmte zwischen den Beteiligten. Mit Gewalt und Gebrüll war nichts zu machen gewesen; Versuchungen zu ihnen hin wurden nach ersten Erfahrungen rasch erstickt; wer sagt, die Liebe brauche nicht der Vernunft? Wer aber sagt, die Kollegialität, die doch weit weniger Stützen hat als die Liebe, wer sagt, die, gerade die brauche der Vernunft nicht noch mehr?
David Groth hatte immer noch rote Ohren, und sein Sohn trank immer noch, und Franziska sagte: »Aber weißt du, daß es dann doch was mit uns beiden geworden ist, das kann mir eigentlich ganz schön gefallen.«
»Ja«, sagte David, »du warst schon immer für Wunder zu haben. – Was meinst du, wird es mit dem neuen David auch noch so sein? Soviel Streit und Ärger, weil er etwas Ungewohntes verteidigt, soviel Kummer für den, der gegen Gewohnheiten läuft? Ob sich dann, wenn er groß ist, die Menschen immer noch soviel antun werden, nur weil sie nicht verstehen, was der andere meint? Springen aufeinander los, weil ihre Ansichten nicht passen; müssen sich in Pumpenschächte verkriechen, weil über der Erde bestimmte Vorstellungen von Liebe herrschen …«
»Oder«, sagte Fran und kehrte dem großen David den Rücken dabei, weil sie den kleinen David in seinen Korb legte, »oder zwei Journalisten, die lange Zeit sehr gut ausgekommen sind, geraten wegen einer Handvoll eigenartiger Bilder so aneinander, daß man glauben muß, sie trügen zwei verschiedene Fahnen, eine weiße und eine rote, und wenn man ihnen beiden zuhört, hört man zweimal, daß der Bestand der Welt oder zumindest des sozialistischen Lagers bedroht ist, und zwar, versteht sich, durch die Meinung des jeweilig anderen. Meinst du so etwas, und ob das bleibt?«
»So etwas auch«, sagte David.
Fran sah auf den Jungen und lachte. »Manchmal glaube ich doch, der versteht jedes Wort. Komm mal, wie der die Ohren spitzt!«
»Der spitzt nicht die Ohren«, sagte David, »der hat meine geerbt; wir sind von der spitzohrigen Sorte. Hoffentlich verwächst sich wenigstens das.«
»Ich weiß nicht, David, ich glaube, du würdest eine ganze Menge vermissen, so ohne Streit. Und wenn dein Sohn mehr von dir geerbt hat als die Form der Ohren, dann wird er es langweilig finden, wenn es nichts zu streiten gibt.«
»Ja«, sagte David, »aber ich hoffe, das lohnt sich dann mehr als der Zank um ein Häuflein sogenannter unerhörter Bilder.«
»Ob der nun ganz so nutzlos ist, weiß ich schon nicht mehr«, sagte Fran, »aber eins weiß ich sicher: Wir heben die allerersten Bilder von David für David auf, bis er groß ist, und wenn wir sie ihm dann zeigen und ihm die Geschichte des großen Streits dazu erzählen, und er staunt dann, oder er staunt nicht, oder er lacht dann oder lacht nicht, da werden wir genau wissen, ob sich inzwischen unsere Erbfehler verwachsen haben oder nicht. Aber ich bin sicher, David, er wird staunen, und er wird lachen, und wir auch.«
»Liebe Frau«, sagte David, »damit bin ich heftig einverstanden.«