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Als mich der Fliegergeneral Klütz aus der Kaserne holte, da sagte er zu mir: »Der Krieg ist unten nichts für die feineren Köpfe. Du hast einen feineren Kopf, bist aber mal für oben nicht angelegt. Ich bitte, sich dies zu merken: Wenn es heil und ganz bleiben soll, das feine Köpfchen, dann machst du, was ich sage. Vermutung ist: Mein Kopf ist etwas gröber. Gewißheit ist: Ich bin oben. Parole lautet: Wer meine Flinten fleißig putzt, soll mir in keinen Krieg. Ich bin ein Mensch, und ich bin dein Gott; Anbetung nicht erforderlich, Demut erforderlich. Sieh mich an, da hast du deine absolute Flughöhe; über mir ist nichts, für dich. Unter mir geht es tief hinab, und ganz unten ist eine sehr harte Erde. Aber fürchte dich nicht, ich halte dich – wenn du meine Flinten putzt, wenn du dein Maul hältst, und wenn du dein Maul aufmachst, dieses nach meinem Belieben. Gratifikation deinerseits: Du behältst einen heilen Arsch hier. Apropos letzteres: Greife keinem Damenbesuch an denselben. Des weiteren: Meine Zigarren rauche ich, meine Hunde haue ich, meine Witze sind gut, meine Nichten sind Jungfern und bleiben es noch, der Endsieg ist nahe. Vergatterung beendet. Wegtreten mit Leitspruch: Mensch sein heißt: seine Grenzen kennen!«

Soweit mein General, und nun ich: Ich habe ihm seine Flinten gepflegt, und einmal habe ich gegen Gewinnbeteiligung einen prächtigen Colt Navy Revolver aus seiner Sammlung bei Meister Treder gegen eine miese Greensboro-Imitation eingetauscht. Seine Zigarren habe ich nicht geraucht; ich bekam Zigaretten für jede, die ich klaute. Seinen Hund brauchte ich nicht mehr zu hauen, als ich ihn erst einmal in den Hintern getreten hatte. Das mit seinen Nichten stimmte nicht; von der einen weiß ich es sicher. Was den Damenbesuch angeht: Denen hätte er auch sagen sollen, was er mir gesagt hatte – ich jedenfalls habe nicht gegriffen, ich nicht! Aber sonst hat er recht gehabt, mein General: Er war ein guter Herr, und ich war sein getreuer Knecht. Und vielleicht verdanke ich ihm ein Stück Leben, ist das etwa nichts? Nur, nur mit seinem Leitspruch weiß ich schon seit längerem nichts Rechtes mehr anzufangen. Aber das muß nicht seine Schuld sein; das kann auch meine Schuld sein; es muß etwas sein mit Zeit und Raum – manches gilt im Tiergarten und hier nicht; manches galt damals und gilt jetzt nicht mehr. Leitsprüche haben eben auch nur begrenzte Haltbarkeit.

 

Als mich der Ratzeburger Pastor zwischen seinen Erdbeeren angetroffen hatte, da sagte er zu mir: »David Groth, in den Augen der Welt ist es nur Mundraub, in den Augen Gottes ist es Ungehorsam gegen sein Gebot, und in meinen Augen ist es eine Sauerei – ihr habt doch selber welche! Bist du mir nicht der nämliche David Groth, der im vergangenen Herbste den Buxtehude-Abend in der Schulaula gestört, indem er unter Ausnutzung eben erworbener Kenntnis der Hebelgesetze den Klappdeckel seiner Bank zum Haselnußknacken benutzte? In den Augen der Singgemeinde bist du rehabilitiert, weil auf diese Weise endlich ein Bericht von den vokalen Anstrengungen Ratzeburgs bis in die Lübecker Zeitung geraten ist, aber in meinen Augen bist du auf Untat fixiert. Ich ziehe einen Strich von den Haselnüssen zu meinen Erdbeeren; da bekomme ich eine Richtung. Ich sehe in deinem Wandel Nichtachtung von dreierlei Eigentum: dem Eigentum als solchem, dem geistigen Eigentum und dem geistlichen Eigentum. Ich sage dir, David Groth, halte ein, kehre um, sonst wartet die Hölle deiner, denn sie ist zugleich mit dem Eigentum erschaffen worden und zu dessen Schutze, und fürchtest du ihrer nicht, so wirst du ein großer Räuber werden. Dies sprach ich als Pastor zu dir, und als Erdbeerbesitzer versohle ich dir jetzt den Hintern.«

Soweit mein Pastor, und nun ich: Der Mann hat recht behalten mit mir, und seine Hirtenhand hat mir die Mahnung eingerieben, so sehr, daß ich bei meinen ferneren Unternehmungen über die Zäune um andrer Leute Propretät die nahe Hölle immer vor Augen hatte. Das hielt mich meist in Grenzen und schärfte meine Umsicht, wo ich sie doch überschritt.

Bis dann jener Fall eintrat, an den mein Pastor nicht hatte denken können; an diesem, an diesem Falle war ich sehr beteiligt. Er steht auf der Rolle der großen Delikte verzeichnet als die Expropriation der Expropriateurs; das ist wissenschaftlich und bedeutet: Enteignung der Räuber, und es ist natürlich, daß die es Raub des Eigentums nannten.

Und wieder wissenschaftlich ist, daß mein Pastor, historisch fixiert, wie er war, auf dreierlei Formen von Eigentum, eine vierte Form nicht zu sehen vermochte – denn wer kann schon von Ratzeburg bis Moskau sehen? –; doch nun kann auch mein Pastor, so ihm sein Gott noch immer die Augen offenhält, diese vierte Form von Eigentum gewahren – wir haben es ihm leicht gemacht: Hebt er den Blick aus seinem Erdbeergarten ostwärts, sieht er hinüber nach Gadebusch, wo einstens Theodor Körner fiel, dann kann er die dort historisch fixierten Buchstaben lesen: VE; VE wie Viertes Eigentum, VE wie Volkes Eigentum.

Doch sollten ihn darob die guten Augen schmerzen, so halte ich einen Trost für ihn bereit: Er hat recht gehabt mit mir und meiner Richtung, und wenn seine Einreibung bei mir nicht auf Dauer verfing, so mag er wissen: Seine nicht und mancher andrer auch nicht; bei mir nicht und nicht bei den meisten von meinesgleichen.

 

Als mich mein Lehrermensch Kasten in das hinausließ, was er das Leben nannte, da sagte er zu mir: »Da jetzt dein Vater den grauen Rock des Führers tragen darf, Geliebter mein, obwohl er einmal, dank unserem Führer, in Zebrastreifen gelaufen ist, will ich dich behandeln, als wärest du der Sohn eines beliebigen Volksgenossen, und will dich gemahnen an ein Wort unseres großen Dichters Hermann Burte: ›Musik entsprang aus deinem Blut, ein Strom, und wogte Lust am Tod in deine Lieder‹ – wir haben es durchgenommen: Was hier mit der zweiten Person, Einzahl, vom Dichter angerufen wird, ist Deutschland, und in dieser großen Stunde behandle ich dich trotz deines Namens als einen Teil davon. Mögest du nimmer den im Schrifttum beschriebenen Kreislauf durchbrechen – wir haben ihn einmal durchgenommen: Aus dem Blut entspringt die Musik, und diese wogt, weil sie vom Blute ist, die Lust am Tode in die Lieder, und diese schwellen dem Manne den Arm, und wo er nun hinkommt, fließt wieder Blut, und so weiter, Beispiele dazu: Volker der Spielmann und Richard Wagner. Du trittst nun ein in den Arbeitskampf, und einmal wirst du auch in den größeren Kampf gerufen, da weise würdig dich unter den Waffen; und tönet der Sang vom Deutschland über allem, dann wisse, er kommt aus unserem Blute und ist die reine Lust am Tod!«

Soweit mein Lehrermensch Kasten, und nun ich: Mit der Lust am Tode hat es zwar ein Leben lang gehapert bei mir – ehe ich eine Lust darauf habe kriegen können, ist mir immer die Angst vor dem Tod dazwischengeraten, so daß es zu Dichter Burtes Kreislauf in mir nicht kommen wollte –, aber vergebens hat mich Herr Kasten keineswegs behandelt.

Vor allem entsann ich mich gut seiner Mahnung, als späterhin wieder der Sang aufklang von Deutschlands gehobener Stellung. Dann dachte ich mir: Was singt ihr denn hier; was summt ihr da so; wer ist hier der Spielmann?

So sah ich da näher hin und sah so manchen Volksgenossen, den ich wohl noch kannte, und meinte auch Herrn Kasten zu erkennen, und sagte mir: Wo das singt und wo man so was singt, da laß dich niemals nieder, und laß dich auch nicht ruhig nieder, solange man noch nebenan so todeslustig nach des Volkers Fiedel springt.

Nichts geht über einen guten Lehrer: Bringt dir das Reimen bei, und hat er tausendmal »Geliebter mein« zu dir gesagt und einmal »Mögest du nimmer!«, dann magst du nimmer anders an ihn denken als in treulich dankbarer Liebe. So geht es mir mit meinem Lehrermenschen Kasten.

 

Als mein Onkel Hermann, der Feldwebel Groth, mit mir auf dem Motorrad durch Holsteins Buchenwälder raste, da sagte er zu mir: »Ist das vielleicht keine richtig feine Sache, was hier so unsere Heimat ist? Donnerst hier durch die Büsche und kannst nach Herzenslust schrein; bist ein freier Mensch bei dem Krach und ist auch noch gut für die Kommandostimme. Was muß ich da zu Hause das Maul aufmachen und krieg auch noch Konzertlager für? Nee, David, ich will dir mal was sagen: Eine 500er Triumph, das ist was richtig Feines. Triumph bedeutet dasselbe wie Triumph; das ist, wenn sie sich richtig freuen und haben auch einen Grund dazu. Deshalb habe ich meine Triumph, weil ich da weiß: Scheißt mich der Hauptmann an, sage ich ›Jawohl!‹, und abends steige ich auf meine Maschine, rausche hier durch das meerumschlungene Land und rufe aus tiefstem Herzensgrunde: ›Herr Hauptmann, Sie können mich mal am Arsche lecken; Sie sind ja doch zum Scheißen noch zu dämlich; daß Sie es nur wissen!‹ Da siehst du, David, was so ein Motorrad für eine richtig feine Sache ist und unsere hier noch dünn besiedelte Heimat auch. Wenn du groß bist, schaff du dir man auch ein Motorrad an, damit du auch wie ein freier Mensch leben kannst, und zu Haus sag man nu nix von dem, was wir uns hier eben verzählt haben, das gibt nur Ärger.«

Soweit mein Onkel, der Feldwebel, und nun ich: Mein Onkel hatte da einen Punkt gemacht; alles, was er gesagt hatte, sprach für den Ankauf eines Motorrades, und ich habe mir schließlich auch eines angeschafft.

Vielleicht hat es an der Marke gelegen, daß es mir nicht so richtig fein geholfen hat wie ihm. Ich habe es mit einer RT 125 versucht und mit einer 350er Jawa, aber ich habe mich beim Schreien nur bis auf den tiefsten Magengrund erkältet.

Vielleicht schrie ich auch nicht mit der richtigen Inbrunst, denn »Genossin Müntzer!« schreit sich einfach anders als »Herr Hauptmann!«.

Vor allem aber – hier sehe ich den Hauptgrund, warum meines Onkels Rat nicht so recht zum Greifen kam –, vor allem bin ich zu spät zu meinen Donnerrädern gekommen. Das hing mit meinem Gehalt zusammen und der Motorradproduktion im Lande und dem Import von außerhalb – ehe ich die große Anschaffung machen konnte, um mich mal so richtig fein frei ausdrücken zu können, hatte ich schon zu lange in der Rundschau gearbeitet, und der Herr Hauptmann dort hieß Frau Müntzer, Genossin Müntzer; diese Frau Hauptmann gab sich nicht mit Jawohl zufrieden, die ließ einen nicht aufs Rad zur befreienden Fahrt, bis nicht jetzt hier einmal alles geklärt worden war, und dämlich war die in keiner Hinsicht – was sollte ich da noch zum Schreien hinaus in die Heimat?

Und träfe ich heute in der alten Heimat meinen Onkel Hermann wieder, oder käme er zu Besuch in meine neue Heimat hier, so müßte ich ihm sagen: Ganz sicher hast du es gut gemeint mit deinem Rat, aber der Lauf der Dinge hat es gewollt: So ganz die richtig feine Sache ist so ein Motorrad auch nicht mehr – doch ich gebe zu: Das kann auch an der Marke liegen. Und eines habe ich jedenfalls aus deinem Beispiel gewonnen: Wenn ich in der Rundschau einen von denen seh, die mit mir arbeiten, und sehe auch, der hat sich ein Feuerrad gekauft, dann achte ich, ob er im Motorendonner die Lippen spitzt, und sage zu mir: Du, du David Groth, du wirst dem doch hoffentlich kein alter Hauptmann sein?

 

Als mein zweiter Lehrherr, der Büchsenmachermeister Treder, dahinterkam, daß seine dürre Schwiegertochter ballistischen Umgang mit seinem Lehrling Daffi trieb, da sagte er zu mir: »Ich könnte dir glatt in die Fresse haun, und es reizt mich geradezu, dich ›David‹ zu rufen; verdient haste beides. Nur der Mangel an anschlägigen Leuten, die sich auskennen mit Gustav-Adolf-Musketen und dem Wert davon, behindert mich. Ausgerechnet mit die Ursula! Du kuckst wohl nicht auf die Pakete, wenn du sie zur Post bringst, du liest wohl meinen Helmut seine Adresse nicht: SS-Güterverwaltung Minsk? Denkst du vielleicht, der ist da Schweizer, Obermelker, Zitzenzieher bei die Panjekühe? Den mußt du mal hören, wenn er auf Urlaub ist und hat eine Flasche Martell hinterm Koppel! Da kann ich immer nur sagen: Mensch, Helmut, Junge, was du da erzählst – könnt ihr das nicht humaner erledigen: saubere Kugel hinters Ohr und damit Heinrich Schlusnus? Wenn du den da mal hättest lachen hören, dann würdest du aber lieber an die Winterhilfe spenden als an die dünne Zicke. Der macht ’ne Kumuluswolke aus dir; so nennt er das, wenn er Laune hat. Und dem seine spärliche Gattin? Das muß doch geradezu aufreibend sein; Mensch, Daffi, die taugt nischt, und dicht hältse bestimmt nicht. Ob du mit einem Weib ein Geheimnis tauschst, oder du sagst es beim nächsten Wunschkonzert durch alle Volksempfänger, das ist Jacke wie Weste. Weiber sind dem lieben Gott sein Pfusch. Um mit einem Vergleiche zu sprechen: Der Mann ist reiner Bohnenkaffee, erste Kameruner Hochlandsorte; die Weiber sind Muckefuck, Kathreiners Ersatzmischung. Wo wir einen Kopf haben, Daffi, da haben die eine Nachahmung; damit es nicht so auffällt, haben sie die langen Haare. Die Frau an sich hat nischt zu besagen; sie hat nur was zu besagen als die Fortsetzung des Mannes in einen niederen Lustbereich – det sagt ein alter Kunde von mir, ein studierter Mann, du kennst ’n, der mit dem Faible für die Hakenbüchsen. Mensch, Daffi, zieh dich zurück aus der schütteren Ursula!«

Soweit mein zweiter Lehrherr, und nun ich: Ich habe mich zurückgezogen. Man soll seinem Lehrherrn folgen aufs Wort, und ich bin ihm gefolgt, ihm und seinen Worten, bis auf einige Worte. Auch er hat seine Verdienste um mich, der Meister Treder – weiß ich, ob ich nicht ohne ihn längst eine längst verwehte Kumuluswolke wäre, eine von den vielen?

So will ich ihm den Vorwurf nicht machen, daß seine Bilder vom Verhältnis zwischen Mann und Weib eher farbig als stimmig gewesen sind. Ich habe mich mehrfach Damen gegenüber als erste Kameruner Hochlandsorte zu geben versucht; mir scheint, es hat etwas humoristisch gewirkt. Womöglich hätte ich einiges damit beschicken können, als Kamerun noch Deutsch-Kamerun war – ich sage seither: Für manches ist man einfach zu spät geboren.

Aber das mit dem Lustbereich stimmt, nur: wieso eigentlich »nieder«? Darin wieder habe ich sowohl meinem Meister als auch seinem studierten Gewährsmann nie folgen können.

Doch eines noch habe ich aus meines Lehrherrn Traktat vom Weibe und vom Weibe Ursula und von deren Gatten Helmut und seinen Launen für mein Leben gewinnen können: Die Neigung, hinter die Worte zu sehen und mich nicht gleich, um ein Beispiel zu nennen, mit pastoralen Vorstellungen zu befrieden, wenn mir einer sagt, im Kriege, ach ja, da habe er in einer Güterverwaltung gewirkt. – Ähnliches gilt übrigens für Berufsbezeichnungen wie: Baumeister, Hilfsreferent, Mediziner oder Theologe.

Ich bin meinem Meister sehr verpflichtet.

 

Als der Leihbibliothekar Geschonnek in mir einen vertrauenswürdigen Kunden erkannt hatte, da sagte er zu mir: »Sehen Sie, Herr Groth, ›Sternstunden der Menschheit‹ von Stefan Zweig, das Exemplar ist etwas stockfleckig, aber das gehört sich in diesem Falle; es sind Male seiner Herkunft, wenn ich es so ausdrücken darf. Das Werk ist mir lieb, ich leihe es nicht jedem, es erinnert, wie ich sagen darf, an meine Sternstunde. Ein jeder hat eine solche, nicht nur Dostojewskij und die anderen Herren bei Zweig. Meine hat sich im letzten April des letzten Krieges zugetragen. Der Russe kam nach Berlin, und die Bewohner der Stadt sahen ihre Bücher durch; manche warfen wohl auch alle, die sie hatten, fort; man wußte doch nicht. Es hat viele Methoden gegeben, die verdächtigen Werke aus den Häusern zu schaffen; eine war, man warf sie ins Wasser. Man warf sie sogar in die Panke; der April hatte ihren Pegel etwas gehoben. Ich war schon damals Invalide, und ich wohnte unweit der Panke, und als ich das mäßige Flüßchen voller schwimmenden Schriftguts sah, da hatte ich, wenn ich es so formulieren darf, meine Sternstunde. Aus Neugier zunächst und dann aus tieferem Interesse zog ich das Treibgut ans Ufer, wandelte es so in Strandgut, und da ich wissen durfte: Hiervon wollte niemand mehr Eigentümer sein, setzte ich das Jus litoris wieder in Kraft – Sie sollten wissen, ich war einmal bei Gerichte beschäftigt – und erhob einen Anspruch auf die feuchten Fundsachen. Das meiste zwar habe ich der Panke im Handumdrehen zurückerstattet, gleich einundzwanzigmal den ›Mythus des 20. Jahrhunderts‹, aber ein Rest blieb; daraus ist Geschonneks Leihbücherei erwachsen. Das Werk da in Ihren Händen und die Wasserflecken darauf erinnern noch daran. Wenn ich es einmal dahingehend umschreiben darf: Das Glück harrt des Menschen nicht nur an den weiten Küsten des Meeres!«

Soweit mein Leihbibliothekar, und nun ich: Ich sehe mich in vollem Einverständnis mit Herrn Geschonnek. Ein Freund von mir hat es mit der Meeresküste versucht, als die von meinem Bibliothekar erwähnten und seither zeitweilig auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik stationierten sowjetischen Streitkräfte sich ihm näherten. Da hat mein Freund geglaubt, auf dem Darß fände ihn niemand; er hatte sich schon recht gemütlich auf eine peninsuläre Robinsonade eingerichtet, als sie ihn fanden. Er war dann einige Zeit im Donbass beschäftigt. Für mich lag der Donbass damals in Sibirien und Moskau auch oder Leningrad; so wollte ich weder in den Donbass noch nach Leningrad. Mein General Klütz hatte es auch nicht gewollt; da hatte er rechtzeitig seine Anwesenheit in entgegengesetzter Richtung erforderlich gemacht, und im Wagen war nicht mehr Platz gewesen, wegen ihm und der Nichten und dem Handgepäck. Ich begab mich in Berlins Rieselfelder, einen Landstrich, von Wasserläufen durchzogen, die der Panke nicht unähnlich sind, diese aber in der Stärke des Geruchs noch ein wenig übertreffen.

Niemand glaube, die Armisten, die meinen Freund, meinen General, Berlins Bücherbesitzer und auch mich so erschreckten, hätten die duftende Abwässer-Landschaft um die Stadt unbeachtet gelassen; sie schickten ausgesuchte Männer mit starken Nerven auf Patrouille durch das Gelände, und wen sollten die anders suchen, sagte ich mir, als mich.

So zog ich mich, wenn sie nahten, immer in einen röhrenförmigen Durchfluß zurück. Dort wohnte mein Glück, wenn ich einmal mit Herrn Geschonnek sprechen darf.

Aber, ach, ich sehnte mich wahrhaft bald nach den weiten Küsten der Meere! Nach den sandigweichen Stränden dort, nach ihren reinigenden Wogen, nach den süßen Brisen und dem freien Wind.

Ja, nach mehrfach wiederholtem Aufenthalt im Darmsystem der Reichshauptstadt, nach Schweigeminuten in einem Wasser, das wer weiß wer unter sich gelassen, nach Bedenkstunden neben einer nackten toten Ratte, nach Augenblicken der Einkehr, in denen ich hingelagert war auf den schlickigen Grund dieses Stoffwechselkanals von meiner Heimat Metropole, ja, nach einiger Vertrautheit mit dem, was alles dieses Land mir zu bieten wußte, da faßte mich gar die Neugier, wie es denn wohl in Sibirien sei, da riß es mich fast heraus aus der Röhre und wollte mich bis in den Donbass ziehn, da meinte ich: Steppe, Taiga und Tundra, nun denn, meine Lieben, ich komme! Es hat sich so ergeben, daß sie mich nicht gleich haben wollten; der Frühling ging hin und auch der Sommer, und im Herbste trat ich in die Rundschau ein, aber die Neugier auf Sibirien, die hielt an und auch das Reißen nach dem Donbass hin und hin nach Leningrad und in die Taiga, und einmal gab ich dem Reißen nach und stillte meine Neugier, einmal und viele Male noch, und Freundschaft konnte da einfach nicht ausbleiben.

Und da diese für mich in einer Berliner Rieselröhre begann, unterschreibe ich Herrn Geschonneks Satz: »Das Glück harrt des Menschen nicht nur an den weiten Küsten des Meeres.«

 

Als ich den Begründer der REBEA, den pensionierten Eisenbahner und Großvater Richard Kist, interviewte, da sagte er zu mir: »Bei allem, was geschehen ist, bei allem Mißgeschick, das mir widerfuhr, bei allem gesellschaftlichen Ungemach, das mir geschah, lege ich doch Wert darauf, für einen Selfmademan zu gelten, und sähe es gern, sähe man fürder in mir ein dahingehendes Exempel.«

Soweit mein Interviewpartner Kist, und nun ich: Ich hatte auch einen Großvater, und einen Selfmademan hatten wir auch in unserer Familie. Ich kannte diesen nur aus den Berichten jenes; zornige Berichte waren das und so patriotische, daß auch das entscheidende englische Wort in ihnen wie ein deutsches ausgesprochen wurde: Selfmademann.

Der so Genannte, ein Schwager meines Großvaters, war aus Ratzeburg fortgegangen und nach New York heruntergekommen – Neuyork hieß dieser Ort natürlich für meinen Großvater; er war auch im Kyffhäuser-Bund.

Der Schwager, mein Großonkel, hatte den dort üblichen Aufstieg vom Golfballjungen zum Golfballproduzenten vollzogen, eine Karriere, die meinem Großvater schon deshalb suspekt bleiben mußte, weil Golf in seinem Ratzeburg ungefähr so bekannt war wie jetzt in meinem Berlin und weil es ein Spiel war, mit dem der Schwager sein Glück gemacht hatte; was also lag näher, als daß dieser Mann ein Glücksspieler war?

Nun kam der Neuyorker zu Besuch zu Schwester und Schwager, log ihnen etwas vor von Wolkenkratzern und Demokratie, rauchte die gute Stube voll mit Uppman-Zigarren, bot aber keine an und war überhaupt ohne alle Geschenke oder wenigstens Mitbringsel gekommen, spann ein Garn von seinem Siegeszug durch die Staaten und knüpfte hinter jedem Abschnitt einen markierenden Knoten darein, den Spruch nämlich: »Und daß ihr es wißt: Ich bin ein Selfmademan!«

Diese Tortur hat acht Tage gedauert, dann hat mein Großvater den Selfmademan aus dem Haus gejagt, und nachgerufen hat er ihm das fürchterlichste Wort, was ihm greifbar war: »Du, du Selfmademann!«

Und später, als ich hinausging von Ratzeburg nach Berlin, da hatte mein Großvater für mich nur einen Rat und sprach ihn aus wie eine Herzensbitte und eine feurige Drohung: »Und denn, min Jung, werd du mir bloß nicht auch so einen Selfmademann!«

In diesem Licht ist ersichtlich, daß des REBEA-Begründers Aufforderung, ihn als ein Exempel zu nehmen, bei mir vor offene Ohren kam; ich tat den Hinweis dieses Großvaters zu dem meines Großvaters hinzu, addierte sie und zog aus der Summe den Schluß, der nicht das Zitat ist, für den man ihn halten mag: Es geht auch so, doch anders geht es auch.

Manchmal, so erfuhr ich noch oft, ist die Erinnerung daran nicht völlig ohne Nutzen.

 

Als die Gräfin Lehndorff bei uns das tat, was sie den Tee nehmen nannte, da sagte sie zu mir: »Schauen Sie, Herr Groth, Sie sind aus dem westlichen Raum in den östlichen gekommen, und ich kam aus dem östlichen in den westlichen Raum. Ihr Vater hat, wenn ich so gut unterrichtet bin, wie mein Job es verlangt, im Dritten Reich Schweres erlitten; ein naher Verwandter von mir, Olrik von Dolenhoff, den Sie kennen, da auch Ihr Job solche Kenntnis von Ihnen verlangt, hat ebenfalls den Unrechtsstaat am eigenen Leibe erfahren. Sie kommen aus einfachsten Verhältnissen; ich komme im Grunde auch aus einfachsten Verhältnissen. Es ging in unserem Hause weniger feudal als frugal zu, und die Strümpfe, die wir als Kinder trugen, waren vom gleichen rauhen Knäuel, von dem auch die Strümpfe der Kätnermädchen kamen. Sie haben lernen müssen, zäh und für sich, und auch mir war niemand mit einem Nürnberger Trichter behilflich. Sie sind ein Pressemann mit Leib und Seele, und auch ich bin diesem Handwerk ganz verhaftet. Sie haben Ihre Schwierigkeiten mit Ihren Leuten, ich die meinen mit meinen. Ihr Herausgeber ist ein anderer als mein Herausgeber, aber wir haben beide einen; wir sind beide nur Diener. Ich räume ein, Sie und ich haben gewiß einige Divergenzen, wenn es um die Frage geht, was denn die Wahrheit sei, doch daß es uns beiden um die Wahrheit gehe, wird uns beiden niemand bestreiten dürfen. Wir lieben es beide, nüchtern zu sein, und nüchtern also: Hier ist Gemeinsamkeit. Sie kamen aus dem westlichen in den östlichen Raum; ich bin aus dem östlichen in den westlichen gekommen; die Gleichung hebt sich auf, denn die Erde ist rund; die Richtung ist nichts, die Bewegung ist alles. Schauen Sie, Groth, und sagen Sie mir, wo bleibt, auf die Dauer gesehen, meine ich, wo bleibt auf die Dauer der Unterschied?«

Soweit die Gräfin, und nun ich: Ich kann es nicht leugnen: Die Theorie der Gräfin hatte ihre eigene Schönheit, und ich kann auch nicht bestreiten, daß einige der Zeilen aus ihrem Skript nicht ohne Wohlklang waren. Ich könnte auch sagen, sollte es tun: Sie haben mir geschmeichelt. Wahrscheinlich ist es mir ein wenig wie Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow gegangen: Aug in Auge er mit Moltke nun, dem legendären Genie.

Töricht, nicht wahrhaben zu wollen, daß es dem mächtig Getretenen für einen Übergangsmoment wohl tut, den so schrecklich lang mächtigen Treter sagen zu hören: Wir sind nun einander gleich. Denn der sagte dies nie, wäre er nicht, in dieser Stunde wenigstens, besiegt. Doch war da die Erinnerung an einen einstmals festen Griff um meine Gurgel, die mich den gräflichen Arm mit freundlichem Dank von meinem Halse nehmen ließ, und ich erwähnte mit sanftem Hohn des Wandels der Zeiten, aber dann schien es mir, als sei ein Ton von höhnischer Sanftheit allenfalls geeignet für den Verkehr zwischen Gleichen, und so sah ich uns nicht, die Gräfin und mich, und ich sagte es ihr; ich sagte: »Wir wollen hier keinen Fehler machen, aber wir machten einen, vergäßen wir über dem, was uns durch Natur und Geschichte gemeinsam ist, ein, zwei Dinge, die uns trennen. Unsere Gemeinsamkeit ist die von Hermann A. und Hermann A. Sie heißen nicht nur beide Hermann und heißen nicht nur beide Hermann A., sie sind auch beide zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt gewesen, was sie wohl beide, wenn sie sich sehr zusammennehmen, Unrecht nennen, und – jetzt kommt das schönste Gleichheitszeichen zwischen ihnen – sie haben beide in einunddemselben Haus, Berlin W 8, Mauerstraße 39, und gar in einunddemselben Zimmer, Nordflügel, 1. Stock, als Unternehmenschef gesessen, der eine Hermann für die Deutsche Bank und der andere Hermann für das ›Neue Deutschland‹; zwei deutsche Hermanns und einander ungefähr so gleich, wie Sie, Frau Doktor, Sie und ich.

Nein, bitte nicht, entrüsten Sie sich nicht vorschnell, bitte; ich verwechsele Sie nicht mit dem einen A. und mich auch nicht mit dem anderen; ich habe das Spiel auch nicht aufgebracht, ich möchte es nur zu Ende bringen; da schlage ich vor, wir lassen, zur Prüfung der schönen Gemeinsamkeit, von der Vergangenheit und prüfen uns an der Gegenwart. Es ist ein Spiel, Gräfin, und in diesem Spiel begeben wir uns alle, Sie und der eine Herr A., der andere Hermann A. und ich, in das Nordflügelzimmer im ersten Stock der Mauerstraße 39, 108 Berlin, und sehen alle aus den Fenstern dort, sehen über der Straße in östlicher Richtung das Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik, sehen nach Norden hin die Rückfront der sowjetischen Botschaft und ein Teilstück des Ministeriums für Volksbildung, sehen nordwestlich das Brandenburger Tor und sehen im Westen schließlich eine Grenzbefestigung, die manche auch die Mauer nennen.

Dies gesehen, setzen wir uns nieder, die Deutschen Lehndorff und A., A. und Groth, und dann schreiben wir auf, was uns einfällt nach solchem Rundblick, schreiben, was uns erinnert hat und woran, was uns gefallen hat und warum, was uns nicht gefallen hat und, auch hier, warum, was wir bewahren möchten und wozu, und wir schreiben, was wir, könnten wir, änderten und zu welchem Ende.

Ich will Sie nicht behelligen und das Spiel bis dort treiben, wo die vier deutschen Aufsätze verlesen werden; ich bin nur gewiß, wir bekämen nicht nur vier verschiedene Arbeiten, sondern auch vier, aus denen sich zwei Paare machen ließen, und ich vermute nur, die Ihre und die meine, die gäben kein Paar.

Wir geben kein Paar, Gräfin, wenn wir aus jenem Fenster sehen auf ein Stück Welt, und wir geben kein Paar, von welchem Punkte auch wir die ganze Welt betrachten, und da ist ein Unterschied von lange her und ist auch von langer Dauer.«

Ich muß jetzt sagen, das Spiel mit dem Fenster war vielleicht etwas bemüht und hergeholt, und doch ist es öfter noch nützlich gewesen. Ich habe mir angewöhnt, ungebetene oder unerprobte Freunde – im stillen seither und für mich, versteht sich – vor die Perspektive in der Mauerstraße zu bitten, und wenn die Rede von Standpunkt ist, dann sehe ich mich dort; mein Blick gewinnt dann stets an Schärfe.

Das dank ich der Gräfin; ich danke ihr.

 

Als mein erster Meister, der Ratzeburger, aus Gründen, die er mir nicht offenbarte, für eine Woche auf Reisen mußte, da sagte er zu mir: »Junge, dir steht sowieso ein Urlaub zu; den nimmst du eben jetzt; brauchst also morgen und bis zum nächsten Montag nicht zu kommen.«

Soweit mein erster Meister, und nun ich: Junge, war das eine Freude aus dem Blauen heraus! War das ein herrlicher Tag und war mein Meister ein herrlicher Mann! Ein anderer als er hätte seinen Koffer genommen und hätte mich, mit Anweisungen versehen, in der Werkstatt zurückgelassen. Aber nicht er; er hatte Herz, und ich wollte ihm das nicht vergessen.

Ich verreiste auch; ich klemmte meinen Rucksack aufs Fahrrad: Ade, Ratzeburg; grüß dich, Mölln; hallo, Schwarzenbek; guten Tag, Hamburg! Es gab dort einige weitläufige Tanten und einen echten Onkel, meiner Mutter ältesten Bruder, doch vor allem gab es dort Hamburg, und meine Besuche fielen flüchtig aus. Bei einer Tante, die keine richtige war, durfte ich wohnen; den Rest der Verwandtschaft versah ich mit Grüßen, ließ mich mit Butterbroten versehen und war schon wieder fort, kaum daß ich mein unvorhergesehenes Erscheinen begründet und das Lob meines guten Meisters gesungen hatte.

Mein großzügiger Ausbilder erntete immer den Beifall meiner Anverwandten; nur einmal nicht. Das war bei meinem richtigen Onkel. Der war so. Meine Mutter sagte später: »Ja, der ist eben blind.« Er war wirklich blind. Er war Heizer gewesen auf einem Schiff; da war einmal ein Wasserstandsglas geplatzt.

Er war auch in der Schlacht im Skagerrak gewesen, und in Kiel hatte er in einem November etwas getan, von dem meine Mutter nur flüsterte.

Sie verstanden sich nicht gut, meine Mutter und ihr Bruder; die wenigen Besuche endeten meist mit Streit, weil mein Onkel so unvorsichtig war, und mein Vater war ihm zu still. »Der ist eben blind«, sagte meine Mutter über ihren Bruder.

Zu mir war er nett, stellte sogar, um sich mit mir zu unterhalten, das Radio ab; ich verstand sowieso nicht, was die da sprachen, ausländisch und auch sehr leise. Ich mußte erzählen, was ich schon alles in der Stadt gesehen hatte, und mein Onkel freute sich, und ich habe ihm gern erzählt.

Ich habe ihm auch von dem Urlaub erzählt, wie unverhofft der gekommen war und was ich doch für ein Glück mit meinem Meister hatte.

»Ja«, sagte mein Onkel, »zusätzlich Urlaub ist schön. Hat er dir denn auch dein Geld gegeben?«

»Fünf Mark die Woche«, sagte ich, »so steht es ja auch im Lehrvertrag. Aber zusätzlich ist der Urlaub nicht. Das ist jetzt mein Urlaub, nicht?«

»Kannst weit mit springen, fünf Mark«, sagte mein Onkel, »aber wieso ist das denn dein richtiger Urlaub? Ich denke, du hast ihn so holterdiepolter gekriegt?«

»Das schon«, sagte ich, »aber wo doch mein Meister verreisen mußte!«

Da war mein Onkel gar nicht mehr nett. Er hat getobt und meinen Meister einen Hund genannt und alle Meister Hunde, seltsame Hunde: Ausbeuterhunde! Mich hat er auch beschimpft, weil ich mir das gefallen ließe.

Der ist eben blind, dachte ich, der kann nicht sehen, und da kann er manches auch nicht richtig verstehen. Darum erklärte ich es ihm noch einmal: Hier konnte nicht die Rede sein von »sich gefallen lassen«; einmal ließ ich mir so einen unverhofften Urlaub nur zu gern gefallen, und was hieß: gefallen lassen – ich war Lehrling, mein Meister war Meister, war der Chef, war der Herr vom Geschäft, war mein Herr, war der Betriebsführer, nicht?

Da hat mein Onkel in Ruhe mit mir gesprochen, aber ich habe gesehen, daß ihn das sehr angestrengt hat, und vielleicht nur deshalb habe ich ihm geglaubt, was ich verstanden habe.

Alles habe ich nicht verstanden, und ich habe mehr Fragen mitgenommen, als ich Antworten bekam.

Aber die Antworten und die Fragen sind mir im Kopf herumgegangen, auch noch, als ich wieder über Mölln nach Ratzeburg fuhr, und auch, als ich wieder in meines Meisters Werkstatt war.

Der fragte mich, wie es im Urlaub war, und ich sagte ihm, gut sei es gewesen, und ich dachte: Wenn du aber denkst, daß ich es noch herrlich finde, wenn du mir meinen Urlaub gibst, wann es dir paßt, und mich nicht erst fragst, ob es mir paßt – nee, das denk man nicht! Ich hab gehört, das war schon mal anders, und das muß auch anders sein. Ich hab auch gehört, ich verdiene hier zwar was bei dir, aber ohne mich würdest du gar nichts verdienen, man hat mir das vorgerechnet. Und man hat mir auch gesagt, ich soll auf die Sachen nicht bloß von deiner Seite her kucken; ich soll auch mal von meiner Seite her kucken, da sehen die Sachen manchmal anders aus.

Nein, einen Hund habe ich meinen Meister nicht einmal in Gedanken genannt, und schon gar nicht so umständlich einen Ausbeuterhund, aber ich habe ihn eigentlich auch nie mehr einen herrlichen Mann genannt, obwohl er ein guter Mann gewesen, wie sich zeigte, als mein Vater gestorben war.

Aber herrlich, nein, dazu hatte ich nun schon zu oft auf die Sachen mit meinen Augen gesehen; es ist mir beinahe Gewohnheit geworden, und meine Mutter hat das früh gemerkt, und als sie heraus hatte, daß meine neue gehässige Art auf den Besuch bei ihrem verbitterten Bruder zurückzuführen war, da sagte sie: »Ja, der ist eben blind!«

Das sah ich aber anders.

 

Als der Westberliner Polizist mich in seinem Gewahrsam hatte, weil auf meinen verbotenen Flugzetteln von friedlicher Verständigung die Rede war, da sagte er auf den Stufen seines Reviers zu mir: »Das werden wir euch Brüdern ein für allemal austreiben!«

Soweit der Polizist, und nun ich: Ich tat etwas, wofür ich zu Hause Schelte bekam, weil es in schreiendem Widerspruch zum Text meiner Zettel gestanden hatte, weil es schädlich und sinnlos war und weil ich es nur aus einem Westberliner Kino hatte haben können: Ich hörte dem Polizisten zu, bedachte, was er mir austreiben wollte, und das auch noch ein für allemal, und traf ihn zwischen Kinn und Kragen, und erst auf dem schnellen Heimweg sagte ich: »Nie!«

 

Als ich ein Spottgedicht auf die Babypille witzig gefunden und es hatte drucken lassen, da sagte Schwester Turo zu mir: »Wieviel Kinder haben Sie eigentlich, Herr Groth? Wenn ich richtig mitgezählt habe, haben Sie den einen David. Ich will Sie nicht fragen, wie Sie das machen; es wird wohl auch nichts Originelles sein; wenn man ein Dutzend Jahre Hebamme ist, übersieht man das Gebiet ungefähr – aber wie Sie dazu kommen, so einen miesen Witz zu drucken, das frage ich Sie einfach mal. Mir darf wahrhaftig keiner sagen, ich liebte die Kinder nicht; dazu habe ich zu vielen auf die Welt geholfen, und ich habe sie alle gemocht, alle, Herr Groth, und ich wollte, ich könnte nach denen allen sehen, so wie ich hin und wieder den David sehe. Das ist schön, können Sie mir glauben, wenn ich die Bengels mit ihren großen Klappen höre, Autos und Beat und Mathematik, dann denke ich: Ach, Kleiner, jetzt gibst du so an, aber ich weiß noch, wie du nach Luft geschnappt hast und wie du gerochen hast und hast getan, als würden wir dich verhungern lassen. Und manchmal möchte ich dann sagen: Du, Großmaul, Drachentöter, was meinst du denn wohl, wer dir als erste eins auf deinen Hintern gegeben hat? Was würdest du sagen, wenn ich dir sage: Du, und gepudert habe ich ihn dir auch. Jeder Beruf hat seine Haken und Ösen, aber jeder Beruf hat auch etwas, warum man ihn gegen keinen andern tauschen würde. Meins ist vielleicht, daß ich in der Straßenbahn sitze und mir die jungen Damen betrachte und denke: Na, Fräulein, haben wir uns nicht schon mal gesehen? Aber manchmal denke ich bei denselben jungen Damen: Und wann werden wir uns wiedersehen, wann kommst du mit deinem Köfferchen und hast deine Art von Angst? Noch bin ich nicht so lange in dem Beruf, daß meine Ersten kommen, um ihr Erstes zu kriegen, aber lange dauert das nicht mehr. Denen werden schon die Knie rund, und oben rum ist die sogenannte Beschleunigung am Werke; an dem Tag, an dem die erste auftaucht, weiß ich: Jetzt bin ich so eine Art Oma. Aber reden wir nicht weiter von mir, und reden wir nicht von den ganz Jungen; wir wollten ja von dem Gedicht in Ihrer Zeitung reden. Das soll also nun sehr komisch sein, daß es jetzt etwas gibt, damit die Akrobatik aufhört und die Nachttisch-Mathematik und die Industrie mitten zwischen den gehobenen Gefühlen – das finden Sie witzig, wenn ein Stück Angst abgeschafft wird? Das ist mir aber sehr seltsam, denn so kenne ich uns sonst gar nicht. Sonst sind wir doch immer dabei, wenn es auf die Angst losgeht; wieso ist denn dies nun zum Lachen? Neulich hab ich im Radio einen singen hören, so schwarze Lieder, wie sie das nannten; das ist allgemein nicht mein Fall, und die meisten Sachen von dem waren auch nicht mein Fall, aber ein Lied war dabei, das hat mir auch nicht gefallen, und doch. Da hat er den Lebenslauf von einem gesungen; ein ziemlich sinnloses Leben war das, entweder ist ihm alles danebengegangen, oder wenn es geklappt hat, hat man nicht gewußt, wozu. Und der Sänger hatte schon ein gewisses Recht, wenn er in jeder Strophe den, von dem er gesungen hat, gefragt hat: ›Für was bist du gekommen?‹ Nicht gefallen hat mir das Lied, weil man den Eindruck haben konnte, es war nicht nur der eine Pechvogel gemeint; es waren alle Menschen gemeint, das ganze Leben, und da bin ich anderer Meinung. Aber gefallen hat mir die Frage: ›Für was bist du gekommen?‹ Die kenne ich nämlich, die kenne ich aus meinem Beruf. Manchmal denke ich das selbst, wenn ich mir die Eltern ansehe: Hängen so im Leben rum, sind sich selber nicht gut, können sich nicht ausstehen, weil sie wissen, daß sie nichts taugen, daß sie ihren Punkt verpaßt haben, schlurren so durch die Weltgeschichte und werden nur noch lebendig, wenn es in die Federn geht; da haben sie denn sechs Kinder, und denen sieht man auch schon an, daß die Schule allein gegen die Schlurrigkeit nicht ankommt – und nun kommt Nummer sieben, und ich denke: Für was bist du gekommen? Aber für diese Art Leute ist die Pille auch nichts, da mache ich mir nichts vor, weil sie einfach nicht die Disziplin haben. Aber die vielen anderen; da gibt es Krankheit, anatomische Besonderheiten, Kummer mit der Wohnung, einen Beruf, den man nicht aufgeben möchte, ein Studium, das man unterbrechen muß, oder auch bloß einen Mann, mit dem das wohl Spaß macht, aber zum Heiraten möchte man noch zwei, drei Gründe mehr. Man könnte sagen, das hat es immer gegeben. Stimmt, und all den Jammer, den hat es auch immer gegeben. Früher hat es auch immer Kindbettfieber gegeben. – Das Gedicht da in Ihrer Zeitung, Herr Groth, das finde ich nicht so ulkig, aber wissen Sie, was ich ulkig finde: Wenn ich mir vorstelle, der Papst liest Ihre Zeitung und das dämliche Gedicht, und da nickt der Papst und freut sich. Herr Groth, der freut sich dann über Sie, denn der sagt ja auch, daß es anders als zum Kinderkriegen Sünde ist. Vielleicht kriegen Sie nun Privataudienz bei ihm und dürfen ihm den Ring küssen, das ist ja da so Mode. Aber im Ernst: Allein für die Leute, die gerne Kinder hätten, aber ihre Gründe haben, daß sie bei dem, was jetzt kommt, denken müssen: Für was mußt du ausgerechnet jetzt kommen? – allein für die ist so eine Erfindung ein Segen. Und ich finde, alles ist ein Segen, was wieder ein bißchen Angst aus der Welt bringt oder auch die Heimlichtuerei und die Heuchelei, und wenn was hilft, daß Lust und Lustigkeit auf einmal gehen, zusammen, das ist doch nun wirklich ein Segen. – Ich habe keine Ahnung, Herr Groth, wie das in Ihrem Beruf zugeht; ich bin nur darauf gekommen, als ich dachte, dem Herrn Groth wirst du mal die Meinung sagen zu dem Blödsinn, den er da gedruckt hat; da ist mir eingefallen, daß es uns in einem Punkt vielleicht ähnlich geht: Wenn ich meine Arbeit nicht ganz genau mache, dann haben andere den Schaden, und manchmal ein Leben lang. Das gilt ja für die meisten, und für Ihre Arbeit wohl auch, bloß bei Ihnen kommt es gleich in Massen. Ich kann mir nicht helfen, aber mir würde es nicht gefallen, wenn ich denken müßte, ich bin schuld, daß heute tausend Leute genauso idiotisch gelacht haben wie ihre Opas vor hundert Jahren über die Pockenimpfung. Ich glaube, da würde ich mich aber mal vornehmen.«

Soweit die Schwester Turo, und nun ich: So schwer es mir fiel, ich habe mich vorgenommen.

 

Als ich einen Redakteur, der womöglich unser bester war, in den Kongo schicken mußte, da hatten wir in einem Punkt heftigen Streit, und da sagte er zu mir: »Sie sind der Chef; wenn Sie es anordnen, werde ich es tun, aber ich sage Ihnen, ich halte es für eine Übertreibung. Die Spritzen, bitte, die waren nicht zu umgehen. Aber nun habe ich die Nase voll. Die Impfungen zusammengenommen sind schlimmer als eine von den Krankheiten, gegen die sie gedacht sind. Weder Cholera noch Ziegenpeter können jetzt ran an mich, und wenn ich Malaria höre, kann ich nur lachen. Das heißt, ich kann nur vorsichtig lachen, denn ich habe von den verdammten Kanülen tausend Löcher im Leibe. Wenn die nun auch noch diese Tropenuntersuchung machen und zapfen mein Blut und beäugen es, da können sie doch kaum etwas anderes finden als all die vorbeugende Flüssigkeit, die sie in mich hineingepumpt haben. Außerdem ist das ohnehin nur eine Formsache, mehr wegen der Versicherung. Zum Röntgen war ich erst neulich, mein Herz ist taufrisch, mein Kreislauf kreist zu meiner größten Zufriedenheit; ich gehe da nicht hin. Ich sage es Ihnen also, wie es ist, Kollege Groth: Ich halte es für die äußerste Übertreibung, und von mir aus gehe ich nicht da hin. Selbstverständlich gehe ich da hin, wenn Sie es anordnen; Sie sind der Chef, ich kenne meine Pflichten …«

Soweit der Redakteur, und nun ich: Ich mochte den, der war tüchtig und mutig, konnte reden und hinsehen und schreiben, auf den war Verlaß, und vor dem den Chef herauszukehren hätte mir wenig gefallen, und so bestand ich denn nicht auf der Untersuchung und sagte zu ihm, als er mir lange genug die Ohren vollgeblasen hatte: »Dann machen Sie doch, was Sie wollen!«

Nun, er hatte beim Lobpreis seiner Organe den Magen nicht erwähnt und hatte auch seine Gründe gehabt; ich erfuhr es dann: Es klappte nicht so recht mit der Säureproduktion, es war kein großer Schaden, ein kleiner nur, und zu Hause richtete er sich damit ein. Aber er wollte in den Kongo und wollte nicht riskieren, daß ihm ein Doktor zuerst einen widerlichen Schlauch zu schlucken gäbe, nur um ihm dann zu sagen: »Nein, Herr, Sie bleiben mal besser hier!« Und ich kehrte den Chef nicht heraus und sagte: »Dann machen Sie doch, was Sie wollen!«

Der Kongo war nichts für ihn, das Essen nicht und die Entfernung zum nächsten Krankenhaus auch nicht: Zuerst war es nur Durchfall, dann sah es wie Gelbsucht aus, dann wurde es ein dauernder Leberschaden, und am Ende war das nicht mehr derselbe Mann, das hatte er auch mir zu danken.

Gelegentlich heißt es jetzt von mir, ich kehrte ein wenig heftig den Chef hervor.

 

Als ich Chefredakteur in der Neuen Berliner Rundschau werden sollte, da hatte ich Bedenken, und da sagte der Genosse Kutschen-Meyer zu mir: »Wenn du jetzt kneifst, hast du nischt verstanden, studiert oder nicht, da biste nachträglich durch alle deine Lehrgänge durchgefallen. Von Arbeiter-und-Bauern-Macht reden kann nämlich jeder, aber jetzt sollste ausüben. Ausüben mußt du sie, sonst wird nischt, und, damit ich mich deutlich mache: sonst bleibt auch nischt. Denk bloß nicht, deine Bauchschmerzen sind einmalig; die wiederholen sich auf jede Ebene. Wie ich hier Fahrdienstleiter werden sollte, dachte ich zuerst: Mensch, Meyer, denn siehste aber den Fatzken verdammt ähnlich, der bei Schultheiß immer die Zettel aus sein Fenster geschwenkt hat: ›Meyer, Sie fahren heute Steglitz, aber vergraulen Sie uns nicht die Kundschaft mit Ihren Parolen!‹ Konflikte gibt’s auf jede Ebene, und auf jeder Ebene ist ein Stück Macht. Weil die nämlich konkret ist. Solange du das nicht verstanden hast, weißt du, was du da nicht verstanden hast? Die Grundfrage, mein lieber Intelligenzler. Da haste alles verstanden, bloß det bißken Grundfrage nicht. Das erstemal wie ich den Fritze Wolf wiedergetroffen habe, nach Krieg und Knast und all den Vergnügungen, da war er auf Verschiedenes nicht gut zu sprechen, und der Grund war, er sollte Botschafter in Warschau werden. Dazu hat er nicht gekämpft, hat er gesagt, und ich habe gesagt, ich bin überzeugt, er hat dafür gekämpft, daß da wieder so ein von der Schulenburg oder von Tippelskirch hinkommt. Da war er auf mich auch nicht mehr gut zu sprechen. – Auf alle Ebenen, sag ick dir, detselbe Theater, und auf allen Ebenen steht die Frage: Wer denn sonst, wenn nicht wir? – Nun noch ein persönlicher Gesichtspunkt: Mir würde det ja ein sehr persönliches Vergnügen sein, wenn du hier den Chef machst. Denn wärst du doch in einem bestimmten Sinn mein Nachfolger. Wir wissen ja beide, nach welchen historisch überholten Gesichtspunkten sie mich damals hier reingesetzt haben, aber wenn mal einer die Geschichte von unserem Bilderblatt schreibt, wirst du da als so eine Art Nachfolger von mir auftauchen, und ick werde nicht penibel sein und sagen: Kontenuetät, Leute, genauso looft der Hase, Leitungstätigkeit auf lange Sicht, planmäßige Kaderentwicklung, det hatten wir bei uns in der Rundschau, bevor es die Wörter dafür gab. Warum aber? Weil wir gleich die Machtfrage richtig gestellt haben. – Na ja, bißchen angeben wird man ja wohl noch dürfen, vorausgesetzt, die Fakten stimmen. Jetzt ist aber leider Fakt, daß du dich zierst und nicht weißt, ob du Chef sein sollst. Theoretisch bist du klar in der Machtfrage, aber praktisch hast du einen Rückfall. Erich hat ’n Gedicht gemacht, det kennste: mit Kapitel I und II der Weltgeschichte, und du bist jetzt mit dem Finger in Kapitel I geraten; die Chefs, die du nicht sein möchtest, die stehen in Kapitel I, aber die Macht, die du ausüben sollst, die steht in Kapitel II. Im übrigen ist das so: Du wirst nun an die Kompetenzen gebeten, und außer der Ehre ist das auch ein Auftrag. An der Ehre kannst du dich von mir aus schwer schleppen, aber wenn du den Auftrag nicht annimmst, dann bist du für mich ein grober historischer Irrtum. Da mußt du klarsehen, sonst wird nischt.«

Soweit der Genosse Kutschen-Meyer, und nun ich: Ich wollte kein grober historischer Irrtum sein und bin an meine neue Arbeit gegangen.

 

Als die Schiffe meines Generals Kurs auf die Insel Kuba nahmen, und die Schiffe des Gegenadmirals hatten sich vor diese Insel gelegt, und jedermann auf Erden, der in der Schule wenigstens bis zur Division gekommen war, konnte aus Entfernung und Geschwindigkeit den Zeitpunkt der Begegnung ermitteln – als wir alle wußten, der Kurs auf dem Wasser ist nur eine der Bahnen, auf denen jetzt Entscheidung zieht, andere sind abgesteckt seit langem: unter dem Wasser, über dem Wasser in Wolkenhöhe und über dem Wasser in Mondeshöhe – als wir wußten: solche, die in der Schule weit über die einfache Division hinausgekommen waren, hatten sich längst präpariert und gingen nun ins Große Staatenexamen und hätten uns gerne dabeigehabt als Summanden und Multiplikatoren, als Kontrahenten in Divisionen – als wir wissen mußten: Dies kann die Nacht der Nächte sein, dies kann sie sein: die Nacht; da fragten wir uns vieles, da nahmen wir uns noch einmal alles vor, da zählten wir die Schwalben auf unseren Fäden und zählten auch die Sterne dazwischen; da zählte ich, da nahm ich mir vor, da fragte ich mich: Für was bist du gekommen, wenn dies geschehen kann, und wenn es nicht geschieht, für was wirst du bleiben?

Soweit meine Fragen, und nun meine Antwort, eine Antwort, die inzwischen ausführlicher ist, als sie es damals war, denn inzwischen hat es weitere Nächte gegeben, in denen wir in den Himmel horchten; es hat andere Orte gegeben, nach denen wir in unseren Atlanten sahen; Admirale sind gefallen, andere gekommen, die Rechner geblieben, die große Rechnung auch; die Schwalbenketten sind länger geworden, der kleineren und größeren Sterne mehr, und ich sehe ein wenig deutlicher, für was ich gekommen bin und für was ich bleiben muß.

Das Kommen und Bleiben hat einen Sinn, wenn wir Gebrauch machen von dem, was uns begegnet; so Gebrauch davon machen, daß anderen das Kommen leichter wird und das Bleiben erst recht.

Wir haben eine Fähigkeit, von der wir manchmal nicht wissen mögen und manchmal nichts wissen mögen; durch sie zuerst sind wir aus dem Diluvium herüber hierhergekommen, und durch sie steht es bei uns, wie lange wir bleiben: Wir können lernen.

Da haben wir ein Maß, von dem wir lesen können, wie es um uns steht: Was machten wir aus dieser Fähigkeit, wie nutzten wir sie?

Und ich lasse es mir nicht ausreden, wie oft auch der Schein oder Teile von Wirklichkeit dagegensprechen wollten; mir redet das niemand mehr aus: Wir haben unsere Chancen nicht vertan; wir haben sie längst noch nicht genutzt, aber vertan haben wir sie nicht. Die Vorsicht neben der Überzeugung kommt her von dem Wissen, daß dieses Wir ein zusammengesetztes ist. Dieses Wir besteht aus Klugheit und Dummheit, Wachheit und Schläfrigkeit, Fleiß und Faulheit, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut, Schärfe und Stumpfe, Jugend und Alter, Kraft und Schwäche, Erfolg und Niederlage, Überfluß und Mangel, besteht aus Kämpfern und Opfern, aus Spähern und Flüchtigen, aus Fechtern und Schlägern, aus Forschern und Gläubigen, aus Helfern und Häftlingen, aus Lotsen und Schmarotzern, besteht aus drei Milliarden Teilen, und jeder von uns ist der dreimilliardste Teil dieses Wir.

Gerade das hat mir zu schaffen gemacht und hat mir geholfen in den Nächten der so verschiedenen Admiräle: die Vorstellung, mich gibt es dreimilliardenmal.

Ich habe mich aus dieser unförmigen, nicht mehr hantierbaren Zahl herausgelöst, habe sie mir gemerkt als einen Multiplikator, den ich gleich wieder brauchen würde, und habe versucht herauszufinden: Wer ist das, dieser eine, was ist der, was steckt allein schon in diesem einen?

Es war ein Versuch, ich bin nicht weit gekommen; ich kam nur auf einen sehr unvollständigen David Groth, ungefähr diesen:

Einen Vierzigjährigen, geboren in einer Republik, aufgewachsen in Diktatur, lebend nun in einem sozialistischen Lande. Seine Mutter weiß noch, wie der Kaiser ausgesehen hat, so weiß er es auch. Sein Vater war Arbeiter, er war auch Arbeiter, jetzt ist er es nicht mehr, aber er arbeitet. Er hatte Umgang mit Lehrern, Hebammen, Kanzlern, Fischermeistern, Büchsenmachermeistern, Generälen, solchen und solchen, Pastoren, Fotografen, Chauffeuren, Setzern, Ärzten, Rentnern, Schwindlern, Kutschern, Mädchen, Tanten, Müttern, Redakteuren, Funktionären, lieben Menschen, schlechten Menschen, solchen Menschen und solchen Menschen.

Er ist in Oslo gewesen und in Oelsnitz, in Nanking und auf dem Flugplatz von New York und auf anderen Flugplätzen auch und auch an einigen anderen Orten.

Über der Wüste Gobi hat er vier reihernde Fregattenkapitäne gesehen, und in Bayreuth hat er über ein offenes Grab hinweg einem Pfarrer zugehört und hat gewußt, der war gar kein Pfarrer.

Er hat einige tausend Bücher gelesen; der größere Teil hat nichts getaugt. Er erinnert sich gut an sein erstes großes Leseerlebnis: Da hat ein Mann auf eine Tafel im Garten »Taxusstecklinge abzugeben!« geschrieben, und er hat begriffen, was der Mann damit sagen wollte. Er hat auch zu ahnen begonnen, wozu Lesen und Schreiben gut sein konnten.

Er erinnert sich an das Gewicht von zwei Händen, die einen Tag lang eine Feile gehalten haben.

Marcel Marceau hat ihm einmal vorgeführt, ihm ganz allein, wie es aussähe, wenn Marcel Marceau den Napoleon spielte.

Er hat vier Unfälle gehabt, davon zwei schwere. In Singen hat er einmal eine Eins gehabt, das wundert ihn immer noch. In Kirchen hat es ihn immer gegruselt, auch in den schönsten.

Er hat einen zornigen Pablo Neruda erlebt, das Thema war: Traven.

Als er zum erstenmal betrunken war, hängten ihn seine Freunde über ein Brückengeländer.

Er findet Sektierer lustig, wenn sie nichts zu sagen haben.

Er hat nicht alle Interviews gekriegt, die er haben wollte; von den Fehlschlägen ärgert ihn besonders der mit Richard M. Nixon, Rechtsanwalt, auf der Berliner Karl-Marx-Allee.

Aber in Schanghai hat ihm ein Schuhhändler ein Lied aus dem ersten Weltkrieg gesungen: »Im Feldquartier auf hartem Stein …« Und in einem Antiquariat hat er dort Ernst von Salomons »Kadetten« gekauft.

Er hat schon einmal Hundekuchen gegessen, dreimal täglich sechs Tage lang.

Er war dabei, als Tschou En-lai Ehrendoktor der Humboldt-Universität wurde.

Erinnerlich ist ihm ferner: Daß er geschlagen worden ist, weil er mit dem Stuhl gewackelt hat, weil er hinter dem falschen Mädchen her war, weil er die Rede eines ehemaligen Bannführers mitgeschrieben hat; daß er gelobt worden ist, weil er einen Zwanzigmarkschein abgegeben hat, weil er einer alten Frau Geschichten erzählt hat, weil er Bohnensuppe kochen konnte.

Erinnerlich sind ihm weiter: Das Ticken einer Taschenuhr von IWC; der Tag, an dem die Rosenbergs starben; der Herbst in Ungarn; der Geruch am Barlach-Grab; der Morgen, an dem der Krieg begann, und der Morgen, an dem der Krieg gegen Rußland begann; der Abend, an dem er sein Parteibuch vermißte; ein Gewitter auf der Müritz; das Feuer am vierzehnten Geburtstag; die Sauna in Lahti; Brechts Stimme; Gerhart Eislers Stimme; Spargel mit Schinken im Schabbelhaus zu Lübeck; die Aufbaustunde an der Leninallee, in der die Nachricht vom Tode Stalins kam; der Papa aus den »Tagen der Commune« und Joseph Roths »Radetzkymarsch«.

Ohne Mühen ist ihm noch Weiteres erinnerlich; mit Mühen noch weit mehr.

Für sicher hält er: In allem steckte ein Sinn; in allem steckt ein Sinn.

Auf das ungefähr komme ich, wenn ich mich mustere; auf das etwa kam ich, als ich den einen von drei Milliarden besah, und ich wurde sehr unruhig, als ich die Rechnung machte: Diesen einen multipliziert mit drei Milliarden – wer setzt das hier aufs Spiel?

Aber ich wurde auch ruhig, weil ich eine ungeheure Stärke sah, denn was sollte stärker sein als zusammengefaßte Erfahrung? Hier, dachte ich und meine ich, steckt eine Möglichkeit, auch deine Möglichkeit, steckt eine Aufgabe, auch deine Aufgabe; für das sind wir bis hier gekommen, dafür bist auch du mit da.

Wahrhaftig, ich weiß, wieviel noch zu lernen ist, aber ich finde, es ist kein Schade, wenn einer das weiß. Schade fände ich es eher, für einen Schaden hielte ich es, man wüßte von so einem und holte ihn sich nicht.

Ich jedenfalls holte ihn, und ich jedenfalls – das bleibt wohl noch zu sagen –, ich käme.