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Christa wollte wieder einmal geklärt sehen, daß sie Chefsekretärin und nicht etwa Dokumentationstante und schon gar nicht Telefonistin sei, denn geschlagene zwei Stunden habe sie mit der sachfremden Aufgabe vertan, den Namen eines englischen Bildhauers zu ermitteln, und ob sie David die Bemerkungen seiner Freunde referieren solle, die gefallen seien auf ihre Auskunft hin, Chefredakteur Groth befinde sich auf dem Friedhof.

»Laß sein, Christa, ich weiß, wie witzig meine Freunde sind. Warum rufst du nicht Johanna Müntzer an, wo es um einen Bildhauer geht? Das lichtet ihr das Rentnerleben, wenn sie helfen kann.«

»War nicht zu Hause. Ihre Hilfe sagt, erst war einer von der Obersten Abteilung da, der Frank, und dann ist Johanna zu einem Minister gefahren, wütend.«

»Mitteilsame Dame«, sagte David, »aber wütend ist ja nicht neu. Gib mir schon mal die Vorlagen für morgen; wenn ich mit all den Grabsteinen im Kopf Feierabend mache, werde ich trübsinnig.«

»In der Kurierpost ist auch eine Todesanzeige.«

»Nimm sie raus, leg sie weg, will ich nicht sehen, mag ich nicht leiden, kann ich nicht ab, jetzt!«

Christa überhörte das, und David setzte sich an seine Mappen. Ich grüße dich, Leben! hätte er beinahe gerufen, und dann war ihm die Neigung verdächtig.

Dennoch, die Akten waren Lebenszeichen, sprachen von Prozessen und nicht von deren unwiderruflichem Ende, und so waren sie willkommen, weil man vor ihnen wieder aus der Trübnis in die Tat gefunden hatte.

Aber das Papier zuoberst des ersten Stapels war schwarz umrändert, ein Kuvert mit den Zeichen des Ministerrats. Die Versuchung, es unter die Erlasse, Beschwerden und Anfragen zu schieben, kam von einer Abart des Aberglaubens her oder auch der Feigheit: Was ich nicht weiß …, also nahm man die düstere Post zur Hand.

Das traf zwischen die Augen, das saß, denn das kam aus dem Blauen: »Gerhard Rikow … im vierzigsten Lebensjahr … nach langer Krankheit … im bleibenden Angedenken …«

Da mußte man widersprechen, widerschreien mußte man da: Ich will das nicht glauben, das ist Willkür, Bosheit ist das, verboten ist das, ganz und gar nicht erlaubt, ganz und gar ungerecht, ein wolkenhoher Irrtum, ein Versehen, bitte! Bitte, ein Versehen!

Mit Gerhard Rikow konnten sie das doch nicht gemacht haben, nicht mit dem. Mit David Groth konnten sie so was nicht machen, nicht mit David Groth.

Warum nicht, David Groth? Warum nicht mit Gerhard Rikow? Kannst du nicht lesen? Da steht es: Gerhard Rikow, im vierzigsten Lebensjahr. Aus, schwarz umrändert, neununddreißig Jahre alt, da steht es.

Ja, ich weiß, ich sehe, aber es ist so gemein, so hundsgemein. Ist das ein Elend!

David wußte, das Elend würde ihn besiegen, wenn er sich so von ihm greifen ließ. Es würde ihn packen, lähmen und in Jammer schlagen. Das Elend hatte guten Grund, sich stark zu fühlen, denn Gerhard Rikow tot, das war ein starker Grund zu allem Elend. Und die Grenzen konnten sich verschieben: vom Jammer um Rikow zum Jammer von Groth. Gerhard Rikow im vierzigsten und David Groth Anfang Vierzig, das gab zu sehr ein Paar, da konnten Verwechselungen unterlaufen und Verschiebung vom Leid zum Selbstmitleid.

David legte die Karte fort, weit an die Kante seines Tisches. Her mit den Vorlagen jetzt. Wie hast du sie nennen wollen: Lebenszeichen? Lebenszeichen, du Narr, das hast du ins Schwarze getroffen! Aufhören jetzt, anfangen jetzt, wie lautet die erste Beschwerde?

Es war eine Beschwerde, sehr irdisch, sehr lebensnah, aus einem Staatssekretariat, einer Reportage wegen und wegen übereilter Kritik: »… Die Technologie für die Fertigung von Milch-Plastikbeuteln weist, wie auch uns bekannt, noch einige Mängel auf, aber Eure Darstellung dramatisiert auf eine unseres Erachtens unzulässige Weise. Die Presse soll unserer Meinung nach helfende Kritik üben, aber nicht überspitzen …«

Haben wir überspitzt? Den Bericht noch einmal ansehen, aber ich kann mir nicht vorstellen, Genosse Staatssekretär, wir könnten auch nur halb so deutlich gewesen sein wie die Hausfrauen in der Kaufhalle neulich früh. Das waren dir vielleicht Überspitzerinnen, Genosse Staatssekretär, diese Hausfrauen da, und Sachen haben die gesagt, Genosse, und nur, weil ihnen aus dem Netz voll Brot und Mehl und Gehacktem die Vollmilch auf die Perlonstrümpfe tropfte.

»Wenn Defekt-Prozente stimmen«, schrieb David auf den Brief des Staatsdieners, »Beschwerde zurückweisen. Wenn Mängel inzwischen behoben, werden wir das irgendwo rausstreichen. Beste Grüße. G.«

Eines Tages werde ich doch noch nachsehen, wo das Wort »überspitzt« herkommt. Ich habe den Verdacht, es ist einmal anders gedacht gewesen, als wir es jetzt benutzen. Wir benutzen es nämlich jetzt, um einer Sache die Spitze abzubrechen, einer Kritik zum Beispiel. Können wir nachweisen, sie sei überspitzt, ist sie fast schon nichts mehr wert. Jedem Mittel wird ein Gegenmittel geboren, aber diese Paare verhalten sich nicht immer zueinander wie Minus gegen Plus; zur Kritik kann man nicht einfach nein sagen; wer ihr entgehen will, muß zuerst einmal ja zu ihr sagen, danach erst kann er sie auffangen, indem er sie eine überspitzte nennt.

Du kennst dich ja aus, David Groth, solltest du Praxis haben? Könnte gut sein, aber behelligt mich doch nicht immer mit solchen Fragen; seht ihr denn nicht, ich habe zu tun!

Er hatte jetzt zu tun mit Vorschlägen und Einsprüchen, Anfragen und Protesten, erhellenden und grotesken, bissigen und schüchternen, er hatte es mit wachen und wachsamen Menschen zu tun, mit hellwachen Leuten, die es aus sehr verschiedenen Gründen waren; er hatte zu tun mit Besorgnis und Eitelkeit, mit Witz und gelegentlich auch mit Aberwitz, hatte es mit einer Gesellschaft zu tun, die sich in allen ihren Teilen regte und die seine Zeitung, die NBR, als das nahm, was sie sein sollte und sein wollte: als Anschlagtafel neuer Verhältnisse und neuer Gesinnung.

Und mit jedem Posttag kam David der Bescheid ins Haus: Das war gut, das war schlecht, das war nützlich, das war schädlich, das mußte sein, das müßte sein, das mußte nicht sein, das müßte nicht sein, das ist anders, das wird anders, das muß geändert werden, das ist geändert worden, das denken wir, das glauben wir, das wollen wir, was wollt denn ihr, wie gefiele euch dies, dies gefiel uns nicht, das könnte uns gefallen, das fehlt uns noch, das fehlte uns noch, das wollen wir nicht, das wollen wir jetzt, das hoffen wir, das fordern wir, das machen wir, nun macht auch ihr!

Wir machen, schrieb David an die Ränder der Briefe und: Das können wir nicht, und zwar aus folgendem Grunde … Und er schrieb: Das sehen wir ein und werden es ändern, und: Dem Hinweis werden wir folgen, und: Die Idee scheint uns nützlich, und: Der Gedanke scheint uns nicht recht brauchbar, weil …, und: Wir gehen der Sache nach.

Er konnte sich bei seinen Randnotizen fast auf Kürzel beschränken; Christa wußte sie aufzulösen und aus Chiffren ganze Briefe zu machen, und ohne sie hätte die Korrespondenz den Korrespondenten David erschlagen. Aber Christa wachte über den Eingang und schied den Blödsinn auch dann noch aus, wenn das »An den Chefredakteur persönlich« dreimal rot unterstrichen war, und sie wachte über den Ausgang, daß keinem Schreiben die individuelle Farbe fehle.

Sie entwarf authentische David-Groth-Briefe, und früher hatte sie authentische Johanna-Müntzer-Briefe geschrieben oder authentische Herbert-Bleck-Briefe oder authentische Briefe des dritten Nachfolgers, und ihr Gehalt war da einfach lächerlich. Zum Ausgleich dafür gehörte sie dann wenigstens ins Impressum, dachte David: »Chefredaktion: David Groth; Chefredakteurs-Briefe: Christa Vogel«, aber kaufen kann sie sich auch nichts dafür, und wer liest schon ein Impressum? Dazu mußte man so sein wie der Botenmeister Ratt. Der hatte sich Jahr für Jahr jede Woche kurz nach dem Andruck eine NBR holen lassen und hatte zunächst argwöhnisch den Druckvermerk studiert. »Wer sagt mir denn, daß es über Nacht keine Kompetenzverschiebung gegeben hat, und wer wüßte besser als ich, wie wichtig Kompetenzen sind? Wenn ich die Kompetenzen nicht weiß, schicke ich Eingänge und Umläufe an die falschen Leute. Nein, das Impressum seiner Zeitung muß ein verantwortungsvoller Botenmeister ständig lesen.«

Er las es nicht nur; er schnitt es auch bei der geringsten Änderung aus; im Laufe der Jahre, die er mit der Rundschau gelebt hatte, war ein stattliches Album daraus geworden.

Kam David einmal in die Botenmeisterei, mußte er die Sammlung studieren. »Hier, du Berenner Trojas, hier steht alles drin; ich nenne es ein Impressorium, und nachlesen kann man in ihm: Wer, was, wann. Weißt du zum Beispiel noch, wer Kutschen-Meyers dritter Nachfolger gewesen ist? Weißt du, wann die Bildungsleute ihre eigene Abteilung gekriegt haben? Weißt du, was Jochen Güldenstern im Jahrgang vierundfünfzig gemacht hat? Und weißt du, wer in diesem Impressum einmal an der Spitze stehen wird? Ja, das weiß nicht jeder, aber ich zum Beispiel weiß es: Du wirst da stehen – wetten, daß ich mich irre?«

»Wetten«, hatte David dann immer wieder gesagt, wie schon in seiner ersten Rundschau-Stunde, und erst als er gewonnen hatte, war ihnen eingefallen, daß nie ein Einsatz ausgemacht worden war.

Da hatte der Botenmeister den allerneuesten Druckvermerk in seine Sammlung geklebt und David das Buch überreicht. »Von Homer ist es nicht gerade, aber wenn man es richtig liest, tönen doch recht wilde Gesänge heraus. Behalte es, damit du nachschlagen kannst, wie es mit den Kompetenzen steht, und weil es heute in den Mauern von Troja feierlich zugeht, will ich dir sagen: Unter anderen Umständen hätte aus dir ein recht brauchbarer Bote werden können, wetten?«

»Nein, diesmal nicht, Kollege Ratt. Ich sehe, Sie wollen Ihr Album zurück, aber in die Falle kriegen Sie mich nicht. ›Unter anderen Umständen‹ – das ist eine große Falle!«

Die Formel war es wirklich; ein schimmerndes Ding mit breiten festen Zähnen, eine Fangmaschine, um die man neugierig herumstrich, wenn man so war, wie David Groth war.

Was wäre geworden aus David Groth, unter anderen Umständen? Von wann an hätten sie anders sein müssen, um ihn anders zu machen? Wie groß war ihr Anteil an dem, was er war?

Die Fragen hatten den Vorteil des Sinnlosen: Sie konnten sich ewig halten, weil es in alle Ewigkeit keine Antwort auf sie geben würde, die mehr als eine Hypothese war. Die Konditionen eines anderen Weges waren nie mehr herstellbar; herstellbar waren nur noch Träume, denen gemeinsam war, daß sie nichts mehr vermochten.

Hier bremste sich David: Unvermögen der Träume, der Träume: Was wäre geworden, wenn …? – das stimmte doch nicht ganz.

Es mußte mehr daran sein als nur die Lust an der Wehmut, wenn fast alle Menschen einmal oder oft an dieser Frage hielten; es mußte ihre Ahnung sein, daß aus solchem Umgang mit Vergangenem Gewinn zu holen sei für künftige Entscheidungen.

Es war doch kein Zufall, daß gerade die Dichter, deren Beruf es war, Ahnungen faßbar zu machen, sie zu Gedanken zu kondensieren und sie einzubringen in die wirkliche Welt als einen weiteren Teil von Welt – es konnte kein Zufall sein, daß gerade sie sich immer wieder auf dieses Was-wäre-geworden-Wenn eingelassen hatten.

Und die Geschichten, die so entstanden waren, zeigten den Realismus der Träumer: Die erinnerten Umstände waren kaum verrückt in diesen Erzählungen, aber den Menschen wurde in ihnen die Chance geboten, sich unter nämlichen Umständen anders zu verhalten.

Unter anderen Umständen – das war nie mehr zu haben, aber ein anderes Verhalten, ein anderes Handeln in ähnlichen Lagen, das ließ sich denken, und Geschichten, die so redeten, sprachen nur zum Schein von Vergangenem, und die Tode, von denen sie erzählten, bekamen ihren Sinn, weil Lebende von ihnen erfuhren – da mochten die sich bedenken, und taten sie es, so hatten auch verspätete Träume etwas erreicht.

Ach, die Falle war zugeschlagen, sie hielt diesen David sehr fest zwischen ihren blanken Zähnen – da mußte erst Christa kommen, ihn zu befreien. »Wenn weiter nichts mehr ist, gehe ich dann«, sagte sie und war schon im Mantel. Sie deutete auf den Trauerbrief an der Schreibtischkante. »Soll ich etwas besorgen, einen Kranz?«

»Blumen«, sagte David, »das ist so eine Redensart: Ich kann es nicht fassen!, aber Rikow, das kann ich wirklich nicht fassen. Stirbt einfach so weg. Ob wir Freunde waren, kann ich gar nicht mal sagen, jedenfalls waren wir keine, die sich gegenseitig besuchen oder mal anrufen, bloß so. Aber es gibt auch Freunde, die darf man so nennen, weil es einem immer wieder sehr gefällt, wenn man sie trifft, auf der Straße oder auf einer Konferenz. Weißt du, Leute, von denen du denkst, wenn du von einer Tagung kommst: Das war nun wieder die reine Zeitverschwendung, aber wenigstens hast du den Gerhard Rikow da getroffen.

Auf der Parteischule haben wir zusammen gewohnt, und Fritz Andermann hat ihn immer einen Windbeutel genannt. Von der Sorte Windbeutel könnten wir eine Menge mehr gebrauchen, und jetzt ist es sogar einer weniger. Hau ab, Christa, sonst heule ich dir noch was vor.«

»Also Blumen«, sagte Christa und ging.

Windbeutel, das war überhaupt nicht zutreffend, da hat sich Fritze Andermann gründlich vertan. Aber natürlich, dem mußte Rikows sagenhafter Optimismus verdächtig sein. »Genosse Rikow ist ein sehr talentierter Kader«, hat Fritz Andermann in seiner Abschlußbeurteilung gesagt, »aber es ist ihm zuzutrauen, daß er lebenswichtige Nachrichten der Flaschenpost anvertraut.«

Der Lehrgang hat über die Anspielung gelacht, auch Gerhard Rikow, und gestört hat sie ihn nicht. »Ich weiß nicht, was du willst«, hat er geantwortet, »meine Post ist doch angekommen.«

Und die Geschichte von Gerhard Rikows Post kam seither einer Antwort auf die Frage gleich, was wohl Optimismus sei.

Optimismus, das ist, wenn einer … Hört doch mal zu: Im frühen Frühjahr am Ausgang des letzten Krieges hielten die Russen einen gefangen, der Gerhard Rikow hieß. Der kam aus Meierstorf bei Marnitz in Mecklenburg und war gerade siebzehn geworden. Den hatten sie kaum nach seinem Alter gefragt, als sie ihn in die preußischen Stiefel steckten, und der fremde Soldat, der ihn bald darauf aus den guterhaltenen Stiefeln zog, da die seinen seit dem Aufbruch an der Wolga nicht mehr ganz so gut erhalten waren, fragte auch nicht weiter. Und Gerhard Rikow sagte, als ihm der Märzwind um die Füße blies: »Es wird ja nun bald Sommer.«

Er kam durchaus mit Pantinen zurecht, denn er war aus Meierstorf bei Marnitz. Anderes aber machte ihm zu schaffen: Auch der Hunger, natürlich, denn er wuchs ja noch. Auch der Dreck, denn zu Hause hatte er jeden Sonnabend in der Waschbalge gesessen. Auch die Ferne, denn Meierstorf lag nördlich der Grenze von Brandenburg, und nun wußte er drei Grenzen zwischen sich und Meierstorf, die von Brandenburg, die vom Deutschen Reich und die von Polen dazu.

Aber etwas anderes plagte ihn viel mehr, manchmal nur, aber dann doch sehr: Er konnte sich zu gut vorstellen, wie es jetzt in Meierstorf war. Die dachten dort an ihn und wußten nicht, wo sie ihn denken sollten und wie.

Seine Eltern waren von der Art, die allenfalls: »Ich mag dich leiden!« sagt und von Liebe nicht spricht, weil das kein Wort für einfache Leute ist. Aber daß sie ihn liebten, wußte Gerhard Rikow gut, zu gut jetzt, denn so konnte er sie sitzen sehen, in der Küche am Abend, müde von der Plackerei und wachgehalten von der Frage: Wo mag der Junge stecken?

Der war vermißt, und das war ein Umstand wie Krankheit auf den Tod. Vermißt, dem fehlte nur wenig zu: verloren. Gefallen, das war: verloren dort und dann, und vermißt war: wohl verloren, aber wann und wo?

Im Krieg stockt mehr als nur der Postverkehr, aber Gerhard Rikow war dies jetzt der größte Verlust, und als er ganz begriffen hatte, was seinen Leuten die Zeit ohne Nachricht und Wissen war, nahm er sich vor, einen Ausweg zu finden.

Er beschloß es geradezu: Hier wird ein Ausweg gefunden!

Nun muß man noch einmal denken: Da war ein Krieg, und der war ohne Gnade. Was Gerhard Rikow noch von ihm sah, waren nach innen gebogene Zaunpfosten und stachliger Draht und Türme, auf denen Wächter hockten. Und vor dem Lager auf der Straße, wohin er am Tage zur Arbeit ging, sah er vom Kriege die, die er hatte schlagen gesollt und die nun nach Westen zogen, um seinesgleichen zu schlagen oder einzufangen wie ihn. Sie fuhren rasch vorbei, und sie marschierten eilig vorüber, und sie sangen, daß es fast unerträglich war. Gerhard Rikow schien es, als sängen sie immer dasselbe Lied, die auf den Panzern und die auf den Pferden, die auf den Lastern und auch die zu Fuß. Es war eine schnelle Melodie, eine ausgreifende in die hohen und tiefen Töne, ein wildes Lied, wie es ihm schien, und von niederdrückender Zuversicht.

»Was singen die?« hatte er einen Sprachkundigen gefragt.

»Du hast Sorgen!« war die Antwort, aber auch eine äffende und haßerfüllte Nachahmung des Gesanges und die Worte des Textes: »Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten …« und »… von der Liebsten ein Brieflein geschrieben, das von Liebe und von Heimkehr spricht!«

»Apfelblüten und Heimkehr«, sagte Rikow, »es hört sich viel wilder an.«

»Die werden noch ganz klein werden«, sagte der andere und sagte nur, was alle sagten, »die Apfelblüten kriegen sie aufs Grab im Oderbruch, spätestens. Die denken, die haben uns – die haben uns noch lange nicht, nie!«

Aber Gerhard Rikow wußte, daß sie ihn hatten. Zu lange schon hörte er das Lied über dem Kettenklirren und Dieseldröhnen und dem tausendfachen Schritt. Er erwachte damit und schlief ein mit ihm, und einmal in der Nacht hatte er einen traumnahen Gedanken gehabt: das Lied stiege auf am fernen östlichen Ozean und flöge über den Kolonnen vor bis in den fernen Westen, der Gerhard Rikows Heimat war, und die Kolonnen wären eine, wie das Lied eines war, und die Kolonnen wären unaufhaltsam, wie das Lied unaufhörlich war. Und zwischen ihm und den Eltern in Meierstorf bei Marnitz in Mecklenburg würde es auf lange Zeit keine andere Verbindung geben als den Zug aus Motoren, Waffen, Pferden und fremden Soldaten auf der Straße vorbei am Lagerzaun, und Verbindung war kein treffendes Wort dafür.

Da ging Gerhard Rikow am andern Morgen zur Lagerküche, ließ sich dreimal verjagen, kam aber dann doch nahe genug heran, um nach einem Stück Papier zu fragen, vielleicht von einer Tüte, und er bekam den Boden von einem Suppenkarton.

Gegen die Gebühr von einem Viertel der Brotration, zahlbar am Abend, lieh ihm ein Kamerad den Rest eines Bleistifts. Damit schrieb er auf die Pappe: »An Familie Rikow in Meierstorf bei Marnitz in Mecklenburg, Deutschland«, und auf die andere Seite schrieb er, auch dies in sauberen Druckbuchstaben: »Liebe Eltern! Ich lebe. Euer Gerhard.«

Dann wurde er zur Arbeit auf die Straße geführt, und dort war er sehr sorgfältig. An die Panzermänner kam er nicht heran, und auf die Leute vom Troß war nirgendwo viel Verlaß, und auch diese Offiziere waren ihm nicht geheuer, und die jungen Burschen im Glied würden ohne Verständnis sein oder auch furchtsam, selbst wenn sie jetzt so schmetternd von der leuchtend prangenden Apfelblüte sangen.

Er wählte sich einen Starschina, einen Feldwebelkerl mit überbreiter Brust und einem Schnauzbart, der zum Fürchten war. Der marschierte einem Zug voran und riß beim Singen den Mund zu Kommißbrotweite auf, und sein Auge war wach, als Gerhard Rikow ihm die Pappe reichte, aber er behielt sie in der Hand, und er blieb im Tritt, und er blieb bei seinem Lied, und Gerhard Rikow sprang zurück an seine Arbeit.

Gefangene sind wachsamer als ihre Posten; sie fragten Rikow, was er dem Kerl gegeben habe, und er sagte es ihnen. Da war endlich etwas erheiternd: Man hatte einen original Verrückten gefunden. Der hat einem Iwan Post mitgegeben. Der Iwan als Postbote. Iwan der Weihnachtsmann. Kamerad Iwan, geh mal bei mir zu Haus vorbei, ich hab auch ’ne Schwester. Wetten, dein Billett liegt längst im Dreck. Wetten, dein Feldwebel verzehrt es mit Machorka. Wetten, er kratzt sich den Arsch damit aus.

Das ging alles noch, aber am Abend in der Baracke war es böse geworden: Ich stelle mir vor, jetzt liest gerade ein Kommissar dein Brieflein – läßt du mir deine Fußlappen da, wenn sie dich holen? Vielleicht hängen sie dich neben deinen Feldwebel, was meinst du? Nachrichtendienstliche Tätigkeit, ist doch klar.

Und plötzlich war Gerhard Rikow ein Vaterlandsverräter: Kameraden, hier hat einer einem Iwan Post mitgegeben, Bestimmungsort Mecklenburg. Das setzt die Annahme des sogenannten Kameraden voraus, der Iwan käme bis Mecklenburg. Nein, das schließt die Hoffnung dieses Subjekts ein, die Roten möchten unsere Heimat erobern.

Wohin gehört ein solches Schwein, Kameraden? Vors Kriegsgericht! Wie lange brauchte ein Kriegsgericht für sein Urteil, Kameraden? Keine fünf Minuten! Was würde das Kriegsgericht beschließen, Kameraden? Umlegen, umlegen, umlegen!

Betrachte dich als umgelegt, du rote Sau. Von jetzt an verfaulst du, und mir scheint, du stinkst schon mächtig.

März, April, Mai – ein kalter Frühling für Gerhard Rikow. Kein Wort zu ihm, aber viele über ihn und keine guten. Manchmal fiel ein Schmutzeimer um, über ihm. Manchmal schlug ein Rohr zurück, gegen ihn. Manchmal fehlte eine Jacke, ihm. Manchmal reichte das Brot nicht aus, gerade bei ihm. Manchmal war die Suppe dünn, immer bei ihm. Manchmal war es kaum noch zu ertragen, aber dann schlug Gerhard Rikow die Karte auf in seinem Kopf: Zwölfhundert Kilometer von hier bis Meierstorf, und unterwegs dorthin ein Starschina mit Schnauzbart und einem Stück Suppenkarton in der Tasche. Manchmal würde er fünfzig Kilometer am Tag marschieren, ras, dwa, tri: Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten, und manchmal würde er keinen einzigen Schritt vorwärts tun, festgenagelt liegen unterm Maschinenfeuer und fluchend im Dreck. Aber weiter bewegte er sich, denn auch die Kolonne vorm Lagertor bewegte sich weiter, und das Lied verstummte nie, und weiter wurde die Post getragen, weiter nach West und auf Meierstorf zu und weiter heran an eine enge und dunkle Küche.

Da Gerhard Rikow ein Windbeutel war, hatte er seinem Feldwebel einen Tagesschnitt von zwanzig Kilometern angemessen, und wenn er in den Schlaf fiel, wund gestoßen außen und innen, allein und bedrängt, verurteilt und verachtet, dann schlug er dem Weg seiner Post zwanzig weitere Kilometer zu und strich seinen Eltern einen Tag vom Warten ab, einen Tag Furcht und Atemnot, und einmal merkte er und war sehr verwirrt, daß das Lied da draußen sein Lied nun geworden war.

So kam der Tag im Mai, an dem ein wildes Schießen war, von den Türmen gleich am Zaun und noch weit überm Horizont nach Westen und nach Osten auch, und das Ziel von allem Geschoß waren die Wolken, und der Grund zu dem Getös, der hieß Frieden.

Dann schwieg der Krieg, und so schweigt er auch in Meierstorf, dachte Gerhard Rikow, und mein Bote ist nun dort.

In der Nacht ist Gesang zu hören gewesen im Lager, nicht aus den Baracken und Küchen, aber aus den Wachstuben und von den Türmen und von der Straße her, der gleiche Gesang wie immer, aber auch ganz anders jetzt, und in den Baracken ist geseufzt und gedroht und geflucht worden wie immer, aber auch ganz anders jetzt, und Gerhard Rikow ist immer noch allein gewesen, aber doch schon anders. Und als er im Winter nach Hause kam, zu jung und zu dürr für weiteren Aufenthalt, war er längst älter und fester geworden.

In der Küche in Meierstorf bei Marnitz in Mecklenburg hatte man ihn erwartet seit einem Morgen im späten April.

»Da schlägt es hier an die Tür, und der Russe steht draußen. ›Du Rikow?‹ sagt er, und ich weiß nicht warum. ›Du Sohn?‹ sagt er, und ich sag: Ja, aber ich weiß nicht, wo. ›Du lesen!‹ sagt er und steigt auf sein Auto, so ein kleines, stinkendes. Dann hab ich’s gelesen, und dann hab ich Mutter unterm Bett vorgeholt.«

»Ja«, sagt Gerhard Rikows Mutter, »und dein Vater hat den ganzen Morgen im Stall rumgesungen: ›Und da sahn wir schon von weitem, den Herrn Großherzog reiten …‹«

»War das so ein großer Kerl, mit einem Schnauzbart und zum Fürchten?« sagte Gerhard Rikow.

»Wer?«

»Der Russe doch.«

Aber es war kein Großer mit Schnauzbart und zum Fürchten gewesen; mittelgroß vielleicht und noch jung, ein Offizier wohl, sah aus wie einer aus dem Süden. Und zum Fürchten? Konnte man nicht mehr sagen, weil man so schon Angst gehabt hatte, vor der Uniform, aber es konnte sein, daß der wütend gewesen war, dann war es aber mehr so eine Wut, wo einer davon heulen möchte, aber das konnte auch alles Einbildung sein.

An mehr als diese Einbildung geriet Gerhard Rikow nicht; die Reise seiner Post war an ihr Ende gekommen, aber über den Verlauf der Reise erfuhr er nie. Vielleicht war das abenteuerliche Glück aufgebraucht mit dem einen Ergebnis, da konnte man nicht noch mehr erwarten: Aufschluß über den schnauzbärtigen Boten, seinen Namen, seinen Weg und seine Gedanken auf diesem Weg, Aufschluß vor allem über seinen Verbleib, auf der Erde oder auch in ihr vielleicht? Gerhard Rikow bekam den Aufschluß nicht, und womöglich war das gut für ihn, denn so hing er der Geschichte länger nach als einer, die ein klares Ende genommen.

Er vergaß nicht, daß sie mit einem Vorsatz begonnen hatte, mit einer Hoffnung und mit einer Tat, und da ließ er sich nicht ausreden, daß Hoffnungen, Vorsätze und Taten zu dem gehörten, was später Glück dann hieß.

Ach ja, und nachher nannte man ihn manchmal einen Windbeutel und einen, der sogar auf Flaschenpost setzt, und einen unverbesserlichen Optimisten.

Doch nun war er tot, im vierzigsten Lebensjahr hinaus aus dem Leben, unglaublich tot und so unpassend auch.

Unpassend war unpassend; gab es passenden Tod? Doch, vom Sterben gab es einleuchtende Arten und solche, die zu nichts stimmten. Und zu Gerhard Rikow stimmte die schwarzumrandete Anzeige nicht, weil sie sich wie ein spätes, aber übermächtiges Argument gegen allen Optimismus ausnahm, weil sie ein Beweis ja schien, daß Zuversicht doch immer noch ein eitler Glaube sei. Und das paßte nicht.

Es stimmt auch nicht. Rikow hat nie behauptet, er werde hundert Jahre alt. Er hat nur behauptet, man könne in zwanzig Jahren schaffen, was bis dahin auch in hundert nicht machbar schien. Er hat nur gesagt: Wenn die Post ankommen soll, muß man sie erst einmal abschicken. Seine Formel hat sich so simpel angehört, aber durch sie hat er sich von den tatenlosen Träumern unterschieden als ein tätiger Träumer.

Man sagt, Grunderlebnisse könnten leicht zu Dogmen verstocken. Mag sein, aber so ist Gerhard Rikow mit seinem Erlebnis nicht umgegangen. Es hat ihm gereicht für Zuversicht und Geduld und für eine unangreifbare Freundschaft zu jenen, die seinen Brief durch Feuer und Rauch bis nach Meierstorf bei Marnitz in Mecklenburg befördert hatten. Es hat ihm gereicht zu einem anderen Beginn, aber für den Fortgang hat er selber sorgen müssen. Und das hat er getan.

»Zuerst hab ich es leicht gehabt«, hat er erzählt, als er in der Schule bei Fritz Andermann seinen Lebenslauf hersagen mußte, »zuerst haben sie im Dorf einen Wundermann in mir gesehen, einen, dem die Rote Armee die Briefe austrägt. Ich kam gerade zur Bodenreform zurecht, und als ich mit dem Rutenmaß die neuen Felder abzirkelte, sind sie wie die hungrigen Saatkrähen hinter mir her. Aber das Gehacke ging doch bald los, denn die neue Praxis auf den Äckern gefiel ihnen zwar, aber die Theorie, mit der ich ihnen kam, so wie ich es verstand, die gefiel ihnen nicht, weil sie Politik war und auch noch von Marx.

›Kann sein‹, hieß es, ›die Russen waren seine Briefträger, aber jetzt ist er der Postbote der Russen, und da kann’s nur heißen: Annahme verweigert!‹

Meine lieben Kameraden damals in der Baracke und meine Kollegen hier, die waren plötzlich wieder Vettern, und als wir den Maschinenhof der Bauernhilfe in eine Ausleihstation umwandelten und ich der Leiter wurde, haben mir welche über Nacht alle Bäume im Garten angesägt. Und mich hätte beinahe ein Landrat abgesägt, wegen Urkundenfälschung und verschleierter Buchführung und was weiß ich noch, aber das war später, als ich die Anleitung im Kreis zu machen hatte.

Mein theoretisches Verständnis hörte ungefähr beim Flaschenzug auf; da hab ich für die Nachhilfe einen pensionierten Ingenieur geholt, aber der sagte: ›Durch die Ehre pfeift der Wind!‹, und ich hab ihm Traktoristenlohn gezahlt. Er hat auch auf der Traktoristenliste gestanden, und eines Tages wollte ein Zeitungskorrespondent den achtundsechzigjährigen Erntekapitän besichtigen, da ist es herausgekommen.

Von Anmaßung hat man gesprochen, und ich habe gesagt, ich hätte nur Vollmachten gehabt und keine Ahnung, da hätte ich mir das eben angemaßt, und nun hätte ich ein bißchen mehr Ahnung.

Ahnung und Vollmachten, die Mischung zieht dir Anforderungen auf den Hals, schon deshalb bin ich für breiteste Umverteilung von Ahnung und Vollmachten. Sie haben mich zum Leiter des ersten landtechnischen Kabinetts gemacht, Landesebene.«

In Meierstorf und in Marnitz nannten sie ihn nur den Schweriner, und später nannten sie ihn den Berliner, und da waren sie nicht einmal mehr witzig.

Witzig waren sie noch zu Anfang; als er zur ersten Schulung in die Kreisstadt fuhr, hieß es, er studiere jetzt auf den Nobelpreis, und als er in die Partei eingetreten war, machten sie den Stalinpreis daraus. Da baten sie ihn noch, er möge seinen Genossen Lyssenkowitsch fragen, ob er nicht eine neue Sorte Hochlandkaffee auf Lager habe, vielleicht eine, die sich aus Lupinen entwickelt, sie wollten jetzt in den Ruhner Bergen Hochlandkaffee bauen.

Jedesmal, wenn er zum Lehrgang mußte, hieß es, der sei zu dämlich, dem müßten sie andauernd extra was beibringen, und jedesmal, wenn er vom Lehrgang kam, hieß es, der sei so dämlich, daß ihn keine Schule behalten wollte.

Als er die Kreistechnik übernahm und nicht mehr zum Tanzen kam, sagten sie, der hätte da jetzt wohl einen Dieselkolben, und wenn er dann doch mal zum Tanz kam, gab es fast immer Stunk, weil einer nach großem Tusch verkündete, der Herr Kreisfunktionär sei auf einen dialektischen Sprung vorbeigekommen, oder weil er weder ruhig zuhören noch weglaufen konnte, wenn ein besoffener Schulkamerad laut und beharrlich das Lied »Denn wir fahren gegen Engelsland« anforderte.

Den letzten Meierstorfer Witz hörte er bei der großen Umwandlung. Er war auf einige Wochen zurückgekommen und fuhr mit dem Fahrrad durch die Dörfer, weil das gesund war und auch nicht so großmächtig aussah. Dann hatte ihm ein Kenner seiner Wege einen Strick über einen Sandpfad am Ruhner Berg gespannt.

»Das Ding traf mich zwischen Kinn und Unterlippe und riß, und ich flog in den Ginster.

Für mich stand fest, wer das gewesen war, und das gebe ich zu: Der ist nun wirklich aus Seelenqual in die Genossenschaft. Ich bin hin zu ihm, und bei der Schwellung konnte ich kaum aus den Augen sehen, und die gequollenen Lippen konnte ich wenig bewegen, und nun immer Argumente gezischt, bis er ›verfluchte javanische Tempelmaske‹ geschrien und unterschrieben hat.

Javanische Tempelmaske, so was vermutest du gar nicht in Meierstorf; ich wollte ihn immer mal fragen, wo er das herhatte, aber ich komme nur selten hin, jetzt bei diesem Posten.«

Sein letzter Posten war an einer der Stellen, wo Landwirtschaft und Industrie ineinandergreifen; für die Bauern war er der Industriekerl, dem sie die Maschinen entreißen mußten, und für die Techniker war er der Bauerngeneral, der, die Sense geschultert, nach den Mähdreschern fragen kam.

Und für die Regierung war er der, nach dem sie rief, wenn sie im Planbereich Industrialisierung der Landwirtschaft rote Zahlen sah.

Hat ihn also sein Amt umgebracht? Die Vermutung ist nicht unerlaubt, denn wir haben verzehrende Ämter, aber unerlaubt ist es, bei Vermutungen zu halten, weil wir in diesen Tagen Gewißheit brauchen. Zum Beispiel Gewißheit, wenn einer uns fragt, ob Gerhard Rikow in oder an seinem Amt gestorben sei, wenn also, anders, ein Gerücht sich Luft unter die Schwingen schlägt, wenn es flüstert: Unter anderen Umständen hätte er noch leben können.

Kleiner Vorsatz jetzt: herauszufinden, woran Rikow gestorben ist; kleine Tat nun: einen fragen, der die Antwort weiß. Gewißheit her, die Vergangenes nicht ändert, aber Künftiges ändern könnte.

»Ja, hier ist Andermann. Was ist los, erst hört man jahrelang nichts von dir, und dann hört man den ganzen Tag nur von dir; hat dir Johanna schon eingeheizt?«

»Johanna? Warum sollte sie? Und den ganzen Tag ist wohl übertrieben; dies ist mein zweiter Anruf bei dir.«

»Deiner, ja. Aber was ist, findest du deine positive Intrige nicht mehr so gut?«

»Kann sein, sie war nie sehr gut. Aber ich rufe wegen Rikow an. Du hast heute früh nichts davon gesagt, und jetzt habe ich es gelesen.«

»Ich dachte, du wüßtest es. Ich denke, ihr wart Freunde?«

»Ich wußte es nicht.«

»Schöne Freunde.«

»Du hast recht, aber wem soll das noch nützen?«

»Anderen Freunden vielleicht.«

»Ja.«

Fritz Andermann schwieg, und David wußte lange nicht weiter, dann fragte er: »Was war mit ihm?«

»Paß auf, Freundchen«, sagte Fritz Andermann in bösestem Ton, »paß auf, mein Freund, jetzt hör dir was an: Du bist ein beschäftigter Mann, weiß ich, du kannst nicht jeden Tag deine Kumpel zählen, in Ordnung, aber Gerhard Rikow ist ein halbes Jahr lang krank gewesen, und wenn du das nicht weißt, ist das eine Sauerei, was führt ihr denn für ein Leben?«

»Ein halbes Jahr schon?«

»Ja, ein halbes Jahr schon, Genosse Redakteur, Genosse Berichterstatter! Ich hab neulich bei euch angerufen, weil mir eure Sache über Indonesien sehr gefallen hat, aber jetzt sag ich dir, ich scheiße auf deine Berichte aus Indonesien, wenn du Trauerkarten brauchst, damit du nach deinen Freunden fragst.«

»Du brauchst nicht zu schreien; ich begreife auch so.«

»Da bin ich nicht mehr sicher, und ich schreie, weil mir das nicht paßt. Dich hab ich immer zu denen gerechnet, auf die Verlaß sein würde, weil sie nicht taub und blind waren und nicht gleichgültig. Ich war froh, weil solche wie du und Rikow zusammenhielten, mit uns Alten und ihr untereinander. Aber jetzt – Indonesien!«

»Ich glaube, das ist ungerecht, Fritz.«

»Ja, das glaubst du, da beruhige dich nur schön. Beruhige dich mit deinem Elf-Stunden-Tag und deiner Sieben-Tage-Woche. Du bist fleißig, alle Welt weiß es; du hast dich nicht geschont, will einer deine Orden sehen? Du hast dich immer gekümmert, um Moltke-Denkmäler und Dispatcher-Ehen und um Indonesien; wo sollte da noch Zeit für Freundschaft her? Freundschaft, verflucht, als ob es etwas Besseres gegen all die Feindschaft gäbe!«

Das wurde ein langes Telefongespräch für David Groth und Fritze Andermann, und David war schon freundlicher behandelt worden, und Andermann hatte schon geduldigere Zuhörer gehabt, und wäre ein Dritter in den Disput geraten, so hätte er meinen müssen, hier stritten zwei auf Tod und Leben.

Sie stritten aber über Tod und Leben, stritten nicht einmal so sehr miteinander, beklagten vielmehr zornig den Verlust eines Freundes und zürnten der widerlichen Unvernunft, die auch in diesem Tode steckte, gerade in diesem, denn hier hatte es einen ausgeblasen, der dem Leben vertraute wie kaum einer sonst.

»Ich hab in meinen Jahren viel Sterben gesehen«, sagte Fritz Andermann, »so viel, daß zu all der Gemeinheit, mit der wir leben mußten, auch noch die Gewöhnung kam, an das Krepieren ringsum. Ich bin vielen begegnet, von denen ich wußte: Der macht es noch drei Monate, oder: Der bringt es auf kein Jahr. Natürlich haben wir versucht, etwas dagegen zu tun, und manchmal hat es geholfen, aber wenn es nicht geholfen hat, haben wir den Gram nicht herumgeschleppt. Der hätte uns bald erdrückt; wir hatten zu viele Gründe. Ich kenne, meine ich, den angesagten Tod; ich dachte, den halte ich aus. Aber als sie mir vor einem halben Jahr den Gerhard Rikow wegnahmen und mir sagten, ich kriege ihn nicht wieder, niemand kriegt ihn wieder, der ist uns abgängig auf immer, weil er sich auflöst, und niemand wird es halten, da bin ich fünf Stunden mit der S-Bahn hin und her gefahren zwischen Friedrichstraße und Erkner, weil ich da nicht allein war und nicht toben und heulen konnte.

Der war doch ein eingelöstes Versprechen, der Gerhard. Der war doch so geworden, wie wir uns das gedacht hatten für die andere Welt und die neue Zeit. Der war doch so, daß wir uns sagen konnten: Gut, daß wir ausgehalten haben für solche wie den; die Sache wird in guten Händen bleiben. Es hat ihm Spaß gemacht, unseren Sozialismus eine Anmaßung zu nennen, aber verhalten hat er sich zu ihm wie zu einer Pflicht, und vor allem wie zu einem Recht – mit Ahnung und Vollmachten.

Und ich muß dir sagen, manchmal habe ich ihn gesehen wie er damals den Starschina in seiner Postgeschichte: als einen, der vorwärts geht auf ein Ziel, das auch meines ist, als großen Grund zu großer Zuversicht.

Und dann kommt ein Ungeheuer mit einem mittelalterlichen Namen und vergiftet ihm das Blut und löscht ihn aus. – Bei wem kann man sich beklagen, David, weißt du eine Stelle, bei der man sich beklagen kann?«

»Ich käme mit dir, wenn ich eine wüßte«, sagte David Groth, und als er den Hörer aufgelegt hatte, war ihm sehr elend zumute.

Er war aber einer von denen, die so verletzbar sind, daß sie beizeiten nach Systemen suchen, in denen Deckung ist vor lähmendem Jammer, und Davids erstes System hieß Arbeit.

Er fuhr wieder ein in seinen Aktenberg und wußte sich weniger hilflos nun, geschlagen zwar, aber nicht geschlagen. Er konnte und wollte nicht tun, als wäre nichts geschehen, aber er hielt sich nicht bei Vorsätzen auf; er trieb sein Tagwerk weiter, scheinbar wie immer, aber hinter der Geläufigkeit, mit der er dem Ratsvorsitzenden einer Havelstadt Antwort auf die Frage gab, warum diese Gemeinde seit Jahr und Tag nicht in der NBR zu besichtigen gewesen, und hinter der Geläufigkeit, mit der er das Lob eines Imkers quittierte und den Dank aus einem Feierabendheim und den Schimpf eines Intendanten, hinter der geübten und üblichen Aufmerksamkeit vor Frage und Bescheid, fand er sich in Alarm: Mehr war nötig als das Übliche, und Übliches hatte sich als Übel gezeigt; er hatte an Freundschaft einiges versäumt und an Bündnis und an Auftrag.

Darum bewachte er seine Worte mehr als sonst, horchte sie ab auf Zeichen von Ungeduld oder Hochmut, und als er an die Blätter mit den Entwürfen und Ideen für die nächsten Hefte kam, da zögerte er sehr lange, bevor er einen neuen Vorschlag niederschrieb.

Er zögerte über diesem Gedanken, weil er genau wissen mußte, ob er auch ehrlich und redlich sei und nicht etwa die Ableitung einer Erschütterung in einen Journalistencoup.

Er hatte eine Erfahrung gemacht, aber ob sie wirklich Erfahrung sei, mußte sich aus dem Umgang mit ihr erweisen. Er war schon sicher, er plante nichts Verbotenes, aber nicht verboten war hier nicht genug.

Lauterkeit war auch so ein altes Wort, aber jetzt war auch Lauterkeit zu fragen: Durfte er, was er wollte?

Er spürte, daß er sich in ein Berufsproblem verhakte, weil ihm so Zeit blieb, vor dem größeren Problem zu zögern. Also kürzte er diese Zeit und ging die erste Frage an: Durfte man Gerhard Rikows Geschichte in die Zeitung nehmen und so einem stillen Tod lautes Leben folgen lassen? Denn lautes Leben war zu erwarten, wenn man auf weit verbreitetes Papier schrieb: Wir wissen von einem optimistischen Briefschreiber und von glücklichen Empfängern seiner Post, aber vom Boten wissen wir nichts; nichts von seinem Weg und nichts von seinem Verbleib. Gerhard Rikows Geschichte ist ein Teil unserer Geschichte, aber der Weg des bärtigen Starschina ist ebenso ihr Teil, und der fehlt uns. Wer hilft uns, ihn zu finden?

Hier war die Vollmacht: Von Rikows Erfahrung waren viele betroffen; von seinem Handeln, das aus solcher Erfahrung kam, hatte das Land gewonnen; da durfte man dem Land mit Erzählung und Fragen kommen.

»Betrifft: Heftplanung Jahrestag.

Arbeitstitel: Der Brief.

Umfang: Wahrscheinlich Serie.

Publizistische Zielsetzung: Es wäre einer der Ursprünge unserer Freundschaft zu zeigen, und eine ihrer Folgen. Direkte Einbeziehung der Leser in die Überlegung: Woher kommen wir? DDR-Geschichtsbewußtsein.

Recherchen:

a) DDR: In welchem Lager war Rikow, möglichst genau, wann? Frau befragen, nach Kameraden suchen: Erinnert sich einer an den Vorfall? Wann kam der Brief nach Meierstorf? Eltern aufsuchen, Nachbarn. Zustandsbild Meierstorf damals. Weggenossen von R. finden, MTS, Landwirtschafts-Kabinett, Schwerin, Berlin usw. Gibt es diesen Ingenieur noch oder den Bauern mit dem Seil (kaum wahrscheinlich, aber in M. fragen; die Geschichte dürfte rum sein). Personenbeschreibung des sowjetischen Offiziers, der Brief abgab. Zustandsbild Meierstorf heute. Wo ist der Brief?

b) UdSSR: Wenn Lagerort und -zeit ermittelt: Welche Truppen dort auf dem Marsch? Ebenso, wenn Zeit ermittelt: Welche Truppe in der Nähe Meierstorf? Wenden an: SU-Botschaft Berlin, DDR-Botschaft Moskau, Oberkommando Wünsdorf, Oberkommando Moskau, sowj. Kriegsarchiv.

Danach: Sowj. Zeitungen einschalten, ›Ogonjok‹, Armeeblätter? Dabei Zielsetzung: Wer war der Feldwebel, was wurde aus ihm, wie kam der Brief in die Hände des Offiziers?

Wenn das geklärt: Rekonstruktion des Weges – Bilder der Beteiligten, Bilder der Städte auf dem Weg, Kampfbilder? – Spezialgraphik nach Karte. Evtl. Reporter und Fotografen die Strecke noch einmal fahren lassen. – Die Gräber nicht vergessen!

Arbeitsgruppe bilden: Dokumentation, Reportergruppe DDR und soz. Länder (je 2), Fotografen (2).

Arbeitsbeginn: sofort.

Satzfertig: Heft Jahrestag Abschluß, also Beginn Länge entsprechend. Gesamtverantwortlich: David Groth.«

David Groth, ja? Warum David Groth? Weil er persönlich beteiligt ist, betroffen? Oder weil er an einem Versäumnis trägt, an versäumter Freundschaft? Weil ihn die Sache drängt oder weil ihn seine Sache bedrängt? Weil er von einer Lücke weiß und sie füllen will? Welche Lücke und wie füllen? Weil er keinen wichtigeren Auftrag als diesen kennt? Kennt er keinen? Weil David Groth der richtige Mann für Gerhard Rikows Geschichte ist? Ist David Groth auch der richtige Mann für David Groths Geschichte? Und ist er Gerhard Rikows Geschichte wirklich gewachsen? Hat er den Verstand für sie, das Gefühl und die Zeit?

David strich seinen Namen aus der Vorlage und ließ die Rubrik »Hauptverantwortlich« offen.

Hauptverantwortliche, dachte er und war seines Grinsens nicht froh, die werden sich finden lassen; das würde sich finden.

Dann machte er, daß er nach Hause kam.

Da saß aber schon Johanna Müntzer.

Das zerlegt mich, dachte er, wo die ist, geht der Tag noch weiter. Kommt der Hase mit hängender Zunge ans Ende des Felds gerannt, da sitzt Johanna Müntzer dort, hat auch die blauen Strümpfe an und lächelt mild: Ick bün all dor! Und dann will sie was, und wenn sie milde lächelt, will sie viel. Dann ist das Rennen nicht zu Ende, dann hält der Tag noch an, dann muß David noch weiter über den Acker; das ist seit dreimal sieben Jahren so.

Das ist auch jetzt noch so, obwohl Johanna eine Rentnerin ist und keine Herausgeberin mehr. Johanna gehört zu denen, die sich von Äußerlichkeiten solcher Art nicht halten lassen. Johanna Müntzer bleibt bei der Sache, und sie bleibt Davids Penthesilea, schöne Lockung und furchtbare Drohung zugleich, und über seinen Tod hinaus ist der Botenmeister Ratt zu bewundern, der vom ersten Augenblick gesehen hat, worauf hinaus die Sache zwischen David und Johanna laufen würde, und nur wer nicht genau in die Geschichte der Neuen Berliner Rundschau gesehen hat, wird von Günstlingswirtschaft reden, wo die Sprache auf den Genossen Groth und die Genossin Johanna Müntzer kommt.

Tatsächlich ist so ein Wort gefallen, damals, als Kutschen-Meyers dritter Nachfolger im Chefamt das Haus in Richtung Rundfunkkomitee verließ und die Vakanz zu füllen war am Spitzenplatz des NBR-Impressums. Denn da ist Penthesilea noch einmal in die Schlacht geritten, und ihr Feldschrei hat gelautet: »Jetzt wollen wir hier einmal diesen David nehmen!«

Und als sie den genommen hatten, da hat Johanna Müntzer, mit den Worten Gabelbachs und des Korrespondenten Franz Hermann Ortgies, »einen gebratenen Ochsen unter Verlauffung einiger Fäßer Wein dem gemeinen Volke preißgegeben« und eine letzte große Rede gehalten, in der sie beiläufig auch auf die AIZ gekommen ist, hauptläufig aber doch auf das neue Menschenbild und auf dessen nun schon ahnbaren Zusammenhang mit diesem neuen Chefredakteur David Groth. So laut sie Davids Ernennung gefeiert hatte, so leise war sie nach wenigen weiteren Jahren gegangen; manchmal meldete sie sich und beschimpfte einen Redakteur, wobei sie Wert darauf legte, als Leserin zu gelten und nicht als die ehemalige Herausgeberin, und manchmal besuchte sie David und Frau, und wenn sie bei solcher Gelegenheit verkündete, man müsse nun einmal jetzt hier etwas besprechen, dann machte man sich besser auf einen starken Vorgang gefaßt.

An diesem Abend tat sich David nicht schwer mit Vermutungen; man hieß nicht Johanna Müntzer und hatte alte Freunde in allen Obersten Abteilungen, ohne zu wissen, daß es ein ehrenvolles Vorhaben gab mit dem derzeitigen Chefredakteur der Neuen Berliner Rundschau. Eine andere Frage war, was diese Johanna Müntzer von solchem Vorhaben hielt, aber das würde er nun erfahren.

Das Übliche rollte wie üblich ab: Tee aus dem Samowar, Fragen nach dem Wohlergehen des Sohnes, Ansichten zum Stand der Weltdinge, Bemerkungen zur letzten Ausgabe der Rundschau, fast milde Betrachtungen über vergangene Tage, besorgte Äußerungen über eine Tendenz in der bildenden Kunst, Anmerkungen zu einer Rede und einem Lyrikband – freundliches Müntzer-Wetter für eine halbe Stunde. Dann rasche Verfinsterung. »Xaver Frank war bei mir. Was ist das für eine Geschichte mit diesem Krell?«

Ach, ihre Technik der jähen Blitze!

»Was soll mit dem sein?« sagte David, und er fragte sich wirklich, was der Genosse Frank mit dem bildungsfeindlichen Futtermittelzähler zu tun haben könnte.

Aber Johanna überging seine Frage und ließ auch ihre eigene beiseite und stellte eine andere, wobei sie auf Franziska wies: »Hast du ihr die andere Krell-Sache erzählt?«

»Die andere Krell-Sache«, sagte David, »die hieß damals noch gar nicht Krell-Sache, die hieß damals Carola-Sache; da war die nämlich noch nicht mit dem Raps-und-Rübsen-Menschen verheiratet, und außerdem ist das zwanzig Jahre her.«

»Der Anfang ist zwanzig Jahre her«, berichtigte Johanna, »und deine Frau weiß davon?«

»Die weiß so lange davon, wie sie von mir weiß, und sie weiß es von mir. Wenn es nicht zu Ende gewesen wäre, hätte sie mich kaum genommen. Die hat da Ansichten – und ich mag kein Verhör!«

»Natürlich, du magst keins, und daß du es nicht magst, das weiß ich seit zweiundzwanzig Jahren. Aber ich hoffe, du weißt, ich habe mich nie sehr darum gekümmert, ob du es magst. Ich mag auch keins.«

»Und warum dann dies?«

»Weil Klarheit sein muß in einer Angelegenheit. Wenn der Mensch ein Mensch bleiben will, muß er auf Klarheit sehen.«

»Gut«, sagte David, »ich bin ein Mensch, ich will ein Mensch bleiben, ich muß auf Klarheit sehen, ich möchte jetzt Klarheit: Was soll das alles?«

Johanna Müntzer hielt sich wieder einmal mit beiden Händen an ihrer Tasche fest, und sie sagte: »Xaver Frank kommt manchmal bei mir vorbei. Manchmal nur so, der alten Zeiten wegen, manchmal nicht nur so, sondern der neuen Zeiten wegen. Neulich war er da, und heute war er da, beide Male der neuen Zeiten wegen und speziell deiner neuen Zeiten wegen.

Neulich hat er gesagt: ›Erzähl mir was von dem Genossen Groth!‹, und heute hat er gesagt: ›Ich erzähl dir was von deinem Groth!‹ Er hat eine Beratung gehabt, mit einigen Ministern, Fritz Andermann war auch dabei, und als Schluß war, hat Andermann zu Frank gesagt: ›Typen gibt es noch!‹ und hat ihm von einem VEAB-Dispatcher erzählt und von deinem Anruf und daß du eine positive Intrige planst. Dann ist Xaver Frank zu mir gekommen und hat gesagt: ›Ich erzähl dir was von deinem Groth!‹, und dann bin ich zu Fritz Andermann gefahren.«

»Das zersplittert mich«, rief David, »das kann doch nicht sein, daß Xaver Frank gelaufen kommt, weil er eine Geschichte gehört hat, in der das Wort Intrige vorkommt, eine Pausengeschichte mitten zwischen Entscheidungen über beinahe Weltgeschichte; das kann doch nicht sein!«

»Unter Umständen schon«, sagte Johanna, »ein paar Umstände, glaube ich, hast du jetzt vergessen.«

David sah hilflos zu Franziska, aber die lächelte nur und sagte: »Mich darfst du nicht so ansehen. Sieh mal, ich kenne die Umstände auch nicht, und die Pausengeschichte zwischen Xaver Frank und Fritz Andermann, die kenne ich auch nicht; ich kenne von alledem nur deine Carola Krell, die so breite Schultern hat, und dich kenne ich ein wenig und deine Geschicklichkeit mit Intrigen, positiven Intrigen.«

David sagte: »Das war doch erst heute, Mensch. Heute früh hat mir Carola von einer Klemme erzählt, dann habe ich etwas eingefädelt, das ihr helfen könnte, und jetzt sitze ich hier und verstehe nichts mehr, und du machst auch noch so feine Augen!«

Er stand auf, aber Johanna kommandierte ihn zurück in den Sessel. »Sage nicht ›Mensch‹ zu deiner Frau! – Es ist dir also ein Rätsel, ja? Dann wollen wir jetzt hier dieses Rätsel gleich einmal lösen: Es gibt eine Absicht mit dir, nicht wahr, das weißt du doch?«

»Natürlich!«

»Natürlich ist es nicht, aber du weißt es. Und weißt du auch, wer im Zusammenhang mit dieser Absicht die Vorlage für die Oberste Abteilung ausgearbeitet hat? Das war der Genosse Frank, und deshalb ist er neulich hiergewesen und hat gesagt: ›Erzähl mir was von dem Genossen Groth!‹ Viel konnte ich ihm nicht erzählen, mußte ich nicht, denn er kennt dich lange genug. Er ist schon geübt im Urteilen über dich.«

»Freut mich, daß er es einfach hat mit mir«, knurrte David.

»Führe jetzt keine provokatorischen Reden hier«, rief Johanna, »es ist nämlich nicht so einfach mit dir; es ist nie einfach gewesen, und Genosse Frank hat es sich nie einfach gemacht. Deshalb ist er heute noch einmal gekommen, damit kein kuddelmuddeliges Knäuel entsteht, wie der verrückte Gabelbach immer sagt.«

»Mir schwant was«, sagte David, »Xaver Frank knäuelt alte und neue Zeiten ineinander, alte Carola-Zeiten und neue David-Zeiten!«

»Nein, da schwant es dir nicht richtig; er ist es nicht, der knäuelt, er will, daß nicht geknäuelt wird.«

»Furchtbar nett von ihm, richtig fein nett von ihm«, höhnte David, »er hat sein Gedächtnis bemüht, als er hörte, Groth will was für Carola Krell tun, und da ist ihm eingefallen: Da war doch mal was mit Krell und Groth!, und da fragt er sich, ob nicht vielmehr der Groth sich einen Gefallen tun will, wenn er Ehemann Krell zu einem Lehrgang und langer Abwesenheit vom Hause verhilft, stimmt’s? Das ist aber nett von ihm, daß er sich kümmert! Und überhaupt: Woher weiß der überhaupt von damals, von David Groth und Carola?«

Jetzt tippte sich Johanna an die Stirn, was eine ihrer raren Gesten war. »Du hast das doch nicht etwa für ein Geheimnis gehalten? Darüber ist schon gesprochen worden, als du Chef werden solltest, und die Carola war Kaderleiterin im selben Hause. Deine Romanze ist ungefähr so diskret behandelt worden wie jetzt der Bau von diesem Fernsehturm hier. Vor mir konntest du sie nicht verheimlichen und vor dem Rest der Neuen Berliner Rundschau auch nicht. Der einzige, der mir nicht irgendwann einmal zu verstehen gegeben hat, daß mein Assistent mit einer Hübschen aus der Rotation schläft, die mich Petersilie nennt und sieben Jahre älter ist als David Groth, der einzige ist Fedor Gabelbach gewesen.«

»Das zerlegt mich in meine Einzelheiten«, sagte David, aber Johanna erklärte ihm, die interessierten jetzt hier nicht. »In Liebesdingen bist du also schon ein Tölpel gewesen, aber als Intrigant bist du der tölpelhafteste Tölpel von hier bis zum Stillen Ozean. Ein Mensch, der am Morgen die Idee zu einer Intrige hat, sie am Tag einfädelt und sich schon am Abend damit erwischen läßt, das ist ein Tölpel im sozialistischen Weltmaßstab. Und so etwas will jetzt hier Minister werden!«

»Will überhaupt nicht«, sagte nun David, »hat nie gewollt und will nie mehr, verdammt noch mal!«

»Das bestimmst nicht du«, sagte Johanna mit Schärfe, »das bestimmst du nicht. Du bestimmst nicht, ob du es wirst, und du bestimmst nicht, daß du es nicht wirst!«

»Franziska«, rief David hilflos, »sag du doch auch mal was!«

Doch Fran wies ihm ihre leeren Hände. »Ich bin so schlecht vorbereitet, weißt du? Sieh mal, ich bin einfach zuwenig mit Wissen ausgestattet; was soll ich da sagen? Heute morgen hast du eine lustige Bemerkung gemacht, ehe du den Fahrstuhl besiegt hast, und tagsüber hast du ja auch richtig zu tun gehabt, wie ich jetzt höre; ich weiß also nichts. Natürlich, einen vorsichtigen Reim könnte ich mir schon machen: Wenn das mit dem Minister doch kein Witz ist, dann muß einer von der Obersten Abteilung die Ohren spitzen, wenn er was von positiven Intrigen und alten Freundinnen hört; ich würd’s von ihm verlangen. Ich würde mich sogar bedanken, an deiner Stelle, daß er sich Wege gemacht hat und Frau Müntzer auch, damit kein knäueliges Kuddelmuddel entsteht.«

»Ja, danke«, sagte David, »und ich hab jetzt von all der Güte die Nase voll, und außerdem hab auch ich mir seit heut morgen ein paar Gedanken gemacht, und ich …«

»Einen Augenblick noch«, warf Johanna ein, »es interessiert jetzt niemanden, was mit deiner Nase ist, David Groth, es interessiert nur, was mit deinem Kopf ist. Du denkst, du hast einen schönen Gedanken darin, und die anderen sehen seine Schönheit nicht. Applaudierst du manchmal deinen Ideen? – Ich sage nicht, daß die anderen in jedem Falle bessere haben als du; ich sage: Halte es aber für möglich.«

»Aber ich hatte doch nie etwas anderes im Sinn als …«

»Das weiß ich«, sagte Johanna, »und der Genosse Frank wird es auch wissen, wenn man es ihm erklärt. Aber solange es die Welt gibt, haben immer Leute gesagt: Das habe ich nicht gewollt!, und meistens waren sie ehrlich, nur: Sieh sie dir an, die Welt!«

»Die Weltgeschichte und der Dispatcher Krell – großartig!« sagte David.

»Nein, anders: Die Weltgeschichte und David Groth! Darin unterscheiden wir uns ja: Daß wir wissen, wie sehr wir in der Weltgeschichte stecken. Wir sind nicht immer an unseren Lagen schuld, aber wir müssen leben, als wären wir es.«

David sprach eine Weile nicht, und die beiden Frauen schwiegen auch, die alte und die junge; die beschäftigten sich mit ihren Tassen, und schließlich sagte David: »Kann sein, ja – so ähnlich hab ich es heute schon mal gehört: Mit Ahnung und Vollmachten, kann schon sein, weil es hier um die große Anmaßung geht – das kann schon wirklich sein.«

Johanna sah Franziska an, und Franziska sah Johanna an, und beide zogen die Brauen hoch dabei.

Und David störte das nicht weiter.