5

»Morgen, Christa«, sagte David, »alles in Ordnung oder irgendwelche Katastrophen?«

»Eine wenigstens, eine mittlere, glaube ich: Carola will nicht auf Schule. Guten Morgen übrigens.«

»Wieso: übrigens? Ich hab doch guten Morgen gesagt!«

»Aber ich nicht.«

»Aha. Und warum will sie nicht?«

»Das sagt sie nur Ihnen. Ich hab sie schon gefragt, aber sie hat mir klargemacht, wo meine Nase hingehört: über die Schreibmaschine und nicht in ihre Angelegenheiten.«

»Und du hast keine Ahnung?« fragte David, aber seine Sekretärin antwortete nicht. Sie preßte lediglich ihre ohnehin zu schmalen Lippen zusammen und drehte an ihrem Verlobungsring.

David wußte nun: Da war nichts mehr zu holen. Wenn Christa dieses Gesicht machte und den Ring auf dem unteren Fingerglied hin und her schob, dann hieß das: Ich wüßte hier schon etwas zu sagen, aber ich werde mich hüten; ich halte mich raus! Und es hieß auch, wußte er, die Angelegenheit, von der zu sprechen Christa sich weigerte, hatte etwas mit ihrem Reizthema Nummer eins zu tun: mit den Kerlen; darüber sprach sie nicht im Dienst, es machte sie, wie sie einmal auf gemeinsamem Heimweg bekannt hatte, unsachlich. Sie hatte Grund: Sie war seit zehn Jahren mit einem Tierfarmer verlobt, der sich seiner Eltern wegen kirchlich trauen lassen wollte, was sie nicht mochte, ihrer Eltern wegen. Sie war darüber mager geworden, und manchmal rutschte ihr der Verlobungsring über den Knöchel, aber vielleicht hatten ihn auch die vielen Drehungen dünngeschliffen: Zu oft kam selbst im Dienst auf die Kerle die Rede, an der Christa nicht teilhaben wollte.

»Sie soll gleich mal kommen«, sagte David, »oder nein, ich geh runter. Wenn was ist, sagst du, ich bin bei der Kaderleiterin, dann werden sie sich hüten zu stören.«

Carola Krell war, laut Urteil der Frauen, zu groß für eine Frau und, laut Urteil der Männer, zu schlau für eine Frau.

David teilte beider Gruppen Urteile nicht, denn er war mit Carola befreundet, und er war einmal mehr als befreundet mit ihr gewesen. Nach den geltenden Bräuchen hätte sie deshalb eigentlich nicht Kaderleiterin in einem Unternehmen sein dürfen, dessen Chef er war, aber einmal war sie es ohne sein Zutun geworden, ohne sein Wissen sogar und zu einer Zeit, als er noch in der Abteilung Inneres saß, und zum anderen war das mehr als befreundet längst vorbei, nicht vergessen, aber doch ohne Bedeutung bei der Arbeit, und außerdem hatte niemand im Hause davon etwas bemerkt, ausgenommen der Botenmeister, dem schier nichts entgangen war, aber der war schon lange tot.

»Was hör ich«, sagte David, »die Kaderleiterin will nicht zur Schulung?«

»Da hörst du recht«, sagte sie, »ich will nicht, jetzt nicht.«

»Das ist ja schon eine ermutigende Einschränkung«, sagte er. »Was hindert dich denn jetzt?«

»Es ist kein Was, kein Gegenstand oder Umstand. Ich selbst hindere mich, oder ein Gefühl, das ich habe.«

»Dann wird’s kritisch. Gegenstände kann man manchmal aus dem Weg räumen, aber Gefühle … Und nun deine gar.«

Sie stand auf und riß ein Kalenderblatt ab, und er dachte: Noch nie hab ich ein Weibsbild mit so einem Kreuz gesehen, aber dann verscheuchte er den Gedanken, denn er wußte, der hatte Brüder, und das war eine Bande, die einem zu schaffen machen konnte, und er saß hier zu einem Gespräch mit der Kaderleiterin, die sich nicht schulen lassen wollte.

Sie sagte: »Ich weiß, wenn ich dich bäte, die Sache zu verschieben, würdest du es tun, ohne weiter zu fragen, aber wir können auch darüber reden; vielleicht zerreden wir dann dieses alberne Gefühl.«

»Mal sehen, wie albern es ist«, sagte David.

Sie setzte sich und faltete eine Schwalbe aus dem Kalenderblatt, dann sah sie ihn an und fragte: »Wie alt bin ich?«

»Du? Du bist sechsundvierzig, glaub ich.«

»Für einen Menschen, der es einmal für ein entscheidendes Argument gehalten hat, daß ich sechs Jahre älter war als er, klingt das recht unsicher.«

»Nanu, nanu, Carola«, sagte David, »ich dachte, du bist nicht für Ausgrabungen!«

Sie fädelte die Schwalbe auf eine Schnur, die sich quer durch ihr Zimmer spannte und an der schon andere Papiervögel hingen, andere Schwalben aus anderen Kalenderblättern. Sie behauptete immer, sie habe kein Zeitgefühl und diese Ketten hülfen ihr, das Verstreichen des Jahres im Auge zu behalten.

»Entschuldige«, sagte sie, »so war es nicht gemeint. Es hat sich nur in den letzten Tagen so ergeben, daß ich manchmal an damals gedacht habe. Der war nett, hab ich gedacht, er hat nur immer so schrecklich Angst gehabt, ich könnte mich für seine Mutter halten. Und gedacht hab ich das auch nur, weil ich jetzt einen habe, der mir hin und wieder wie Uropa und Urenkel zugleich vorkommt, und wenn du mich jetzt zur Schule schickst, wird es nur noch schlimmer.«

»Halt«, sagte David, »ich weiß, dein Arthur ist ein Problem, ich ahne es jedenfalls, wenn ich euch so sehe, aber ich schicke dich nicht, der Lehrgang ist eine zentrale Sache.«

»Weiß ich, aber trotzdem brauche ich jetzt deinen Rat und nicht einen zentralen. Arthur ist ein Problem; er ist es für mich, und ich bin es für ihn. Zuerst war ich auch schon eines für ihn, aber jetzt bin ich es auf ganz andere Weise. Was war er, als ich ihn geheiratet habe vor siebzehn Jahren? Da war er Dispatcher bei der VEAB. Und was ist er jetzt? Jetzt ist er Dispatcher bei der VEAB. Und was war ich damals? Packerin in der Rotation. Und jetzt bin ich Kaderleiterin, Redaktion und Rotation alles eingeschlossen. Sensationell? Nee, ich bin nicht die Sensation in der Familie, die Sensation ist Arthur. Siebzehn Jahre Dispatcher bei der VEAB! Ich seh das Jahr zweitausend kommen, und dann ist der immer noch Dispatcher bei der VEAB.

Kann er auch von mir aus. Aber ich kann von ihm aus nicht. Wenn es nach ihm geht, kann ich nicht weiter. Ich will ja auch nicht weiter, äußerlich, ich hab hier eine gute Arbeit, aber innerlich, David, innerlich läßt es sich nicht verhindern, daß man weiterkommt. Bleiben wir bei diesen vier Wochen Schule, wo sie mich jetzt zentral hinhaben wollen. Das sind vier Wochen neue Gedanken und Lernen und Diskussionen und neue Bücher. Das hab ich dann doch in mir, wenn ich nach Hause komme, und zu Hause sitzt Arthur, der ewige Dispatcher, und merkt das und nimmt übel.«

Sie schwieg und sah vor sich hin; es war ihr anzusehen, wie zuwider ihr die Aussicht war.

David wehrte sich gegen ein aufkommendes Lachen, aber er reservierte es sich für später.

»Aber er ist doch nicht dämlich«, sagte er.

»Das nicht«, sagte sie, »aber faul. Er könnte sich diese Faulheit gar nicht leisten, wenn er dämlich wäre. Er ist bestimmt ein glänzender Dispatcher, aber das ist eitel Routine. Er hat ihnen da bei der VEAB so eine Routine hinorganisiert und sich selber so sehr zum Herzstück dieser Routine gemacht, daß sie ihn immer von allen Lehrgängen ausgenommen haben; es wäre ihnen sonst alles zusammengebrochen. Das schaffst du nicht, wenn du dämlich bist. Er nimmt nur eben kein Buch in die Hand, das ihm seine Ruhe gefährden könnte, und es raubt ihm schon die Ruhe, wenn ich eins in die Hand nehme.«

»Aber Mensch, Carola, das zerfranst mich, jetzt wo mir einfällt: Der hat dich doch überhaupt erst auf die Bücher losgelassen, oder bring ich das durcheinander?«

»Nein, ist schon richtig. Ich war verliebt in ihn, mit neunundzwanzig, großer Gott, weil er so sicher war, so bestimmt – die Routine, verstehst du –, und ich wäre seinetwegen einem Tischrückerzirkel beigetreten oder hätte das Statistische Jahrbuch auswendig gelernt, und ich bin in eine Massenorganisation nach der anderen gegangen und dann in die Partei, weil er gesagt hat: Das Leben läuft dir weg, wenn du an deinem Packtisch bleibst!, und ich hab den Wettlauf aufgenommen, aber zuerst nur seinetwegen; aus Liebe zu einem VEAB-Dispatcher Parteimitglied werden, ich glaub, das war statutenwidrig. Aber du weißt, wie das ist: Man befaßt sich mit etwas, und dann fängt das Etwas an, sich mit einem zu befassen. Man beguckt sich eine Sache, und plötzlich langt die zu und hält einen fest, und du merkst gar nicht, wie sie dich verändert, während du dich mit ihr beschäftigst.

Zuerst war Arthur sehr zufrieden mit mir, ich denk mir jetzt beinah, er hat mir insgeheim Noten gegeben; aber in letzter Zeit hat mich ein paarmal ein entsetzlicher Gedanke angefallen, ich sag ihn dir und sonst keinem: Hat nicht das Verhältnis zwischen Arthur und mir auf verquere Art einen Stich von Zuhälterei?«

»Bist du verrückt?« sagte David leise. »Wie kommst du denn auf den Irrsinn?«

»Mir wär’s lieb, wenn es Irrsinn wäre«, sagte sie, »mir wär’s lieber, als wäre es die Wahrheit. Ich sage ja auch nicht, er hätte mich ausgeschickt, damit ich ihn ernähre, er verdient gutes Geld, und Geld ist bei uns kein Thema. Aber es ist doch etwas dran, ich sage ja, auf verquere Art: Bei uns hier, hier im Land, ist Geld immer noch eine schöne Sache, aber es ist doch im ganzen keine mehr, die mehr aus dir macht, als du bist. Ich erinnere mich noch genau, wie das früher war: Wenn es da von einem hieß, der hat Geld, dann hieß das, er ist bedeutend. Sicher gibt es noch genug Leute, die so reden und so denken, aber es hat sich schon etwas anderes festgesetzt, ich seh’s doch in den Bewerbungsschreiben, und ich höre es doch bei den Kadergesprächen: ›Unsere Tochter studiert Schwachstromtechnik … Der Horscht lernt jetzt Spanisch, komisch, nicht, aber auch ganz schön … und wurde ich bereits viermal für Verbesserungsvorschläge ausgezeichnet … Nee, nee, der Friedmann, dem seine Zweitälteste ist schon Meisterin bei Sonne-Trikotagen …‹ Nein, David, das zählt hier, und das unterscheidet uns von früher.«

»Sicher, aber das soll nun ausgerechnet für deinen Arthur nicht gelten?«

»Es gilt so nicht, weil er seit siebzehn Jahren vor sich hin dispatcht und eben doch mich anschaffen schickt. Ich entwickle mich sozusagen für ihn mit, und in einer bestimmten Phase, wenn er mich da gefragt hat, was ich nun wieder von einem Lehrgang mitgebracht habe, da war es so – jetzt jedenfalls stellt sich mir das so dar –, als hätte er mir die Zahl der Freier abverlangt.«

»Das klingt aber mistig«, sagte David, »hast du mit ihm darüber gesprochen?«

»Versucht, aber erstens stellte sich dann heraus, daß ich ja keine Ahnung von seiner Verantwortung und seiner Qualifikation habe, und zweitens ist er nicht mein Kader, und ich bin nicht seine Leiterin, und die Kaderleiterin soll ich gefälligst im Betrieb lassen, und neuerdings wird er schon argwöhnisch, wenn ich ein Buch aufschlage – ob da was drinsteht, wie ich ihn qualifizieren kann, fragt er, und in einem Ton, als hantierte ich mit Rattengift an seinem Suppenteller.«

»Ich hoffe immer noch, du übertreibst«, sagte David, aber ihre langsame Kopfbewegung war entschiedener als jedes hastige Wort.

»O Tannebaum«, sagte David, »da ist aber das Kalb ins Auge geschlagen! Soll ich mit ihm reden?«

»Worüber denn? Daß ich auf diesen Lehrgang muß? Daß Lernen ein Stück vom Leben ist? Das weiß er alles. Und am Ende geht es jetzt auch nicht mehr darum.«

»Nein«, sagte David, »ich weiß, jetzt geht es wohl darum, daß deine Ehe beinahe zum Teufel ist, und was hab ich da zu reden?«

»Ich komm mir vor wie ein Kinderarzt, der Masern hat«, sagte sie, »hier ist etwas durcheinandergeraten, es paßt überhaupt nicht: Bin ich nicht Kaderleiterin, Klagemauer und Klärbecken, Seelsorgerin, Trostspenderin und große zürnende Mutter, hab ich nicht mit hundert verständnislosen Frauen und hundert sturen Vätern gesprochen, hab ich nicht in sechs Jahren mindestens sechs Ehen gekittet, hab ich nicht wenigstens fünf Dutzend Heidis und Karins und Guntrams und Holgers auf Schulen geschwatzt, gucke ich nicht aus allen Zeitungen so alle fünf Jahre am achten März, bin ich nicht die Medaillen-Carola, Carola, das Beispiel, das glänzende Beispiel, bin ich nicht das wandelnde Frauen-Kommuniqué, bin ich nicht August Bebels Traum und Clara Zetkins Lieblingsidee, bin ich nicht einhundertneunundsiebzig Zentimeter und einhunderteinunddreißig Pfund Gleichberechtigung, und jetzt einhunderteinunddreißig Pfund Katastrophe und Quark und heulendes Elend?«

»Quark jedenfalls nicht«, sagte David, »den mochte ich nie. Man hat mir zu früh und zu oft gesagt, der sei gesund. Nun laß mal das Haareraufen, Vorbild, wir müssen überlegen: Aus dem Lehrgang hauen wir dich vorerst raus; ich hab gute Gründe, die dich gerade jetzt unentbehrlich machen …«

»Dann stimmt es also?«

»Zweitens: Mit deinem Dispatcher könnte ich trotzdem reden, oder nein, ich weiß was: Jetzt dispatchen wir den auf Schule. Vielleicht fängt er dort wieder an zu schätzen, daß er was Gelehrtes zu Hause hat.«

»Dann bricht die Mehlversorgung im Lande zusammen!«

»Das glaubt er! Wenn er wirklich so eine fabelhafte Routine aufgezogen hat, dann wird er sich wundern, wie leicht die ihn entbehren kann. Wenn er glaubt, in seiner VEAB säße keiner, der ihm nicht schon alle Tricks abgeguckt hat, o Mann, dann wird’s Zeit, daß er Schulung kriegt.«

»Er wird nicht wollen.«

»Natürlich wird er nicht wollen. Aber er wird müssen. Hier herrscht allgemeiner Schulzwang. Ich muß mal sehen, wer da Direktor ist, vielleicht kenn ich den. Das ist das Gute an unserem Blättchen: Wenn du lange genug dabei bist, hast du mit ziemlich jedem im Lande einmal zu tun gehabt. Oder ich sprech gleich mit seinem Minister.«

»So von Kollege zu Kollege?«

»Ach, red nicht! Von Genosse zu Genosse. Und woher kenne ich den Genossen Minister, na, rate mal, aber du wirst nicht draufkommen: Von einem Lehrgang kenne ich ihn! Der ist inzwischen auf so vielen gewesen, daß er deinen Arthur mit Wonne in die Mühle schickt; warum nur immer er, das ›Elend der Philosophie‹ ist für alle da! – Oder ich hab noch was anderes, ich hab noch die Zeitung, noch hab ich sie. Ist er eitel?«

»Wer, Arthur? Wohl nicht mehr als jeder Mann und auch nicht weniger.«

»Das ist vollauf genug. Dann machen wir eine Seite mit ihm, in Farbe. Wir stellen ihn in einen Getreidesilo, mitten in ein Gebirge aus den Trillionen Weizenkörnern, die er herumdispatchen muß; vor diesen goldenen Hintergrund tun wir ihn in seinem blauen Kittel, oder hat er keinen, aber dann muß er eben einen anziehen, Gold und Blau, das kommt gut, das sind Farben der Fülle, und dann kriegt er ein schönes Gegenlicht über den Kopf und muß lächeln, nicht zuviel, aber gerade so viel, daß man sieht: Hier steht einer, der weiß, was er kann, und weiß, was er will.«

»Und was will er?«

»Das müssen wir natürlich vorher einfädeln. Wir kommen dazu, wenn sein Direktor gerade dabei ist, es ihm beizubringen. Wir schleppen ihn in seinen Speicher und bannen ihn auf ORWO: Einen Mann, der schon fünfzig ist, einen gewiegten Fachmann, die Seele der VEAB, einen unserer Menschen, die begriffen haben: Ohne Wissenschaft geht nichts mehr! Wenn das in die Zeitung kommt, muß er.«

»Das wäre eine Intrige«, sagte Carola, aber sie lächelte doch.

»Klar wäre das eine Intrige, und nicht meine erste. Aber eine positive, bitte, die kann man verantworten. Zu Schaden kommt niemand dabei, und vielleicht hilft es was gegen dein albernes Gefühl. Man muß immer alles versuchen, Carola.«

»Den Spruch kenne ich noch.«

»Und, war er falsch?«

»Heißt das, daß du wirklich gehst?«

»Wie? Nein, es kann ja auch heißen: Man muß alles versuchen, daß man bleiben kann.«

»Jetzt muß die Kaderleiterin in mir aber lachen!«

»Lachen nennst du das? Das ist der Geierblick eines altgedienten Menschenhändlers, aber warte nur ab, vielleicht entspringe ich euch noch.«

»Willst du es denn?«

David sah ihr zu, wie sie den Papierstern in die Schwalbenkette knüpfte. »Wozu ist das nun wieder?«

»Das ist ein Denk-Mal, ein Erinnerungszeichen daran, daß die Zeit nicht nur vergeht, sondern manchmal auch auf schöne Weise. Da, siehst du, zwei Monatsschwalben zurück steckt auch so eines. Da habe ich einem Mädchen den Tod aus den Augen reden können; nächste Woche heiratet sie.«

»Und heute, dieser Stern?«

»Heute hab ich mit einem netten Mann gesprochen, der einmal mein Liebster war, ich sag’s nie wieder, und mir vielleicht auch nicht helfen kann, aber er hat gesagt: Man muß es immer wieder versuchen! Und morgen steigt er womöglich in einen hohen Sessel, aber heute hatte er noch Zeit für eine Intrige, eine positive, bitte, und hat gemerkt, daß nun ich einmal eine Klagemauer brauche. Das ist eine Menge, David, und das verdient einen Stern, aber ich warne dich: Solltest du Minister werden, hängt das Sternchen da und erinnert mich, wie du gewesen bist. Dann bleib auch so.«

»Du mußt ja eine Menge Papier haben«, sagte David und ging, und im Fahrstuhl hinauf zu seinem Büro und zu seiner Sekretärin mit dem dünnen Verlobungsring mußte er sich eines ganzen Brüderrudels von Gedanken erwehren.

Christa half ihm dabei. An bestimmten Tagen hatte sie eine kratzende Art, die gewöhnlichsten Mitteilungen so vorzutragen, als sei sie Gottes Botin und der Adressat heiße nicht David, sondern Hiob, und manchmal machte David ihr die Freude und stieg in die Hiobsrolle, jammerte ihr etwas vor vom unverdienten Ausmaß der ihm auferlegten Bürden und ließ sich am Ende von ihr zu dem demütigen Bekenntnis zwingen, daß es ihn so unverdient nun auch wieder nicht träfe. Heute spielte er nicht mit, und das stachelte sie nur zu beißenderem Vortrag: »Die Allgemeine Verwaltung hat angerufen: sie brauchen ein Sauerstoffzelt für die Reinemachefrauen, jedesmal wenn ihr Spätsitzung gemacht habt. Die Frau Scherner soll eine Stunde gebraucht haben, nur für die Aschenbecher. Sie haben sie nach Hause geschafft, vollständig blau im Gesicht. – Weiteres zum Thema Blau: Erik läßt sagen, die Witzserie über die Sing-mit-Bewegung im alten Rom ist gefährdet, Kunstmaler Kluncker liegt mal wieder mit Virusgrippe, und Sie wüßten schon: Es ist der sogenannte Radeberger-Export-Virus. – Von der Staatlichen Plankommission: Sie können uns die genauen Zahlen nicht, nicht unterstrichen, vor der Volkskammersitzung geben. Es soll wohl eine Überraschung für die Volkskammer werden, Sie möchten zurückrufen. – Heute nachmittag wird der Gedenkstein für Genossen Schäfers gesetzt, Sie möchten ein paar passende Worte sagen, aber passend müßten sie sein, Genosse Schäfers war darin immer sehr eigen. – Hier sind vierzehn Briefe zur Unterschrift, den an die Post finde ich nach wie vor zu grob, und den an den Frauenbund finde ich versöhnlerisch, nach wie vor. – Ich hole jetzt Kaffee!«

Da er ihre Nachrichten unbewegt entgegengenommen hatte, sprach sie selbst den letzten Satz, als wäre sie Elihu und wüßte von Gottes finstersten Planungen.

Das ist, dachte David, auch gar nicht mal so abwegig. Dann setzte er sich hinter die Unterschriftenmappe.

Darauf schien die Gedankenmeute nur gewartet zu haben. Einer aus dem grauen Pulk war besonders zudringlich und sprang ihn knurrend an: Was bleibt von dir, wenn du hier gehst?

Wieviel mehr als ein achteckiger Stern zwischen zwei papierenen Monatsschwalben bleibt zu deinem Gedenken in diesem Haus?

Und was wird noch in ihm sein von dir, wenn die Jahreskette im Januar ausgetauscht wird gegen einen neuen leeren Faden?

Eine widerlich gierige und niederträchtige Frage war das, denn machte man sich auf die Suche nach einer guten und tröstlichen Antwort, so sah man sich bald in Begleitung von Selbstgerechtigkeit und Eitelkeit, sah sich sein eigen Bild modeln und Spuren finden von sich selbst, die in Wahrheit von schwererem Tritt geblieben waren, von der Zeit, die auch ohne einen ausgekommen wäre, vom Gang der Geschichte, die auch einen anderen in dieses Haus hätte kommandieren können, und seine Fährte wäre keine andere gewesen. Oder doch? In diesem und jenem wohl doch, aber die Frage erledigte sich nicht mit diesem oder jenem; sie wollte wissen: Was hier an diesem Platz ist hier und nur so an seinem Platz, weil du da warst, du, David Groth? Nicht einfach: Du, Chefredakteur, du, Beauftragter, du, Vertreter, sondern äußerst persönlich du, du, David Groth.

Sie war niederträchtig, weil sich niemals eine unumstößliche Antwort auf sie fand und weil sie den Bescheid enthielt: Die Jugend ist vorbei.

Warum Niedertracht? Es war die Wahrheit, und die konnte bitter sein und zerschmetternd, aber etwas wie Vorsatz und Absicht war nicht ihr Teil, und es hatte keinen Sinn, mit den Vermittlern dieser Wahrheit umzugehen wie ein mongolischer Souverän mit den Überbringern schlimmer Post, und das müßte wohl ein wüstes Morden geben, wollte ein jeder, der erfuhr: Deine Jugend ist vorbei!, von Niedertracht schreien und zur Bluttat sich rüsten.

Und ein jeder erfuhr es einmal, Kretins und extreme Leerköpfe vielleicht ausgenommen; die anderen erfuhren es, durch einen Schmerz, eine Rücksicht, eine Ehrung, durch Aufnahme in einen Kreis oder Auslassung aus einem Kreis, durch eine Anrede oder eine Ausrede, durch ein Versagen oder ein neuartiges Vermögen, durch einen Gang zum Schneider oder auf den Friedhof, durch den Wechsel von Bedürfnissen und Abneigungen, durch ein Geschenk oder durch einen Verlust: den Verlust einer Erinnerung, einer Fähigkeit oder eines Verlangens. Oder auch durch einen neuen Hang zur Erinnerung, durch eine endlich erlangte Fähigkeit oder durch ein aufkommendes Verlangen, das anders war als alle anderen zuvor.

Das Verlangen etwa zu erfahren: Was bleibt von mir? Wo geht meine Spur? Wieviel Sterne habe ich geknüpft in die Schwalbenkette, die anfangs unendlich schien? Und wann war das: anfangs? Und immer wieder: Was habe ich angefangen, und was habe ich beendet?

David Groth war vierzig Jahre alt, und das war noch kein Alter, in dem man sich in Lebensbilanzen verbiß, aber es war auch keines mehr, in dem man noch nicht an Abrechnung dachte. Es war dies das Alter, in dem es am sinnvollsten schien, Abrechnung zu machen, Prüfung, Überschlag, Summierung zu Neuem hin: Jenes war, dieses ist, das muß nun werden! Zeit war vergangen, und Zeit war noch gegeben.

Noch – und dieses Noch sprach noch einmal: Die Jugend ist vorbei. Davids vierzigster Geburtstag lag einige Monate zurück, aber er erinnerte sich jenes Augenblicks, da ihm der Satz wie in Leuchtschrift durch den Kopf gelaufen war, der Satz, den er zunächst für eine Konzession an das Datum genommen hatte, eine konventionelle Koketterie eher als eine ernsthafte Erkenntnis, ein Satz aber, der sich nun wieder einstellte mit seiner niederträchtigen Behauptung: Von jetzt an geht es schnell!

Schon wieder: Niedertracht! Aber auch hier war das kein passendes Wort, kein zutreffendes; es war einfach ein dummes Wort, es stimmte nicht. Denn schnell vergangen war die Zeit auch in anderen Zeiten – schon die erste Stunde dieses Arbeitstages hatte einen Beleg dafür geliefert.

Wie lange, hatte Carola gesagt, wie lange war sie mit ihrem Kornverteiler verheiratet? Siebzehn Jahre? Das war immerhin eine Spanne, in der eines sich auswachsen konnte von den Windeln bis in den Maturatsrock, bis in ein Hochzeitskleid und bis in einen stählernen Helm. Und doch, erst einmal vergangen, war dies ein Fingerschnips von Vergangenheit. Wieviel schneller sollte es denn nun noch gehen, und nur, weil man vierzig war?

Das war eine eilige Fahrt gewesen, diese siebzehn Jahre vom Hochzeitstag der Packerin Carola Krell bis zu diesem Morgen der Kaderleiterin Carola Krell mit seiner neuartigen und gesellschaftlich bedingten Finsternis; sie war über die ganze hochgewölbte Länge eines Regenbogens gegangen, von Weltrand zu Weltrand, und doch war die Stunde, in der David Groth von der zweiten Stuhlreihe im Standesamt auf den Rücken der Braut gesehen hatte, diesen Rücken, der sich eher mit Pullovern vertrug als mit weißer Spitze, und gedacht hatte, nicht zum erstenmal und nicht zum letztenmal: Was für ein Kreuz für ein Weibsbild! – dennoch war diese Stunde ein Ebennoch. Und die Stunde, die weitere zwei Jahre zurücklag, die Stunde der ersten Begegnung mit Carola Krell, damals noch Klinger, war auch ein kaum vergangenes Ebennoch.

Damals – und erst dieses Damals klang nach Urferne –, damals lag der Tiergarten noch nebenan und war eine zweihundertfünfzig Hektar große Wüste. Ironischer Zeitlauf hatte den weiten Park im Dreieck zwischen den S-Bahn-Stationen Zoo, Lehrter Bahnhof und Potsdamer Platz, eine preußische Sonntagsweide, auf der es Waffen fast so viele wie Verbotstafeln gegeben hatte, denn beinahe zwischen je zween Fliederbüschen hatte ein bronzener Brandenburger mit dem Säbel gefuchtelt oder sich vielsagend an ein Kanonenrohr gelehnt – ironischer Zeitlauf hatte dieses Zeughaus im Grünen für ein Stück Frühjahr zum Schlachtfeld gemacht; Gräben hatten ihn durchzogen, so lang insgesamt wie Spree und Landwehrkanal, die ihn auf zwei Seiten umschlossen; aus Bunkerlöchern aufgeworfene Erde war über Rabatten geschaufelt worden; Granaten hatten Bäume gerodet und Gewehrgeschosse die Emailleschilder getroffen, auf denen zu lesen stand, wie wertvoll und selten die Bäume gewesen waren; Truppen dieser und jener Couleur hatten hier Biwaks aufgeschlagen, und Trecks von Flüchtigen hatten sich nicht gekümmert um gärtnerische Liebesmüh, und ihnen, den schießenden Fliehenden und den schießenden Verfolgern und den Flüchtlingen vor den Schüssen der einen wie der anderen, waren die Hungrigen des Friedens gefolgt und die Frierenden der neuen Krise, und wie zum Hohn blieb der Ödnis ihr Name: Tiergarten.

Aber er lag nebenan, und in der Mittagspause konnte man sich in ihm die Beine vertreten oder auch lahmlaufen, weit genug und ruppig genug war er dazu.

David war alleine durch die Wildnis jenseits der Wilhelmstraße gegangen und hatte mit Steinen Fußball gespielt, ohne Rücksicht auf die schonungsbedürftigen Schuhe, weil aus Wut auf Penthesilea, die wilde Chefin, die wieder einmal recht behalten hatte, und beinahe hätte er Carola Klinger einen Ziegelbrocken ins breite Kreuz gefeuert.

»Entschuldigen Sie«, sagte er, »was machen Sie denn, spielen Sie Verstecken?«

Sie hockte an der Erde, sah kaum zu ihm auf und schimpfte: »Eine Bande ist das, das sind Verbrecher, Menschenfresser sind das, sehen Sie sich das an!«

»Das sind keine Menschenfresser«, sagte er und kniete sich neben sie und das Kaninchen in der Schlinge, »das sind Karnickelfresser.«

Jetzt erst sah sie ihn an, gerade und wütend. »Ist das vielleicht Ihre Mörderschlinge?«

Er befreite das Tier, das klug genug gewesen war stillzuhalten und sich auch jetzt kaum regte. »Nein, wo sollte ich so einen feinen Draht herkriegen? So blank hab ich keinen gesehen seit Großdeutschland. Und ich eß die Biester nicht.«

Er richtete sich auf und sie auch, und er gab ihr das Kaninchen. »Sie haben es befreit, jetzt können Sie damit machen, was Sie wollen. Das ist heute die Regel.«

»Ich will’s nicht.«

»Dann lassen Sie es laufen, damit es in die nächste Schlinge hopst.«

»Meinen Sie, hier sind mehr?«

»Meine ich. Es geht doch keiner mit nur einem Stückchen so neuen Drahts hier in die Steppe und dreht eine einsame Schlinge. Wer so einen Draht hat, das ist ein Industrieller. Wollen wir suchen?«

Sie ging sofort los, den Blick auf den Boden gerichtet.

»So finden Sie nichts«, sagte er, »Schlingen werden nach einem Muster gelegt, nach einem Plan, und nach demselben Plan müssen wir sie auch suchen.«

»Dann sagen Sie den Plan!«

»Die Dinger sitzen an ähnlichen Stellen wie diese hier. Dies ist ein Durchschlupf durch den traurigen Rest einer Hecke; davon gibt’s hier viel, und da sehen wir nach. Ihr Mörder ist ein Taktiker.«

»Und den Draht, lassen wir den dran?«

»Den einen hier; da hängen wir eine Botschaft ran, damit der Karnickelmeuchler einen Schreck kriegt.«

Er schrieb mit Rotstift auf einen Zettel »Du Faschist!« und darunter »David«.

»Und wie heißen Sie?«

Sie sah auf das Geschriebene und zögerte. Dann sagte sie: »Carola.«

»Auch was Schönes«, sagte er und schrieb den Namen. Dann befestigte er den Zettel an der zusammengezogenen Schlinge.

»Warum denn gleich Faschist?« fragte sie.

»Sie sind gut, eben war er noch ein Verbrecher und Menschenfresser, und bei Faschist werden Sie betulich.«

»Weil es politisch ist«, sagte sie.

»Nee«, sagte er, »nun nicht schon wieder eine Diskussion über den Umgang mit Menschen! Sind Sie eine Schwester von Penthesilea?«

»Von wem?«

»Penthesilea, frühere Amazonenkönigin und jetzige Chefin von dem Haus da drüben; da arbeite ich.«

»Da arbeite ich auch«, sagte sie, »aber bei uns heißt die Chefin Petersilie. Keiner weiß, warum, aber jetzt merke ich, das war wohl bloß ein Hörfehler. Bei uns in der Rotation ist Krach. Wo arbeiten Sie denn?«

»Das ist ein düsteres Kapitel: Innereien – Redaktion für Inneres, das vielfältige, neuerblühende Leben in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, zur Zeit haben wir es mit Adolf Hennecke, ich träume schon von seinen dreihundertsiebenundachtzig Prozent.«

»Dann kennen wir uns also doch«, sagte sie, »ich hab Sie schon mal gesehen.«

»Das schmeichelt mir«, sagte er, »aber gehen wir nun mal ’n paar Prozent Schlingen suchen, und wie ist das, lassen Sie das Vieh laufen, oder nehmen Sie es mit?«

»Ich schenke es weg. Meine Freundin hat zwei Kinder.«

»Und Sie?«

»Keine.«

»Keine Kinder – auch keine Männer?«

»He, he«, sagte sie, und obwohl er schon gesehen hatte, daß sie größer war als er, hatte er bis dahin doch nicht gesehen gehabt, daß sie so viel größer war.

Sie ging mit dem Kaninchen im Arm neben ihm her, während er vier Schlingen von den Büschen löste. Er steckte die Drahtenden ein, und sie fragte: »Wem gehören die nun?«

»Die sind beschlagnahmt, sichergestellt, sequestriert, Volkseigentum.«

»Sind Sie das Volk?«

»Ein Teil davon, ein erheblicher Teil.«

»Vielleicht ein überheblicher Teil?«

»Kann auch sein. Wissen Sie, wir ehemaligen Tiergartenbewohner …«

Sie lachte. »Noch ein Gutsbesitzer aus Schlesien!«

Er sah sie fragend an, und sie sagte: »Die treff ich seit fünfundvierzig überall. Bei mir in der Schicht sind auch zwei. Der einen hat das halbe Riesengebirge gehört – sagt sie. Die andere ist aus Ostpreußen, und ihre Stadtwohnung in Tilsit hätte ich mal sehen müssen, lauter Damast! Aber wir haben auch andere.«

Er nickte. »Ich weiß, was Sie meinen, aber ich hab wirklich mal hier gewohnt. Wenn Sie da rübersehen, eine Daumenbreite links der Siegessäule, da hängt noch ein Viertelstück Dach in der Luft, da ist es. Wollen wir hingehen?«

»Steht Ihr Name noch an der Pforte?«

»Hat nie drangestanden. Da hat ›General Klütz‹ drangestanden.«

»General waren Sie auch?«

»Mensch«, schnaubte er.

Sie lachte. »Sagen Sie nicht Mensch zu mir. – Ich glaube, wir müssen zurück, meine Pause ist jedenfalls bald um; Sie können es ja unterwegs abladen.«

»Da ist nichts abzuladen. Ich hab nur da gewohnt. Sie müssen das ja nicht komisch finden, aber ich darf doch wohl. Das ist keine zwei Kilometer von der Redaktion weg, aber jetzt ist das englischer Sektor, und wir sind sowjetisch, und hier, wo wir Karnickel befreien, ist der General mit seinem Zossen rumgeritten, ein Stück Mist war das, der Gaul.«

Sie ging jetzt ein paar Schritte vor ihm, Richtung Leipziger Straße, heimwärts, arbeitswärts, und er dachte: Hat die ein Kreuz!, aber er merkte, daß sie ihm zuhörte, und er sagte: »Das war vielleicht mein Glück, weiß man nicht. Der General war so ein Schiebekunde von meinem Meister, und als ich eingezogen wurde, hat er mich zu sich geschoben. Das hat mir zwar nicht die Grundausbildung erspart, aber ich weiß nicht was. Ich bin nämlich gelernter Büchsenmacher, und der General war ein mächtiger Jäger. Das Haus hätten Sie sehen sollen.«

»Lauter Damast wahrscheinlich!«

»Lauter Flinten, und alle in Ordnung, da hatte ich zu tun. – Oh, das zerruppt mich: Vielleicht haust der hier noch in einem Keller, mein General, vielleicht ist er das, der hier die Schlingen legt, so ein verrückter Jäger, wie der war!«

Sie nickte. »Wenn das so ein Schiebekünstler war, daß er noch im Krieg durch den Tiergarten reiten konnte und sich einen persönlichen Flintenputzer leisten, dann wird er wohl inzwischen etwas größere Schlingen legen.«

David griff nach ihrem Arm. »Sie, das war aber beinahe eine politische Bemerkung!«

Sie wartete, bis er ihren Arm wieder losgelassen hatte – er merkte an ihrer Art zu gehen, daß sie darauf wartete –, dann sagte sie: »Unsinn, ich bin nur nicht dämlich. Aber ich merke: Sie haben auch diese neumodische Krankheit: Alles, was nicht ganz dämlich ist, ist gleich politisch. Und allerdings: Manches, was bloß dämlich ist, ist schon ganz und gar politisch! Nicht politisch ist nur eine bestimmte mittlere Dämlichkeit, und die ist gar nicht leicht hinzukriegen.«

»Möchten Sie denn?«

»Ich möchte nur meine Ruhe.«

»O weh«, sagte er, »Ihnen schicke ich mal Penthesilea auf den Hals. Wenn die von einem hört, er möchte seine Ruhe, kommt sie in Form, und wenn sie mit dem fertig ist, bewirbt er sich entweder um einen Posten als Politkommissar bei der Baltischen Flotte, oder er ist tot, erstickt. Wenn Penthesilea menschenbildnert, das ist: redet, dann verbraucht sie die ganze Luft im Zimmer. Die lasse ich mal auf Sie los.«

»Dann brauchen Sie sich nicht mehr bei mir sehen zu lassen«, sagte sie.

»Und sonst?« fragte er schnell.

»Und sonst? Es wird ja mal wieder Mittagspause sein, und Sie streichen um Ihre Tiergartenvilla, und ich sehe nach den Kaninchen. Wir haben uns schließlich schon einmal da getroffen.«

»Ja, einmal, das ist mir zuwenig, und das ist mir zu unsicher. Ich mache einen reellen Vorschlag: Ich schweige vor der Chefin von Ihnen, und wir treffen uns auf halbem Wege zwischen Redaktion und der Generalsruine, das ist Potsdamer Platz, das ist Haus Vaterland, wir gehn da einfach tanzen.«

»Der Vorschlag ist so reell, wie man sie heute alle Tage hört: ›Ich tu Ihnen nichts, Frollein, und Sie tun mir was Gutes!‹« sagte sie und sah dabei nicht freundlich aus. Aber dann lächelte sie von weit oben und fuhr fort: »Und ›einfach tanzen‹ ist auch niedlich, Sie Büchsenmacher. Erstens bin ich vier Zentimeter größer als Sie …«

»Zwei!«

»Oder zwei, jedenfalls größer, und außerdem gehe ich nicht in die Nuttenbude, da tanzen sie nur Wechselkurs, Ost-West, Ost-West, und den kann ich nicht. Aber Sie können mich nach Feierabend nach Hause bringen, und damit Sie am Nachmittag noch was zum Überlegen haben: Ich bin nicht politisch, und ich bin nicht dämlich, und manchmal mag ich, daß einer auf mir rumliegt, aber ich werde ganz gern erst gefragt. Wiedersehn!«

»Wiedersehn«, sagte David und sah ihr nach, wie sie durch den Torbogen zum Rotationstrakt ging, eilig und doch ruhig, das Kaninchen im Arm und mit einem Rücken, auf dessen Breite man nicht sehen konnte, ohne sich mit einem Gemisch aus Behagen, Gier und Furcht auszumalen, wie es wohl wäre, mal so auf ihr rumzuliegen.

Auf seinem Weg in die Redaktion hielt er Ausschau nach der wilden Chefin und war bereit, sich in die nächste Tür zu stürzen, sollte sie sich zeigen, denn das war eine, die nicht nachließ, wenn sie einem feind war, und nicht nachließ, wenn sie einem freund war, und da sie David, wie er argwöhnte, beides zugleich war und darüber hinaus eine heftige Pädagogin und Menschenbildnerin und da er auch sein Teil schon weghatte für diesen Tag, hielt er die Augen offen in den dunklen Gängen und die Ohren gespitzt im Schüttern des alten Hauses und kam ungeschoren in sein Zimmer.

Wie sie es machte, wußte er nicht, aber vor ihr ließ sich nichts lange verbergen, und wenn sie einem erst einmal etwas schmackhaft gemacht hatte, dann schmeckte es einem auch wirklich, und wenn sie einem erst einmal etwas versäuert hatte, dann blieb es auch ungenießbar, und so wollte er nicht, daß sie ihn nach seinem Pausentun ausholte; die kriegte es fertig, ihm statt des Tiergartens einen sowjetisch besetzten Park zu empfehlen, denn sowjetisch war für sie in allen Fällen und in allen Hinsichten besser, und kam sie erst einmal hinter die Sache mit dem breitschultrigen Mädchen, dann hatte die Rotation zehn Minuten später ihren Besuch, und dann: Gute Nacht, Carola, und gute Nacht, du gute Nacht mit ihr!

Und selbst wenn das Karnickelmädchen ihm den Besuch der Petersilie verziehe, hätte die Angelegenheit noch kein Ende, oder sie hätte deren mögliche zwei: Entweder die Chefin machte sich von dem Mädchen aus der Rotation ein negatives Urteil – »war Führerin im Arbeitsdienst … hat eine Mutter, die säuft … ihr Vater scheint mir Offizier gewesen zu sein … völlig falsche Einstellung zur Sowjetunion … wie trägt die denn ihr Haar? … wer weiß, wo sie den Pullover her hat …« –, und dann würde sie David eher ersäufen, als daß er noch einmal in die Nähe dieser gefährlichen Person käme; oder das Urteil fiele positiv aus, Spitzenausdruck dafür: »Ein guter Mensch!«, dann könnte er ebensogut heute noch ums Aufgebot laufen, denn morgen müßte er es ohnedies, weil die Herausgeberin der Neuen Berliner Rundschau keine Halbheiten duldete.

Nee, Johanna Müntzer, dachte David, von mir heute kein Wort, und selbst wenn du mich in eine Eiserne Jungfrau steckst oder mir noch einmal die Geschichte der AIZ erzählst oder wie dein Bertram sich von Archipenko und der absoluten Plastik freigearbeitet hat, und wenn du hier redest wie Lenin und herumspringst dabei wie der Turnvater Jahn, verehrteste, wirklich verehrte Chefin – von mir heute keinen Pieps von Pausengängen durch den Tiergarten und nicht den heisersten von einer, die lang ist und Carola heißt und ein Karnickel so im Arm hält, daß man sich fragt, warum man kein Karnickel ist, denn, geehrte Penthesilea, David hat da was für den Feierabend, nämlich Absichten, und zwar dreihundertsiebenundachtzig Prozent!

Neunzehn Jahre lag das zurück, und das Haus Vaterland war längst abgerissen wie die Klondike-Buden am Potsdamer Platz, und dem Tiergarten sah keiner mehr an, daß er des zweiten Weltkrieges letztes europäisches Schlachtfeld gewesen war; dort legte niemand mehr Karnickelschlingen, man kaufte die Hasen wieder bei Rollenhagen, wenn man eine Daumenbreite links der Siegessäule wohnte, und man wohnte dort wieder und war nicht gut zu sprechen auf die Zeitungsleute zwei Kilometer östlich, denn die wohnten weltenfern in einer neuen Art Vaterland und hatten einem inzwischen mehr als eine Handvoll Schlingen gestohlen; die und die verdammten Henneckes und die siebenschwänzige Oberste Abteilung mit ihren Xaver Franks und die verhexten Weiber, die nicht Packerinnen hatten bleiben wollen, und die anderen, denen es nicht genug war, Witwe des berühmten Bertram Müntzer, Witwe des berühmtesten Schülers des berühmten Archipenko zu sein, und die anderen, die, statt in der Börde Rüben zu ziehen, fotografieren mußten und Bilder machen von Henneckes und Xaver Franks und Packerinnen und berühmten Witwen und von Leuten, die auf Rübenziehmaschinen durch die Börde kutschierten, Bilder, denen etwas Widerliches abzulesen war, harmlos Entwicklung geheißen und mit einem Teufelswort Sozialismus; diese Schwefelbande mit ihren Tischlern an Vorsitzplätzen und ihren Maurern auf Tribünen und ihren Straßenkehrerjungen hinter Schreibtischen und ihren Büchsenmachern womöglich in Ministersesseln, diese Satanskorona hatte seit der Bataille im Tiergarten ihr Teilstück Vaterland tiefer gemodelt, als der letzte eiserne Frühling des letzten großen Krieges den großen Park zwischen Brandenburger Tor und Schloß Bellevue zu wandeln vermocht hatte.

Von wegen Bellevue! Von wegen Schöne Aussicht! Zwar ging der Blick vom Schlößchen ostwärts jetzt wieder für knappe zwei Kilometer über wieder grüne Sonntagsweide hin, aber in dieser Höhe dann, eine Daumenbreite links vom Kleinen Stern, brach sich dieser Blick an etwas Ungeheuerlichem kurz unterm Himmel, und es war dies die Fahne von denen da und wehte auf demselben Brandenburger Tor, das derselbe Carl Gotthard Langhans errichtet hatte etwa zu derselben Zeit wie das Schlößchen Bellevue, das einem gerade noch geblieben war. Von wegen Schöne Aussicht! Von wegen Bellevue!

Dazu brauchte es einer anderen Perspektive, zum Beispiel einer, die sich ergab, wenn man in der Chefredaktion der Neuen Berliner Rundschau saß. Da war die Aussicht, selbst wenn sie rückwärts ging, schön, weil sie Sicht auf neunzehn Jahre vorwärts war. Oft genug freilich war dies ein stuckerndes Vorwärts gewesen, eines, dem man diesen Namen manchmal verweigert hatte, und äußerst rar waren die weiten Sprünge gewesen, die Pfeilmomente, Geschoßsekunden, in denen man Meilen flog, so zum Exempel den Halbmeridian, der die Botenmeisterei der Neuen Berliner Rundschau von deren Befehlszentrale trennte.

Der Botenmeister Ratt hatte sich geweigert, seinem neuen Bediensteten genaueren Bescheid über dessen künftige Arbeit zu geben. Er hatte sich in seinen vergoldeten Polsterstuhl gefläzt und dem Novizen David erklärt, die rechte Botentätigkeit gründe sich nicht auf Bezifferbares und Tabellarisches; um sie auszuüben, bedürfe es vielmehr der Eingebung und nicht selten der Erleuchtung, und da er David bereits mit dem Wichtigsten, mit dem Wissen um die Grundgeschwindigkeit eines Boten nämlich, ausgestattet habe, sei dessen Teil jetzt nur, abzuwarten, was die nächste Erleuchtung des Botenmeisters Ratt dem Boten David bringe.

»Zum Beispiel nun«, sagte er und richtete sich unvermittelt auf, und auch David erhob sich vorsichtshalber von dem Schemel, der ihm angewiesen worden war, »hier weiß ich was für dich: Du wirst dreimal ums Gelände der Neuen Berliner Rundschau springen, und zwar wie Achilles, von dem du hoffentlich weißt: Das war ein Schneller. Und zwar wie Achilles, was bedeutet: Wie der um Troja rum, wirst du um die Neue Berliner Rundschau fliegen, denn du willst sie ja erobern und was werden in ihr, zum Beispiel Chefredakteur. So schwirre denn schön ums Haus, dreimal, und hab dabei ein Auge auf das, was aus den Luken lugt, das hält die Festung besetzt, und wenn du sie nehmen willst, mußt du das alles besiegen, zum Beispiel könnte schon der Bildredakteur Gabelbach, der immer aus einem Fenster an der Nordfront hängt, ein Hektor sein und es auf dich abgesehen haben; mustere ihn trotz der unmäßigen Geschwindigkeit, mit der du unseren Grundbesitz umrundest, eingehend, und wirf auch einen Blick bei aller Gedankenschnelle, die dich treibt, auf den dicken Menschen am Tor, und laß dich nicht von seinem Pförtneramt täuschen: Er hat viel Sagen hier und könnte, wollte er, dich aufhalten mit jähem Pfeil und zum Beispiel dein Paris sein, obwohl seine Figur das nicht vermuten läßt; und wenn du bei sausender Rundfahrt einer wüsten Frauensperson begegnest, mein lieber Achilles, dann setze nicht auf deine Schönheit und Tapferkeit, denn von ihr droht wahre Gefahr, weil man von ihr nicht weiß, ob sie einen liebt oder zermalmen will, und die könnte dir zum Beispiel Penthesilea sein, von der auch Sage und schöne Literatur nur Konfuses melden: Hat sie den Achilles gemeuchelt oder jener sie, es ist ungeklärt. Aber nun rausche los mit der zugespitztesten aller Beschleunigungen, fahre ab mit dem Tempo des Boten der Neuen Berliner Rundschau, dreimal um Troja, marsch!«

Ein Irrer! hatte David gedacht und sich auf den Weg gemacht, aber da dies im Oktober fünfundvierzig war und Irresein nicht ganz so selten anzutreffen wie ein Paar neuer Schuhe und da er in die Zeitung wollte um fast jeden Preis, trabte er immerhin um das Zeitungsgelände, und mehr als Traben war auch gar nicht zu leisten, denn jenseits des Zauns um die Rundschau sah es noch um einiges wüster aus als im Tiergarten gleich nebenan.

Und die letzten hundert Meter der letzten Umkreisung lief und sprang er sogar, weil er dem Botenmeister Ratt ein wenig Schweiß vorzuweisen gedachte, denn Schweiß von Untergebenen, das hatte er in seinen Jahren gelernt, war etwas irren Vorgesetzten im allgemeinen der überzeugendste Beleg einer verläßlichen Ergebenheit. So kam er keuchend vor des Botenmeisters vergoldeten Stuhl, aber auf dem saß der Botenmeister Ratt nicht mehr; auf dem Stuhl saß eine Frau, ein plumpes rundes Ding von Frau, saß da wie ein Muttchen, nur nicht so ordentlich gekleidet, und war wohl des Botenmeisters Frau.

Sie hatte – zum Beispiel, wie der sagen würde – blaue Strümpfe an, und das war in Davids Augen eine Neuheit, aber es erinnerte ihn an etwas, wovon er gelesen, und es hatte im Zusammenhang mit Frauen mit Strenge zu tun oder Gelehrsamkeit oder etwas Unweiblichem jedenfalls, aber bei dieser vermutlichen Frau Ratt war das wohl nur Zufall und auch nicht weiter verwunderlich, denn man schrieb eine Zeit, in der man sich nicht nach Vorschriften kleidete, sondern mit dem, was man hatte, und man hatte nicht viel, und manchmal geriet man durch Zufall an ein neues Stück, und wenn es nur bedeckte und warmhielt, dann fragte man nicht lang nach Kleidsamkeit und irgendwelchen Symbolwerten und zog es an, zum Beispiel ein Paar blauer Strümpfe.

Nein, von der Strenge, Gelehrsamkeit oder Unweiblichem waren keine Zeichen an der mutmaßlichen Frau des Botenmeisters, und an dem waren in dem Augenblick, als David mit feuchter Stirn vor seinen Stuhl treten wollte, keine Zeichen mehr von der Strenge des Ausbilders oder von Gelehrsamkeit, Troja betreffend zum Beispiel, und er saß nicht mehr auf diesem Stuhl, er saß auf Davids Schemel, und David konnte sehen, wo er blieb.

Er blieb an der Tür stehen, sagte guten Tag und erwartete von Ratt einen Bescheid, der die drei Geländerunden und die dafür verbrauchte Zeit beträfe.

Aber statt dessen sprach sein Muttchen: »Komm einmal her und sag mir guten Tag!«

Er sagte es ein zweites Mal, ärgerte sich leise über das Du, denn so alt war sie nicht, und so jung war er nicht, und er ließ es geschehen, daß sie seine Hand ergriff und sie mit jener ruckhaften Bewegung schüttelte, die er aus sowjetischen Filmen, den zweien, die er inzwischen gesehen hatte, kannte.

»Wo kommst du her?« fragte sie.

Er verzichtete mit Anstrengung auf die Antwort: »Aus Troja« und fragte zurück: »Jetzt?«

»Jetzt kommst du von draußen, eilig«, sagte sie, »nein, ich erkundige mich nach deiner Herkunft: Arbeiterklasse, Kleinbürgertum, bourgeois oder bäuerlich oder Intelligenzler?«

»Ich oder meine Familie?«

»Das ist wohl eine unnötige Frage, nicht wahr, denn daß du kein Bourgeois bist, werde ich ja noch sehen können, oder meinst du, ich könnte dich für einen Intelligenzler halten, mit deinen Jahren, meine ich? Hattest du schon mal einen Beruf?«

»Also doch ich«, sagte David.

»Nun werde nicht ungeduldig«, sagte sie, »aber du hast recht: Diese Zwischenfrage betrifft dich, aber es ist eine Zwischenfrage.«

»Ich war Büchsenmacher, hab ich gelernt.«

Sie schien das Wort in ihrem Kopf zu wenden, und dann fuhr sie ihn mit ebenso erschreckender wie überraschender Härte an: »Ah, Büchsenmacher, wie? Hast Kanonenrohre gedreht, Läufe gezogen, damit auch ja trifft, was aus ihnen herausfliegt, Abzüge montiert für Mörderfinger, Kimme und Korn gerichtet für Banditenaugen! Nun weiß ich, warum meine Zwischenfrage dir so unrecht war; hättest wohl lieber gehabt, ich frage nach deinem Mütterchen, dem braven deutschen Mütterchen, und nach dem Papa, der sicher ein braver deutscher Papa ist. Der ist dann wohl kein Mordwaffenschmied, wenn du so danach drängst, lieber nach ihm als nach dir gefragt zu werden; was ist der denn, harmloser Müllermeister oder harmloser Blumenzüchter?«

»Vor allem ist er tot«, sagte David und wußte nicht, wieso er sich mit dieser Person in blauen Strümpfen einließ, aber sein Zorn richtete sich weniger auf sie als gegen den Botenmeister, der auf dem Schemel saß und so tat, als wäre es ganz in der Ordnung, daß sein Weib auf dem Boten der Neuen Berliner Rundschau herumhackte. Saß da und sagte keinen Mucks, obwohl er sich doch mit der Weltgeschichte auskannte, mit Dschingis-Khan und Achilles zum Beispiel, und wissen mußte, daß einer noch nicht gleich ein Mörder war, wenn er Büchsenmacher gelernt hatte. Saß aber stumm da und wartete wahrscheinlich auf eine Erleuchtung und ließ die Person reden: »Gefallen oder gestorben, in Krieg oder Frieden, hier oder am Don, was war er für ein Mensch?«

Das war eine Frage in sieben Teilen, und wenn auf die Augen, die ihn da so anstarrten, Verlaß war, dann steckten sieben Fallen darin, und so hatte es David gar nicht gern, daß er den Mund auftat, aber er tat es und sagte: »Das war mein Vater, und er war so gut, wie Sie sich das wohl nicht vorstellen können, und gestorben ist er an einer verätzten Speiseröhre, und gefallen ist er durch einen Gewehrschuß, den er selber abgefeuert hat, und gewesen ist das im Krieg, und er hat eine Uniform dabei angehabt, und in Ihrem Frieden hat er im KZ gesessen, und als er starb und fiel, war das hier, nicht weit weg, in Ratzeburg, und an dem Baum dort, wo das passiert ist, hat ein Mann gehangen, der war nicht vom Don, aber aus Polen. Und nun möchte ich wissen, was Sie das angeht!«

»Rege dich nur auf, Junge«, sagte die vermeintliche Frau des Botenmeisters, »rege dich nur auf; das bildet den Menschen mehr als vieles, und mir ist es ein gutes Zeichen, daß du dich aufregst, davor hüten sich die meisten jetzt hier. – In Ratzeburg? Kennst du Barlach?«

»Sicher kenne ich den«, sagte David und war verblüfft von dem jetzt so anders wachen Ausdruck ihrer Augen, »sicher, den kenn ich, den kenn ich so, wie man einen kennt, hinter dessen Grab man Verstecken gespielt hat.«

»Der arme Mensch«, sagte sie, »und Archipenko, kennst du den auch?«

»Soll der auch da gelegen haben?« fragte David, aber sie überging das und sagte: »Warst du Soldat?«

Da war wieder dieser lauernde Blick, und David sagte seinetwegen mit frecher Forsche, die ihn selbst erschrecken ließ: »Jawohl, und zwar an kriegsentscheidender Stelle!«

»Dienstgrad?«

»Grenadier.«

»Erklärung?«

»Erklärung von was?«

»Du hast eine Provokation versucht«, sagte sie und sah ihn böse an, »oder einen Witz, der, wenn es einer war, ein mieser war. Nun will ich eine Erklärung: War es ein Witz oder war es eine Provokation, und warum die? Oder war es, frage ich, damit du siehst, daß ich bei dir alles für möglich halte, was wieder ein gutes Zeichen ist, denn es gibt nicht viele, bei denen ich alles für möglich halte, bei den meisten halte ich nur Schlechtes für möglich, jetzt hier – oder war es, frage ich also, die schlichte Wahrheit: Warst du vielleicht wirklich ein gewöhnlicher Soldat und doch an wichtiger Stelle?«

Wie die immer »jetzt hier« sagt, dachte er, es klingt wie »jetzt hier in dieser Mördergrube« und auch wie »jetzt hier in diesem Scheißhaus«, aber auch traurig, aber auch so, als wollte sie das ändern. Die mit ihrem Zensurengeben! Jetzt hat sie mir schon zwei gute Zeichen angekreidet. Zweimal zwei plus oder zwei bis, weiß man nicht so genau bei der, ist sie nun freundlich oder will sie einem die Knochen brechen? Die? Wem kann die schon die Knochen brechen! Nun sitzt sie da und wartet wahrhaftig auf eine Antwort: ob ich eine große Nummer von Soldat gewesen bin. Muttchen, du bist eine Lehrertype! Und irgendwo bist du mir nicht so ganz geheuer.

»Was ist eine Provokation?« fragte er.

Er sah, daß er recht gehabt hatte mit Lehrertype: Sie richtete sich auf in des Botenmeisters goldenem Polsterstuhl, sah zunächst in sich hinein und dann ihn wieder an und sagte bedächtig, wie zum Mitschreiben: »Provokation ist eine Aufforderung, eine Herausforderung, eine Anreizung und vor allem eine Aufreizung. Wir kennen den Vorgang, der damit gemeint ist, sowohl aus dem älteren römischen Recht wie auch aus der Medizin, aber diese beiden Bereiche interessieren uns hier jetzt nicht. Uns interessiert der Begriff als ein politischer. Da soll eine Provokation eine politische Gruppe, der man gegenübertreten kann und sie provozieren oder in die man sich einschleichen kann, um sie zu provozieren, in der Politik also soll eine Provokation eine gegnerische Gruppe zu einer Handlung oder Haltung verleiten, die dann Handhabe bietet, diese Gruppe zu vernichten oder in den Augen Dritter herabzusetzen. Das genügt fürs erste.«

Ja, dachte David, das genügt fürs erste; nun weiß ich, daß meine Erinnerung mit den blauen Strümpfen und der Gelehrsamkeit schon in Ordnung war, und mir scheint, dem Botenmeister seine Frau bist du doch nicht. Nur, wer bist du dann?

Und da er das nicht wußte, sagte er vorsichtig: »Also dann war das, was ich über meinen Militärstand gesagt habe, keine Provokation oder war es nur ein bißchen. Vernichten wollte ich Sie nicht, aber reizen kann sein. Sie haben mich auch gereizt; ich könnte auch sagen, jetzt, wo ich das weiß: Sie haben mich auch provoziert.«

»Das ist wichtig, sag das: womit oder wodurch?«

»Es steht an jeder heilen Mauer was von Neubeginn und friedlichem Anfang, und alle sollen da mitmachen«, sagte er, »steht überall angemalt jetzt hier, aber kaum sage ich, ich war Soldat, da machen Sie solche Augen, wie wenn ich Himmler wäre, und weil ich Büchsenmacher gelernt habe, behandeln Sie mich wie Krupp persönlich oder als wäre ich so ’n Achilles oder dieser Hektor aus Troja. Hätte ich vielleicht Fahrradfritze lernen sollen oder Nähmaschinenonkel? Und wenn Ihnen das so wichtig ist, jetzt noch hier: Ich hab auf nicht einen Menschen geschossen, vielleicht, weil ich kaum Gelegenheit hatte, oder doch: Gelegenheit war hier so um April, Mai allemal, ich hab aber nicht geschossen. Kann auch sein, ich hatte Angst, aber wenn wir nun schon von Provokation reden: Ich denke, wie Sie das Wort so erklärt haben, könnte es sein, mein Vater hat mich aufgefordert, nicht zu schießen, und wenn es nach mir geht, war der, den mein Vater da auf sich abgefeuert hat, der letzte Schuß von unserer Familie. Bei mir nix Troja, nitschewo. Aber Sie haben mich gereizt. Ich hab eine Menge Mauern gelesen, jetzt hier, und ich bin hierhergekommen und hab mich nicht als Büchsenmacher und nicht als Grenadier gemeldet, sondern als Bote, und laufe Ihnen als Bote mit Botengeschwindigkeit ums Haus, sooft Sie nur wollen, und da können Sie mich auch in Ruhe lassen, so!«

»Der Teufel wird dich vielleicht in Ruhe lassen«, sagte sie und stand auf, »ich nicht. Du kommst jetzt mit mir. Ich heiße Johanna Müntzer und habe die Verantwortung für dieses Haus. Da wird nicht mehr drum ’rumgelaufen. Aber laufen wirst du für mich. Du wirst durch die ganze Stadt laufen und Mauern lesen und Gesichter lesen und hören, was die Leute reden, und dir merken, was die Leute tun, und wirst mir das erzählen, ich komme nicht genug herum. Und lesen, richtig lesen wirst du auch; ist ja unmöglich: weißt nicht mal, was Provokation bedeutet, das ist ja unmenschlich!«

Sie winkte David und ging zur Tür und sagte zum Botenmeister: »Da müssen Sie sich einen neuen Läufer besorgen, dieser geht jetzt arbeiten!« und verschwand.

Im Nu war der Botenmeister wieder in seinem Sessel und sagte: »Ha, ha, von wegen: bei mir nix Troja, nitschewo! Ist schon da, zum Beispiel jetzt. Nun zieh bloß ab, von mir aus wieder mit ziviler Geschwindigkeit, ja, ich würde sogar äußerst bedacht gehen, denn was da auf dich wartet, ist zwar manchmal nicht ohne Liebreiz, aber vielleicht auch gänzlich mörderisch und heißet Penthesilea. Wetten, die peitscht dich noch bis zum Chefredakteur; wetten, daß du es nicht schaffst?«

»Wetten!« sagte David und reichte dem Botenmeister ein zweites Mal die Hand in dieser Sache und auch zum Abschied und nahm Abschied vom Botenmeister und von der Botenmeisterei und der Botenlaufbahn, die er mit der äußersten aller denkbaren Geschwindigkeiten durcheilt hatte: mit der Geschwindigkeit eines Boten der Neuen Berliner Rundschau, und dann folgte er Penthesilea, der Herausgeberin der Neuen Berliner Rundschau, die hier die Verantwortung hatte und jetzt auch noch für ihn.

Und Johanna hatte sich wohl im Verlaufe der folgenden zweiundzwanzig Jahre aus der einen entlassen, nicht aber aus der zweiten; auch als David seine Wette gewonnen hatte und all die Jahre danach, hatte sie David zum Lesen und Hören und Lernen und Arbeiten angehalten, ihn wahrscheinlich oft gehaßt und wahrscheinlich auch geliebt, ihn immer durchschaut und mit Zensuren versehen, hatte ihm alle Neigungsanflüge zu Archipenko hin anhand des leuchtenden Beispiels des Bertram Müntzer auszutreiben gesucht und ein anderes leuchtendes Beispiel, das der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, AIZ, gepredigt bei fast jedem Umbruch und gewiß in jeder kniffligen Lage der Neuen Berliner Rundschau, und hatte das Lied der Sowjetunion gesungen vom Amur bis an die Beresina, von Gladkow bis hin zu Pasternak und von Lenin im gleich enthusiastischen Atem bis zur Eisverkäuferin Natalja Iwanowna Prokopenkowa aus dem GUM und hatte den Feind nicht aus den Augen gelassen und, ach, den Freund auch nicht und suchte Freund David immer noch heim und war immer noch nicht zufrieden mit dem Menschenbild, das er abgab, und blieb immerdar die wilde Chefin Penthesilea in, immer noch, blauen Strümpfen.

Immer noch, immerdar, all die Jahre – da waren die Zeitvokabeln wieder und sagten etwas vom langen Zug der Jahre und weckten die Frage wieder nach der Spur, die einer hinterlassen, der David hieß.

Der aber schüttelte diesen hartnäckigen Verfolger nun endlich ab und wußte doch dabei, daß es nicht endgültig war. Das Biest war flink und zäh, und David Groth war schon ein bißchen mürbe und trug schweres Gepäck, darunter den Globus, einen ehrenden Antrag und den Plan zu einer positiven Intrige, und er war auf Marscherleichterung aus, als er den Hörer abnahm und seiner Sekretärin aufgab, für ihn ein Gespräch mit dem Minister Andermann zu vereinbaren.

»Christa«, sagte er dann, »und Erik soll kommen, aber mit einem Vorschlag, die Virusgrippe von Kunstmaler Kluncker betreffend.«

»Der ist doch nicht Jesus«, sagte sie, und er antwortete unlustig: »Muß er auch nicht. Hier und da ein Wunder genügt mir. Ruf ihn rauf.«

»Sofort«, sagte sie, »nur, der Kollege Gabelbach donnert alle fünf Minuten über die Sprechanlage. Er hört sich an, als hätte der Papst das Fotografieren verboten. Wen also zuerst?«

»Das weißt du doch«, sagte David und setzte sich zurecht und war nun wirklich Hiob, denn die Plage aller Plagen hieß Fedor Gabelbach.

Aufgefordert, sich näher zu erklären, wo es um seine Abneigung gegen Gabelbach ging, fiel David meistens nicht mehr ein als: »Wir kennen uns seit zwanzig, seit zweiundzwanzig Jahren, wir arbeiten schon so lange im selben Haus, wir haben diesen Schlitten gemeinsam über Berg und Tal gezogen – und sagen immer noch Sie; ich sage Kollege Gabelbach, und er sagt Herr Kollege, und neuerdings sagt er auch Herr Chefredakteur; das haut mich noch mal in einundsiebzig Stücke!«

Andere Gründe hätte er nicht gut nennen können; er hatte zwar noch mehr, aber mit denen hatte er weder Fran noch Penthesilea überzeugen können, und seither behielt er sie für sich.

Es verbot sich einfach, anderen als diesen beiden mit Erklärungen zu kommen wie: »Der ist katholisch, und man merkt es nicht«, oder: »Der vermiest jede Arbeit und macht alles.« Ein dritter nach Fran und Penthesilea hätte doch nur gemeint, er habe etwas gegen Katholiken und bezichtige Gabelbach, nichts als ein Stänkerer zu sein. Aber eben das war es nicht; Religion war ihm gleichgültig, solange er nicht an ihr teilhaben mußte, aber er erwartete von Leuten, die ihr anhingen, wenigstens Äußerungen davon, Wirkungen, Zeichen, doch bei Gabelbach stieß diese Erwartung ins Leere. So tief auch dessen Überzeugung sein mochte, sein Verhalten trug keine Marke davon. Er war ein Bildjournalist, ein glänzender, er war es ganz und gar und nichts als das, soweit es den Dienst anging. Selbst Themen wie Ehescheidung, Empfängnisverhütung, Selbstmord und die großen Fragen, die ein junger Mann aus Gütersloh auf die Bühnen der Welt gebracht hatte, ging er nur aus dem optischen Winkel an: Wie setzt man sie ins Bild? Wie auch immer er von den verschiedenen Enzykliken der verschiedenen Päpste denken mochte – falls über sie im Kollegium der NBR diskutiert wurde, begleitete Gabelbach die Überlegungen der anderen mit Hinweisen auf vorhandenes Archivmaterial oder überschlug die Kosten für Fotos, die nunmehr zu beschaffen seien. Und wenn den anderen bei der Debatte des »Stellvertreters« weltanschaulich der Mund überging, so äußerte er sich lediglich, wenn auch unübertrefflich kompetent, zu Problemen der Rasterung von Großaufnahmen, und die Gewandung des Papstes war ihm eine pure Farbdruckfrage, und des Mäkelns über die Qualitäten von Papier und Rohfilm wollte kein Ende sein, aber das wäre ebenso gewesen, hätte es sich um Stierkampf oder volkseigene Plauener Spitzen gehandelt.

Selbst als der Streit um Franziskas unerhörte Bilder das Haus in mehrere Teile zu zerreißen gedroht hatte, ein Streit um Moral und Ästhetik, um die Grenzen des Professionalismus, um heilige Kühe und das Geheimnis des Lebens, ein Streit, der einen katholischen Menschen schon angehen sollte, selbst da hatte Gabelbach die unerhörten Bilder lediglich in solche eingeteilt, die technisch einwandfrei, und solche, die es nicht waren, letzteres wegen Blaustichigkeit, Unschärfe oder Indifferenz: »Zeigt diese Aufnahme eine Mondlandschaft oder einen Mutterkuchen? Da beides möglich ist, ist das Bild unmöglich. Vernichten Sie es, sonst archivieren die es doch noch unter Astronautik. Überhaupt dieses Archiv, völlig unmöglich, seit zweiundzwanzig Jahren nichts als ein Chaos!«

Nichts als ein Chaos war ihm alles, was sich seit seinem Eintritt in die Neue Berliner Rundschau und natürlich gegen seinen immer wieder erklärten Willen getan und ergeben hatte, und wer mit ihm ständig zu tun hatte, bedurfte der Schwalbenketten Carolas nicht, um den Hingang der Jahre zu bemerken, denn exakt an jedem elften September, dem Datum seines Dienstantritts, schaltete Gabelbach, wenn er die Dauer des Chaos in der NBR bejammerte, einen Jahresradzahn weiter und gab die Spanne des chaotischen Zustandes mit einer von gestern auf heute um eins vergrößerten Zahl an, nannte das Wirrsal nicht mehr, wie am zehnten September noch, siebenjährig, bezifferte es nunmehr, am elften Tag desselben Monats, auf achtjährig und führte diesen Kalender der anhaltenden Unordnung verläßlich und verursachte schon dadurch Pein genug für David Groth, weil der eben einer von denen war, die ständig mit diesem Buchhalter des Gewirrs zu tun hatten, und überdies war er im Verlaufe der langen Zeit auf den ersten Platz im Impressum vorgerückt und mußte, wenn wirklich Chaos im Hause war, wo nicht Schuld daran, so doch Verantwortung dafür tragen.

Aber größere Pein als diese kam von Gabelbach, weil unerträglich verwirrendes Teil seines Daseins war: das völlige Fehlen eines Widerscheins seiner Glaubensrichtung, von der bekannt war, daß er ihr außerhalb des Dienstes treu und zäh und nach allen Regeln folgte.

Es war bekannt, denn so groß die Stadt auch war, so war sie es doch nicht genug, um zufällige Begegnungen zwischen frühaufstehenden NBR-Mitarbeitern und dem NBR-Bildchef und Messegänger Gabelbach auszuschließen; der Angler, Laborant und Schwätzer Griese zum Beispiel war schon öfter an seinem unmittelbaren Vorgesetzten vorbeigeradelt, wenn der in grauem Morgen auf dem frommen Weg zu St. Franziskus-Xaverius sich befunden und Laborant Griese einen exquisit günstigen Fangplatz zu erobern sich auf den Marsch gemacht hatte. »Wenn schon Latein« – dieser exquisite Witz war stets Teil von Grieses montäglichem Bericht über die Begegnung am Sonntagmorgen –, »wenn schon Latein, dann lieber Angler- als Kirchenlatein!« und war denn auch hinsichtlich seiner exquisiten Barsche so beredt, wie Gabelbach in Glaubenssachen verschwiegen war.

Hätte man die Erkundigung nach dem religiösen Bekenntnis wieder in die Personalfragebogen eingeführt, aus denen sie schon lange verschwunden war, so wäre der Eintrag »röm.-kath.« sicher auch in den Kaderblättern der NBR-Mitarbeiter mehrmals zu finden gewesen, und niemand hätte sich darüber gewundert, Carola Krell nicht und David Groth nicht, und nirgend im Hause wäre ein Gerede davon gewesen; bei dem einen wußte man es so schon, weil er des öfteren Wesens von seiner Einstellung machte, und bei dem anderen kehrte man sich nicht daran, weil seine Person zu gleichgültig war, um seine Religion interessant zu machen.

Aber eben Gabelbach war weder uninteressant noch irgend jemandem im Hause gleichgültig, er war vielmehr auf zugleich schmerzliche und wohltuende Weise interessant, weil er ein Giftkopf und eine Spitzenkraft war, und an seinem Verhalten im Dienst war kein Hauch von katholischem Glauben oder irgendeinem anderen Glauben außer dem an die Gesetze der Optik.

Und das war Rätsel und Widerspruch und so nur allzusehr geeignet, einen Menschen wie David Groth zu brennen, zumal er schon lange wußte, daß Lösungen nicht zu haben waren, denn die Lösungen lagen bei Gabelbach, lagen in ihm verschlossen, und jeden Versuch, ob mit freimütiger Frage oder durch verstohlene Anspielung, an sie heranzukommen, hatte der sich bis an das Ende seiner Tage in der Neuen Berliner Rundschau mit beißender Schärfe verbeten.

David öffnete seinem obersten Bildermann die Tür, begrüßte ihn mit Händedruck und bat ihn, Platz zu nehmen.

Wie immer übersah Gabelbach Davids Handbewegung zur Sesselgruppe hin, wie immer setzte er sich auf den Stuhl vor Davids Schreibtisch. Er ließ keine Unklarheiten aufkommen: Er war dienstlich hier und als ein dem Chef untergeordneter Mitarbeiter.

Er ließ auch andere Unklarheiten nicht aufkommen: Er war unzufrieden, und ringsum war Chaos wie vor zweiundzwanzig Jahren schon, und wie war das: Sollte diesem babylonischen Bauwerk im Stadtzentrum nunmehr die Lizenz erteilt werden, künftighin alles, was kleiner war als dieser Stachel in den Himmel Berlins, von den Seiten der Neuen Berliner Rundschau zu verdrängen, und falls es so die Absicht sei, wolle der Kollege Chefredakteur dann bitte zur Kenntnis nehmen: Zu den Verdrängten werde sich in solchem Falle auch der Leiter der Bildabteilung, Fedor Gabelbach, schlagen, denn dies sei die absolute Verstrickung einer von Anbeginn knäueligen Wirrnis in das unauflösbare Chaos, und Fedor Gabelbach nehme lieber seinen Stecken, als daß er da mittäte.

David überhörte die vertraute Drohung mit dem Stecken, einer Redefigur, deren Bedeutung ihm ebenso bewußt, wie ihm ihre Herkunft unklar war, und fragte mit der angespannten Sachlichkeit, die allein Schwert und Schild gegen diesen wütigen Trojaner sein konnte: »Worum, bitte, geht es genau?«

»Es geht genau um den Plan, jegliches andere Erzeugnis bauender Menschenhand von den Bildseiten dieses Blattes durch ein pompös vertikales Ding, genannt Fernsehturm, verdrängen zu lassen«, sagte Gabelbach und klopfte hart auf sein hart eingebundenes Notizbuch.

»Wer hat einen solchen Plan geäußert?« fragte David.

»Wer einen solchen Plan geäußert hat, vermag ich vorerst nicht zu sagen, jedoch sehe ich die Schatten dieses Entwurfs bereits auf den Wänden unseres Hauses, und den Schatten des aufschießenden Betonpfahls sehe ich schon über dem Aufriß unserer nächsten Nummer.«

»Wo konkret fällt dieser Schatten nieder; auf welche Seite?«

»Auf die Seite 11, auf die Möbelseite, auf die Seite mit den besten Möbelfotos, die jemals in all dieser Wirrnis zum Druck befördert worden sind, worden wären, beinahe befördert worden wären, wären sie nicht der Anbetung eines überlangen Zementstifts zum Opfer gefallen.«

»Wieso zum Opfer gefallen? Die Möbel sind nicht raus, die sind jetzt nur auf die 20 gestellt, Kollege Gabelbach.«

»Kollege Chefredakteur, nur auf die 20 gestellt heißt: getötet, erschlagen, vernichtet, nicht erschienen. Die Geduld der Leser mit diesem Blatt reicht allenfalls bis zur Seite 11, von da an beginnt das Grab, und in dieses Grab stoßen Sie die besten Möbelfotos, die in diesem Durcheinander jemals entstanden sind: Sie stoßen sie hinab einer aberwitzigen Monumentalröhre wegen.«

»Nun in aller Sachlichkeit, Kollege Gabelbach: Die Möbel kommen, und der Fernsehturm kommt auch; die Möbel kommen hinterher, und der Turm kommt vorneweg, das war beschlossen, das ist beschlossen, das bleibt beschlossen. Der Turm ist vorneweg in Europa, den Moskauer ausgenommen, und der Turm kommt vorneweg in der NBR. Haben Sie Vorschläge?«

»Natürlich habe ich Vorschläge, aber darf ich Sie vorher noch mit einer Warnung versehen?«

»Ich wüßte nicht, wo ich hingekommen wäre ohne alle Ihre Warnungen. Ich höre also.«

»Also hören Sie: Wenn dieses langstielige Unikum umfällt, kann sein Entwerfer nicht nur den Stecken nehmen, sondern sich auch beim Regreß weißbluten, sofern man sich hierorts gehabter Exempel erinnert.«

»Ich ahne, Sie haben das Exempel zur Hand, und krumm und schief, wie es auch immer und wie stets sein möge, ich sehe seiner Mitteilung entgegen.«

»Entgegensehen mögen Sie seiner Mitteilung noch ironisch, aber danach werde ich Sie erschrocken sehen; versuchen wir es, indem ich aus dem Bericht Nr. 1 des Hermann Ortgies, eines früheren Kollegen von Ihnen und mir, an den Fürsten Georg Albrecht von Ostfriesland zitiere: ›Da unter Ihro Königl. Majestät Abwesenheit ein sehr pompeuses Thrauer-Portal vor hiesiger Dohm-Kirche fast vollkommen aufgeführet war, hat solches, weil es der Ober-Bau-Director Herr von Eosander ohne speciale Königl. Ordre entrepeniret, wieder abgebrochen werden, und er selbstens loco poenae die darauf gewanten Kosten tragen müssen.‹«

»Ja«, sagte David, mehr nicht, denn hinter Gabelbachs Exempeln aus der Zeitungsgeschichte dehnte sich ein Sumpf, und wer sich auf jene Diskussion einließ, versank in diesem; das hatte David früh erfahren.

»Ja«, sagte auch Gabelbach und erhob sich.

»Moment«, sagte David, »da wäre noch Ihr Vorschlag!«

»Richtig, deshalb kam ich ja«, sprach Fedor Gabelbach und ließ hier endlich von seiner Gepflogenheit, die Satzausgänge des anderen zu eigenem Satzbeginn zu verwenden, und ließ auch von allen Schnörkeln des Gedankens und des Ausdrucks und ließ auch vom Widerwillen gegen den Fernsehturm, denn sein Vorschlag ging so: »Wir sollten folgendes machen, von heute an bis zur äußerlichen Vollendung des Bauwerks: Kamera an einen bestimmten, stets einzuhaltenden Punkt innerhalb der Stadt, Blick auf ein markantes Vergleichsgebäude, Rotes Rathaus vielleicht oder Marienkirche oder beide, und dann jede Woche ein Bild im Blatt, an einer bestimmten, stets einzuhaltenden Stelle, vom Fundament bis zur Antennenspitze, und am Ende vielleicht eine Doppelseite mit sämtlichen Aufnahmen in der Reihe, Titel: Der Riese im Zeitraffer. Fertig.«

»Das klingt pfiffig«, sagte David, »bringen Sie das mit ins Kollegium, und vielleicht besprechen Sie mit dem Stadtbauamt, wo Sie den Fotografen postieren, sonst bauen die uns womöglich inzwischen die Perspektive zu. Vielen Dank!«

»Bitte«, sagte Gabelbach, »wo es um ein wenig Ordnung im Tun dieses Hauses geht, immer zu Diensten. Auf Wiedersehen, Herr Kollege.«

»Auf Wiedersehen, Kollege Gabelbach«, sagte David und fühlte sich erschöpft und auch frisch und fühlte sich gesund und munter trotz des leichten Schwindels, in den ihn Gabelbachs Besuche stets versetzten, und trotz des leisen Brennens rechts unterhalb der Rippen, das neueren Datums war, und fühlte sich mittendrin, nicht am Anfang und nicht am Ende, fühlte erfahrene Zeit hinter sich und Zeit für Erfahrungen vor sich, fühlte sich wenige Schwalbenketten jung und hundert Turmbauten alt, fühlte sich gut für ein Papiersternchen hier und da und fühlte sich geeignet für seinen Posten und für keinen anderen sonst.