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Ich will aber nicht Minister werden! Ich rede nicht erst von können, können scheidet schon ganz aus, aber ich will auch nicht. Vor allem will ich nicht.

Das macht die Lage schwierig, ich weiß. Wenn ich ihnen sage, ich will nicht, dann fassen sie Mut; damit, glauben sie, werden sie fertig. Wollen ist subjektiv, und Nichtwollen ist defensiv, und es ist eine Herausforderung, wenn einer damit kommt. Wo ein Wille ist, da ist ein Weg, und wo kein Wille ist, da ist auch einer.

Wenn ich ihnen beweise, daß ich es nicht kann, haben sie es schwerer. Sie werden zwar keinen der Beweise gelten lassen, sie werden sagen, dies alles sei auch ihnen, was meine ich wohl, wie oft schon, passiert, und bereits Lenin habe gesagt, nur wer überhaupt nichts tue, begehe keinen Fehler – außer diesem einen kardinalen, versteht sich –, und sie möchten nun bitte nichts mehr über meine angeblichen oder auch wirklichen Versager hören, weil sie sich sonst ein wenig über mich ärgern müßten, denn was hätte ich wohl für Vorstellungen von ihrer Arbeit, glaubte ich vielleicht, sie zögen ihre Kader aus der Lottotrommel, meinte ich etwa, sie ermittelten die verantwortlichen Leiter per Abzählreim, eene, meene, meck, meck? Eene meene meck meck, sechs Geschwister, eene meene mei ei, einer wird Minister, eene meene Klötergeld, wohin nun der Finger fällt, greift ihn euch, das ist er?

Sie wissen Bescheid über mich, werden sie sagen, sie haben mich studiert, mich, meine Arbeit, mein Leben, meine Herkunft, meine Leistungen und auch, da mag ich mich nur beruhigen, auch meine Fehler, und Mücke legt seine Hand, die so groß wie ein Aktendeckel ist, auf einen Aktendeckel, und ich weiß, unter dem Deckel sind meine Akten, und in denen steht alles über mich, meine Arbeit, mein Leben, meine Herkunft, meine Leistungen und meine Fehler.

Alles? Alles nicht, und wo etwas fehlt, stecken Möglichkeiten. Meine Laufbahnblätter liegen säuberlich und festgeklemmt übereinander; auf einem Foto wären sie nichts als ein Körper aus Papier, Rauminhalt etwa sechstausend Kubikzentimeter, sechs Liter Lebenslauf, Fragebogen, Aktennotizen, Beurteilungen, Einstellungsverträge und Auszeichnungsurkunden, aber wenn statt eines Fotografen ein Zeichner mit Augen für die Wahrheit im Wirklichen den Aktenpacken abbildete, dann würde womöglich eine Treppe daraus, ein Stufenweg von unten nach oben in diesem Falle, kein bequemer, wahrlich nicht, keine fast unmerklich aufwärts schwingende Treppentrasse wie die im Goethehaus zu Weimar, keine pfeilgerade Himmelsleiter, ein vertikaler Stolperpfad vielmehr, eine gewundene Stiege oft, ein Kletterweg mit ausgewaschenen Rinnen und sperrenden Traversen, ein knarrender und löchriger, nicht immer gut beleuchteter Aufgang, ein im Wetter schwingendes Fallreep manchmal gar über dunklem Wasser im dunklen Grund, aber dann wieder glitzernde Gangway oder sogar von Selenzellen kommandierte Rolltreppe mit synchron laufendem Geländer, aber oft auch wieder nur ein Seil, ein Strick, ein vielfach verwendbarer, weil zu mehreren Zwecken knüpfbarer Strick, hautschürfender, muskelzerrender, atemraubender Hand-über-Hand-Aufstieg – aber immer Auf-, nicht Abstieg, im ganzen immer der eine Weg mit der einen Richtung, der Weg nach oben.

Dort aber in der Obersten Abteilung sitzen keine Zeichner und Maler mit einem Faible für Übernatur, Natur allein genügt ihnen, weil die ihnen genügend zu schaffen macht, sie danken für Surrealismus, Realismus ist schon schwer genug, Chagall, bitte, wenn’s sein muß, aber nach ihrer Ansicht muß er meistens nicht sein, und jedenfalls in Kaderfragen hat er nichts verloren. Sie sehen auch Wahrheit im Wirklichen, aber andere Seiten davon, und in meinem Kilo Lebenspapier sehen sie: Hier ist der Mann, den wir suchten.

Sie sehen einen, der getan hat, was er mußte, der gegeben hat, was ihm abverlangt wurde, der anders geworden ist, als er war, und blieb, was er gewesen ist, der Versprochenes gehalten und mit Vergangenem gebrochen hat, der zu ihnen fand und zu sich, der einstecken und austeilen konnte, kein schlechter Lehrer war und ein guter Schüler; sie sehen einen Gehorsamen, der Gründe hören will, aber auch einen, der einen Befehl von einem Vorschlag unterscheiden kann und klarzumachen weiß, wann er befiehlt; sie sehen einen mit Kreuz, der oft ein Kreuz gewesen und den Feinden eins geblieben ist, einen Getreuen, der geschwankt hat wie ein Baum und steht wie ein Baum; sie sehen einen jungen Mann, der ein langes Leben hinter sich und ein langes Leben vor sich hat. Sie sehen ein Bild von einem Kader.

Sie wissen, was sie brauchen, und sie haben es gesucht, und nun, glauben sie, haben sie es gefunden.

Aber ich sehe mich anders. Doch das gilt nicht in der Obersten Abteilung; Selbsteinschätzungen sind als Ergänzung willkommen, aber sie ändern nichts, denn was zählt, sind Taten und deren Folgen. Und an folgenreichen Taten hat es bei mir keinen Mangel; der Aktenblock ist voll davon. Dagegen komme ich nicht an, wenn ich sage: Ich will nicht. Und anscheinend komme ich auch nicht dagegen an, erst recht nicht, wenn ich sage: Ich kann nicht. Denn jede Personalakte läßt sich zu einem Diagramm rationalisieren: In den Vertikalen vergeht die Zeit, auf den Horizontalen das Leben. Die Waagerechten zeigen Stationen: Tätigkeiten, Leistungen, Zugehörigkeiten, Zuständigkeiten, Ränge, Auszeichnungen und Familienstatus. Die Waagerechten zeigen, was man getan hat, wie man funktioniert hat, und die Senkrechten zeigen, wann man es getan. Führt man aber nun durch die Schnittpunkte der Zeit- und Funktionsgeraden eine Linie, so hat man eine Leistungskurve, und mit einem Blick ist die Effektivität eines Mannes erfaßbar. Mähliche Kurve: lahmer Mann, nur von der Zeit befördert; Kurve aus Steigung und Gefälle: unausgeglichener Mann, genauer ansehen, wann Steigung, wann Gefälle, Mitte neunzehndreiundfünfzig abschüssige Bahn? Herbst sechsundfünfzig jäher Aufstieg? Gut, gut gemacht, wiedergutgemacht, aber was war nach dem August von einundsechzig? Und dann der Mann mit der stetig steigenden Kurve, zweiundzwanzig Jahre auf, auf, auf, den haben wir gesucht, hier ist er.

Diesmal bin ich es. Das Diagramm meines Lebens steht gegen mich, weil es für mich spricht.

Aber mein Glück ist, die Kadermeister machen es sich nicht einfach. Das ist auch wieder mein Pech, denn so wird es nicht leichter für mich. Die in der Abteilung sind Menschen, und auf Diagonalen allein stützen sie kein Urteil. Sie haben ein Gedächtnis, vor allem ein politisches, aber auch ein ganz einfaches und unübersichtlich arbeitendes Menschengedächtnis. Man weiß nicht, was in seinen Kammern hockt und in welche Richtung es zu drücken beginnt, wenn es sich erst einmal erhoben hat.

Was etwa fällt Wolfgang ein, Kadermann ganz oben, wenn er sich jäh seiner Unterhose erinnert und meiner im Zusammenhang mit dieser seiner Unterhose?

Ich habe ihm die Geschichte einmal erzählt, vor ein paar Jahren. Er hatte sie vergessen, und er fand sie komisch und hat gelacht. Ich hatte getrunken, und er hatte sicher auch ein bißchen getrunken, Krimsekt, Empfangssekt, soundsovielter Jahrestag, heute sind wir fröhlich, wie geht’s dir, alter Knabe, weißt du noch? Weißt du noch, habe ich gesagt, wie du den Empfangschef für den Präsidenten vom Weltbund gemacht hast und ich den Kommandeur der Ehrenkompanie, und noch als das Flugzeug schon heranrollte, liefest du so herum, daß man dich leider aus der Wochenschau hätte herausschneiden müssen, ganz zu schweigen vom Weltbundpräsidenten und dessen Augen?

Nein, hat Wolfgang gesagt; mir scheint, er wußte es wirklich nicht mehr, aber mir scheint auch, einen Augenblick war nichts von Hallo, alter Knabe! in seinem Gesicht, einen Augenblick lang hat er sich abgefragt: Welcher Bund, welcher Präsident, welche Welt, was für ein Empfang und wieso ich beinah aus der Wochenschau herausgeschnitten?

Ich aber – der Sekt, Freunde! –, ich habe ihm geholfen, denn immerhin, er hatte gesagt: Hilf mir mal, ich hab’s vergessen.

Ich habe es ihm erzählt: Du kannst nicht wissen, daß ich dabeigewesen bin, denn ich war nur der Chef vom Ehrenspalier, Hundertschaftsführer der Zentralen Ordnergruppe, von den Ehrenjungfern sozusagen die Oberjungfer, und du warst der Abgesandte mit den Blumen. Der Blumen wegen hat es auch so lange gedauert bis zu der schrecklichen Entdeckung. Du hieltest die Blumen fest vor deinem Bauch, rote Nelken, fünfzig mindestens, ja fünfzig rote Nelken, da konnte man nichts sehen, aber dann rollte die Maschine heran, alles schrie, er kommt, ich ließ meine Zentralen Jungfern schon immer mal die Knochen zusammenreißen, die Kameras schwenkten sich ein, und du nahmst die fünfzig roten Nelken vom Bauch in die linke Hand, weil du die rechte gleich zum Brudergruß benötigen würdest, und da sah ich es, alle sahen es, außer dir: Über dem Hosenbund und auf dem blauen Grund deines Hemdes blähte sich grellweiß ein handbreiter Gürtel aus leinener Unterhose, es sah schon beinahe wie eine Schärpe aus, aber nur aus der Ferne, und die Kameras waren dir sehr nahe, und der Weltbundpräsident würde gleich noch viel näher sein.

Alle sahen es, aber keiner sagte etwas, denn im Protokoll waren wir damals schon sehr weit, und du warst damals schon ziemlich oben zu Hause. Nur ich hatte das mit dem Protokoll noch nicht so sehr begriffen, und Kommandeur, der ich war, ergriff ich die Initiative und brüllte über das Rollfeld gegen das letzte Röhren der Maschine und hinein in die Mikrophone von Funk und Film, aber auch in deine Ohren: Wolfgang, deine Unterhose!

Die Nelken erwiesen sich noch einmal als nützlich; hinter ihrer Deckung hast du den Schaden behoben, und du hattest sogar noch Zeit, über die Schulter danke zu sagen, dann kam der Weltbundpräsident.

Auf dem Empfang hat Wolfgang gelacht und dann einen Professor entdeckt, dem er ein paar freundliche Worte schuldig war, und zu mir hat er noch gesagt: So, du warst das also, mein Retter und Retter der Situation, sieh mal an, wie so was alles zutage kommt!, und danach ist er eigentlich auch immer herzlich gewesen.

Aber dennoch weiß ich nicht, ob er mir wirklich dankbar ist, weil ich diese Erinnerung aufgejagt habe. Die verrutschte Kleidung, geschenkt, aber mir ist, als hätte der Weltbundpräsident, der ein Franzose war, nicht übermäßig hingerissen ausgesehen, als er die Front der Zentralen Ordnergruppe abschritt, Preußens Gloria diesmal in Blau und im Inhalt fortschrittlich, aber immerhin erst fünf Jahre nach Preußens allerletzter Misere.

Möglich, daß sie nachher darüber diskutiert haben, Wolfgang und der Präsident, der gallische Genosse, und möglich, daß Wolfgang immer noch einen Bleigeschmack davon im Munde hat, möglich oder auch nicht. Jedenfalls kann ich mir denken, daß niemand scharf darauf ist, einen Minister um sich zu haben, der ihm einmal die Kleider geordnet hat. Ich zumindest wäre da eigen.

Aber das ist es: Ich übertrage mein Elefantengedächtnis auf andere. Weil es mich schuddert, wenn ich an eine Blamage denke, glaube ich, anderen müßte es auch so gehen. Damit sollte ich vielleicht beim nächsten Gespräch in der Obersten Abteilung antreten: Genossen, ihr wißt, wie sehr euer Antrag mich ehrt, aber ich muß euch sagen, ich kann keine Niederlagen vertragen, und ich kann sie nicht vergessen. Und das wäre doch nicht gut auf so hoher Entscheidungsebene. Ein Minister heute ist eine merkwürdige Erscheinung; er trägt den Namen eines Dieners, und er hat auch noch zu dienen, sagen wir kurz: der Sache, aber zugleich ist er ein Mann mit Macht. Wie aber verträgt sich persönliche Macht mit persönlicher Empfindlichkeit? Ja, ich weiß, am Ende seid ihr auch noch da, und die Sache ist immer da, aber die Sache ist groß wie Gott und beinahe so geduldig, und ihr seid eben immer erst am Ende da; wenn ihr einmal eine Entscheidung getroffen habt, gebt ihr einem lange Zeit zu beweisen, daß ihr richtig entschieden habt, und noch längere Zeit gebt ihr einem, bis als bewiesen gilt, daß ihr falsch entschieden habt. Da dehnt sich ein Feld böser Möglichkeiten. Dieses Land ist voll von Leuten, die mir einmal eins versetzt haben, und ich sage euch, ich habe ein Gedächtnis für Namen, und denkt nur nicht, Leserbriefschreiber etwa und beispielshalber hätten keine Namen, die man sich merkt, wenn man so ist, wie ich bin. Was denn nun, wenn ich der Diener mit Großmacht wäre, zu dem ihr mich machen möchtet, und eines Tages hätte ich ja oder nein zu sagen zu einem Antrag, der die Unterschrift trüge von Alfred Kleinbaas, Schwaneweide?

Nein, ihr kennt Alfred Kleinbaas, Schwaneweide, nicht, aber ich kenne ihn, mir hat er einen Leserbrief geschrieben. Was heißt Leserbrief! Ein Pamphlet war das und ein Dolchstoß, unsachlich, anmaßend, völlig unangemessen ironisch und voller geradezu feindseliger Polemik, und sehr, sehr störend. Ich hatte meine erste große Fahrt gemacht und meine erste große Reportage geschrieben, und ich hielt sie für gut, sie war auch gut, bis dann Herr Alfred Kleinbaas, Schwaneweide, nicht umhingekonnt hatte, sich zur Sache, wie er das nannte, zu äußern. Schon die Anrede: An den Kollegen mit den Röntgenaugen, der diese sogenannte Reportage über Westdeutschland erdichtet hat! Spätestens mit dem Ausdruck »sogenannte« trat die Feindlichkeit des Mannes zutage – ihr wißt, wer damals was und wen immer »sogenannt« nannte! Und dann: erdichtet! Ich hatte nichts erdichtet, ich hatte mich nur in einem Punkte minimal geirrt, ich hatte etwas zu sehen geglaubt, was man in Wirklichkeit nicht sehen konnte, und dann, das gebe ich zu, habe ich es aufgeschrieben, so falsch, wie es war. Ich hatte einen Mann vom Fenster der Partnach-Alm aus die Zugspitze sehen lassen, oder wie Kleinbaas aus Schwaneweide es so feindselig-genüßlich dartat: »… hat der Kollege, der offensichtlich im Besitz von Röntgenaugen sein muß, die Zugspitze erspäht, welche von dem in der sogenannten Reportage angegebenen Standort aus unmöglich mit normaler Sehapparatur gesichtet werden kann, weil …«, na ja, weil irgendwas mit Geographie und einem anderen Berg dazwischenlag, als ob das an der prinzipiellen Richtigkeit meines Berichts etwas geändert hätte. Ein dogmatischer Flohknacker, dieser Schweinebeiß aus Kleinweide; über den gesellschaftlichen Wert meiner Studie hat er kein Wort verloren, der ist ihm wahrscheinlich entgangen; das ist so eine von diesen Typen, die ihr Leben lang darauf warten, daß sich mal einer mit der Partnach-Alm und der Zugspitze irrt, für diesen Moment halten sie ihr bißchen Pulver trocken, und sie pfeifen auf die soziologisch-ökonomischen Einsichten, die man ihnen ermöglicht, wenn sie nur ihr kümmerliches Feuerwerk, genannt Leserbrief, ablodern können, diese Alfred Kleinscheiß aus Schwartenheide.

Verzeiht, Genossen, ich habe mich da etwas gehenlassen, aber zugleich habe ich auch meinen Punkt bewiesen: Ich bin ein Elefant, und Elefanten vergessen nie. Nun stellt euch einmal vor, ihr macht mich zum Hochdiener mit Entscheidungsgewalt und vor mich kommt wirklich ein Antrag von Alfred Kleinbaas, Schwaneweide, was passiert dann? Wenn die Dinge eindeutig liegen, gesellschaftlicher Nutzen hier, gesellschaftlicher Schaden da, kann der Petent sonstwer sein, darüber müssen wir nicht sprechen, aber was, wenn es ein Sowohl-als-auch-Fall ist und Entscheidendes hängt ab von der Person, die ihn vertritt? Werde ich da die Erinnerung an den Spott der Leserbriefredakteurin verdrängen oder nicht, werde ich die bissige Bemerkung, die ich im dunklen Gang vor dem Bildlabor aufgeschnappt habe, zur Seite schieben, werde ich so tun, als hätte es keine lange Pause zwischen meiner ersten Westreise und der zweiten gegeben, eine Pause, von der es geheißen hat, ich sollte sie in der engeren Heimat zur Schärfung meines Faktenauges nutzen? – Faktenauges! Ich fürchte, ich fürchte, wenn Herr Alfred Kleinbaas aus Schwaneweide nicht über die Sache, die vor mir zum Entscheid liegt, noch viel genauer Bescheid weiß als über das, was man alles von einem bestimmten Fenster der Partnach-Alm aus sehen kann und was nicht, dann kommt Willkür in meinen Beschluß, und da wäre ich euch ein feiner Minister!

Und, laßt mich das wiederholen: Dieses Land ist voll von Zugspitzkennern, und Stellen, an denen mich Leserbriefe trafen, habe ich soviel wie Poren in der Haut. Aber diese Stellen sind, wenn auch vielzählig, so doch winzig wie die Poren. Wie aber würde ich mich jenen gegenüber verhalten, die mir die Haut in Streifen abgezogen, die mir das Fell gegerbt oder gar über die Ohren gezurrt haben, wie zu jenen, die mir Beine stellten, Ellenbogen in die Rippen rammten und Fäuste in die Magengrube setzten? Was zeigte ich denen, die mir die kalte Schulter zeigten und die Tür, und was erst machte ich mit jenen, zu denen ich nicht freundlich gewesen bin? Ich weiß, wie unwillig man mir in der Obersten Abteilung zuhören wird, wenn ich von meiner Schwäche berichte, die mich erlittene Unbill nicht vergessen läßt, aber besser noch weiß ich, daß der Unwille sich zu scharfer Abneigung steigert, wenn ich das Register eigener Schandtaten vorlege. Ein Mann, der sich beschwert, weil es ihn in dieser Zeit und auf dieser Welt nicht mit Engelsflügeln nach oben getragen hat, scheint doch von Zeit und Welt weniger zu wissen, als man gehofft hat – ein Genosse aber, der sich mit Pferdefuß und Teufelshorn versieht, um angetragene Verantwortung nicht übernehmen zu müssen, ist ein berechnender Feigling, der die Selbstkritik zu etwas benutzt, wozu sie nicht erfunden worden ist.

Niemand in der Obersten Abteilung gibt sich mit dem Diagramm meiner Effektivität und der darin aufwärts führenden Kurve allein zufrieden; die Kurve zeigt eine Tendenz und wirkt auf die Tendenz kommender Entscheidungen, sie zeigt den Verlauf meines Lebens, aber noch nicht sein Gesetz, und sie ist kein Gesetz; sie zwingt niemanden, sie beliebig und in gleichlaufender Richtung zu verlängern; wenn an ihrem Ausgangspunkt »Laufjunge« und an ihrem derzeitigen Endpunkt »Chefredakteur« steht, so ist das erfreulich, aber noch kein Grund, sie nun weiter hinauf zu »Minister« zu ziehen. Bestenfalls kann sie einer von mehreren Gründen sein, und der kann aufgehoben werden, wenn sich herausstellt, daß Eigenschaften, die auf dem bisherigen Weg immer nur bremsende Hemmnisse waren, auf der nächsten Strecke zu unüberwindbaren Hindernissen würden.

Irgendwo hat jeder seine Grenze, und ich weiß, daß ich bleiben kann, was ich bin, wenn ich in der Abteilung beweise: Jenseits dieses Punktes, an dem ich mich nunmehr befinde, kann ich nicht mehr halten, was ihr, Genossen, euch von mir versprecht.

Daß ich bleiben kann, was ich bin – hier steckt ein Problem, mein schwierigstes vielleicht. Denn wenn ich meine Hoffnung in den Nachweis gründe, ich könnte künftig nicht erfüllen, was von mir erwartet wird, so muß ich mich auf die Frage gefaßt machen, ob ich in Wahrheit noch zu dem tauge, womit ich gegenwärtig beauftragt bin.

Was ich jetzt in die Diskussion einspeise, damit es mich vor Beförderung bewahre, fließt zurück, und unversehens habe ich nicht nur Künftiges verhindert, sondern auch Gegenwärtiges fragwürdig gemacht.

Aber ich will bleiben, was ich bin; ich liebe – warum sollte ich den Ausdruck scheuen? –, ich liebe meine Arbeit, ich mag meinen Beruf, ich fühle mich wohl hier, ich kenne mich aus, mein Lehrgeld ist eingebracht, meine Fehler sind seltener geworden, hoffe ich, diesen Auftrag kann ich, glaube ich, immer erfüllen, und es macht mir Freude, das zu tun; für einen Mann in meiner Lage schlafe ich ruhig, ich habe Pläne und ich habe Freunde, ich habe auch Feinde, aber mein Gewissen sagt mir, daß es die richtigen sind, ich bin, weiß ich, an meinem Platz, und darum möchte ich ihn behalten. Wenn ich ihn behalten will, muß ich die Abteilung davon überzeugen, daß ich für ihn gut bin, aber nicht für einen anderen, höheren, und daß Untauglichkeit dort nicht die Tauglichkeit hier beeinträchtigt, und ich muß ihr den Argwohn nehmen, ich wollte nun, nach so viel Bewegung, Stillstand, nach so viel Anstrengung Bequemlichkeit, nach langer Jugend nun Altenteil.

Ich muß ihnen dort sagen: Ja, ihr habt mein Diagramm richtig gelesen, aber nun deutet es auch richtig. Zahlen allein ergeben nicht die Summe, bisherige Geschwindigkeit begründet nicht ewigen Fortschritt, vielmal der rechte David Groth macht noch nicht, daß David Groth immer und überall der rechte bleiben muß.

Ich, David Groth, bin heute zwanzig Jahre in der Partei; das hört sich gut an und ist auch gut, aber schimmert nicht auf dieser Zahl ein Glanz, der seine Berechtigung eher zu anderen Zeiten hatte? Damals, als ich eintrat, da war das noch etwas, zwanzig Jahre; da reichte das noch zurück bis in die wilde Mitte der ersten Republik; das waren reißende und zehrende Jahre, diese zwanzig, das waren Jahre, in denen man eben nicht ruhig geschlafen hatte, in denen der Kehlkopf draufgegangen war und die Lunge und der Magen und das Herz nur deshalb nicht zersprang, weil eiserne Bänder es zusammenhielten, weil man wußte: Wenn ich zerreiße, zerreißt so vieles mit mir, mit meinem Fall bricht mehr als ich, mein Herz und meine Kraft gehören nicht nur mir allein.

Wir klatschten Beifall, damals, als ich in die Partei eintrat, wenn es von einem hieß, er sei schon seit zwanzig Jahren dabei, denn wir wußten nun, diese Augen hatten Weimar vom Ettersberg aus gesehen oder Schanghai, als Tschiang noch drin hauste, hatten die Konsulatstreppen von Marseille gesehen und die Stellenbüros von New York und Schweizer Stacheldraht und leere Teller auf Mallorca und den Mohn im Jaramatal und den Rauch von Berlin hinter dem Rauch von Oranienburg und Stalingrad mit Sibirien im Rücken.

Wir wußten dann, wo die Zähne geblieben waren und die Fingerkuppen und diese und jene deutsche Vokabel, und wir wußten, woher das bleiche Haar gekommen war bei Vierzigjährigen und die Starre zwischen Lid und Kiefer, und wir wußten, die blaue Zahl auf dem Unterarm war nicht die Spur von Seemannsulk, und die Härte in Ton und Argument kam vom überzahlten Rechtbehalten und vom allzuoft entrichteten Preis der Schwäche.

Wer zwanzig Jahre dabei war, als ich hinzukam, war so lange in der Partei wie ich auf der Welt, also ein Leben lang. Jetzt aber bin ich seit zwanzig Jahren dabei, und das ist nicht nur lediglich die Hälfte eines Lebens, es ist auch die ganz andere Hälfte eines ganz anderen Lebens.

Nein, ich werde nicht sagen, das eine gilt nichts und das andere gilt alles, auf der einen Seite alles und auf der anderen nichts – so verteilt Harlekin, sagt der liebe Gott im Sansculottenlied, ich will nur den Unterschied nicht übersehen zwischen diesen zweimal zwanzig Jahren.

In meinen ist es eigentlich nie um das Leben gegangen, nur immer um ein gerechteres, nützlicheres, ruhiges, friedliches, anständiges Leben.

In meinem hat auch gezahlt werden müssen, aber die Löcher im Magen, wenn ich welche hätte, Gott behüte, kämen vom Kantinenfraß, vor allem vom ausgelassenen, weil gerade Umbruch war oder ein Rechenschaftsbericht nicht fertig oder ein Bild versaut oder ein Mitarbeiter stur oder ein Chef noch sturer, und die Löcher in der Lunge, wenn ich welche hätte, Gott behüte mich noch mehr, kämen vom Tabakskraut, erst dem groben aus Nachbars Garten und dem nicht minder groben von der Freunde Sowchose und schließlich dem feinen Gemisch mit der Chemie von Dresden, und wären wieder nur die Spuren von verspätetem Umbruch, überzogenen Terminen, überhitzten Debatten, kritisierten Konzeptionen, mangelhaften Vorlagen, verlorenen Wortgefechten und gewonnenen, schweren Entscheidungen und zu leicht gemachten, wären Folgen von Anleiters Mühen und Auswerters Leiden, wären Narben aus dem großen Krieg mit Buchhaltern und Hauptbuchhaltern, Abonnenten und Papierlieferanten, Sekretärinnen und Bezirkssekretären, gelassenen Fachleuten und erregten Laien, Abgeordneten und Abordnungen, Vorgesetzten, Vorsitzenden und Vorsätzen, wären der Rückstand von an zu kurzen Tagen und in zu langen Nächten erkämpftem Fortschritt, wären wunde Punkte, zugezogen im Kampf um das wirkliche, das einzige, das wahre deutsche Wunder.

Das immerhin wären sie, und deshalb teile ich nicht wie Harlekin, mache meine zwanzig Jahre nicht zu einem Nichts, zähle nicht nicht, was nicht am Ebro geschah und an der Wolga richtigem Ufer, schmähe mich nicht, weil ich für die Sache kein Blut, sondern nur Schweiß vergossen habe, weil ich aus Blei nicht Kugeln goß, sondern Lettern, weil ich aus Papier nicht Flugblätter machte, sondern Zeitungen, weil ich nicht in jenem Klassenkrieg gestanden bin, sondern in diesem.

Denn immerhin, das bin ich. Die »Mühen der Gebirge« kenne ich nicht, wohl aber die der Ebenen. Die wohl, die sehr. Und daß sie zählen, sehe ich ja. Wie anders sonst der ehrenvolle Vorschlag jetzt? Ich wollte nur bitten – ich habe es vielleicht ein wenig zu beredt getan –, man möge die Zahl zwanzig nicht als eine Chiffre für Gloire betrachten; ich habe die zwanzig Jahre nicht überlebt, ich habe sie einfach und ohne besonderen Aufwand erlebt, ich habe gelebt in ihnen als ein Zeitungsmann und Parteimitglied, und sicher heißt das: als ein hart arbeitender Mensch, aber so kann es von ungeheuer vielen heißen, und deshalb frage ich hier noch einmal: Warum nun gerade ich?

Weil ich nicht nur so lange, sondern auch mit solchem Erfolge dabei bin? Weil zuunterst in meinem Kaderpaket »Laufjunge« steht und zuoberst »Chefredakteur«? Ich bitt euch, das ist doch nur der Lauf dieses Teils der Welt. Da weiß ich euch viele. Und ich, ich hatte sogar noch meinen Spaß an dem, wofür ihr mich nun preisen wollt. Nehm ich’s genau, so war hier Sport im Spiel und Übermut und der Gedanke, ich sollte einem alten Mann zu einem Schuß Prophetenglück verhelfen.

Sie hatten mich als Laufjungen eingestellt, damals, fünfundvierzig, bei meiner Zeitung, die inzwischen wirklich beinahe meine Zeitung ist; ich war achtzehn, also eigentlich nicht mehr ganz ein Junge, aber ich konnte nichts, was jetzt als brauchbar galt, nur laufen konnte ich und hielt mich für jede Strecke gut und für nichts anderes.

Das erboste meinen ersten Chef ganz außerordentlich. »Waaas«, schrie er, und schon dies erste Wort, das ich von ihm hörte, erschreckte mich sehr, denn er schrie es wirklich, mit Donner und Galle und Katastrophe im Ton, und es schüttelte ihn dabei, als führe ihm ein Strom durch den Leib, mit einer Voltage, ausreichend für die Trennung von Eisen- und Kupfermolekülen, »waaas, als waaas hat man dich eingestellt, als Lahauffjuunngenn?«

Er brüllte es so, als hätte auf dem Zettel, den ich ihm gebracht hatte, gestanden, er habe mich als einen frisch unter Vertrag genommenen Muttermörder anzusehen, als einen soeben bestallten Strauchdieb, als einen nunmehr in Sold genommenen Bauchaufschlitzer, Folterknecht und Würgeengel.

»Ja doch«, sagte ich, leise, aber vernehmbar.

Und er schrie: »Ja doch? – Nein doch! Ums Verrecken: nein! Nie und nimmer! Hier werden keine Lahauffjuunngenn beschäftigt, hier nicht! Hier ist nicht die Berliner Rundschau, hier ist die Neue Berliner Rundschau! Wir sind hier nicht bei Mosse, wir sind hier nicht bei Scherl, wir sind hier nicht bei Ullstein, wir sind hier nicht bei Hugenberg, wir sind hier … bei wem sind wir hier?«

»Bei der Neuen Berliner Rundschau«, sagte ich.

»Gut«, sagte er, jetzt ruhig und freundlich, »und die beschäftigt keine Lauffjunngen« – das Wort zischte wieder gefährlich –, »die Neue Berliner Rundschau beschäftigt Boten, und dies hier ist die Botenmeisterei, und ich bin der Botenmeister. Und was bist du?«

»Ich bin ein Bote«, sagte ich.

»Nein«, sagte er, »du bist nicht ein Bote, du bist der Bote. Und weißt du, was ein Bote ist?«

»Ein Bote ist einer, der lau… einer, der Botengänge macht.«

»Ggäännge!« brüllte er. »Davon kannst du höchstens träumen. Gehen darfst du nach Feierabend, gehen darfst du ins Bett, gehen darfst du auch zu deiner Regislinde, wenn du eine hast, und wenn du eine hast, dann laß es mich hier nicht merken, hier aber gehst du nicht, hier bist du Bote, und was machst du da?«

»Ich eile vielleicht«, sagte ich.

»Du eilst bestimmt«, sagte er und war wieder leise und freundlich, »aber Eilen ist nur die Grundform deiner Tätigkeit bei der Neuen Berliner Rundschau, Eilen ist das äußerste an Ruhezustand, was ein Bote erreichen kann, Eilen ist ein noch mit Moder behafteter Ausgangspunkt, Eilen ist eine Daseinsweise, die von dürftig verhehlter Faulheit zeugt, Eilen ist nur ein Anfang mit noch angezogenen Bremsen. Du eilst nicht, Bote Groth, du fliegst, und zwar, solange du dich noch einarbeitest, mit Lichtgeschwindigkeit.«

»Wenn man bedenkt, daß ich hier neu bin«, sagte ich, »ist das ganz schön schnell. Und was kommt dann? Ich meine beinahe, ich kenne keine höhere Geschwindigkeit.«

»Du kennst keine, natürlich nicht, woher solltest du auch«, sagte er und legte mir die Hand auf den Kopf, »du bist ja noch neu bei der Neuen Berliner Rundschau, da helfe ich dir ein: Die höchste und einzig akzeptierte Geschwindigkeit eines Boten ist die Botengeschwindigkeit. Ein Beispiel: Im merkwürdig organisierten Kopf der Herausgeberin der Neuen Berliner Rundschau beginnt sich ein Einfall zu formen, ein trüber Einfall. Er lautet: Man müßte einmal nach der Botenmeisterei sehen, man müßte einmal herausfinden, was die da so treiben. – Ein Frosch von einem Einfall, aber noch während er nur eine Kaulquappe ist, ein wackeliger Ansatz zu einem wackeligen Entwurf, geschieht nun was in der Botenmeisterei? Der Bote spricht leise vor sich hin, eben noch hörbar und unaufdringlich, damit kein Verdacht aufkommt, er sei ein Besserwisser und es sei überhaupt nötig, daß er spricht: ›Mir scheint, die Chefin kommt.‹ Darauf, aber nicht etwa daraufhin, nimmt der Botenmeister die müden Beine vom Stuhl, öffnet die müden Augen, reckt die müden Arme und regt seinen müden Leib, und dazu spricht er: ›Die Chefin kommt – beweg dich!‹ Und mit welcher Geschwindigkeit bewegt sich nunmehr der Bote?«

»Mit Botengeschwindigkeit«, sagte ich.

»Gut«, sagte er, »und wie schnell also ist das: Botengeschwindigkeit?«

»Die ist schneller als der Einfall einer Herausgeberin«, sagte ich.

»Nicht schnell genug«, murrte er und brüllte mir dann ins Ohr: »Sie ist schneller als ein Gedanke.«

Nach dieser Belehrung, die mich nicht wenig verwirrt hatte, setzte er sich auf einen vergoldeten Polsterstuhl und betrachtete mich so lange und so eindringlich, daß ich ins Schwitzen geriet. Dann spie er noch einmal das Wort Laufjunge aus, rieb es mit der Schuhsohle in die Dielen und hielt mir einen kleinen Vortrag: »Ein Bote ist, wenn man die Abweichungen von der Norm außer acht läßt, der Überbringer einer Botschaft. Er hat mit dem Inhalt des von ihm Überbrachten nichts zu tun, wird dennoch aber oft mit ihm identifiziert und lebt also nicht ungefährlich, wenn man davon ausgeht, daß schlechte Nachrichten ihren Adressaten in einen Zustand der Erregung versetzen können, Dschingis-Khan zum Beispiel. So ist es besser, der Bote weiß, was er trägt, da kann er sich vorbereiten und sogar ein Held werden, Marathon zum Beispiel. Ein Bote kann rechtzeitig kommen und Schlimmes verhüten, eine Hinrichtung zum Beispiel, das ist meistens im Theater. Ein Bote kann auch zu spät kommen, da wird es eine Katastrophe, Pearl Harbor zum Beispiel, wo der japanische Botschafter der Bote war, der kam aber vorsätzlich zu spät. Botschafter ist eine höhere Stufe von Bote, was aber ist die höchste Stufe von Bote?«

»Ich nehme an«, sagte ich, denn er ging mir nun langsam auf die Nerven, »die höchste Stufe ist erreicht, wenn man Bote bei der Neuen Berliner Rundschau ist.«

Er schoß von seinem Stuhl hoch und hatte mich, ehe ich ausweichen konnte, am Ohr erwischt. Ich hielt still, denn ich wußte, daß ich frech gewesen war, er aber sagte: »Volltreffer! Verstandesgaben, Verstandesgaben! Du wirst hier noch mal Chefredakteur, wetten, daß du es nicht wirst?«

»Wetten!« sagte ich, und wir schlugen ein, und als ich meine Wette gewonnen hatte, lebte er noch, aber jetzt ist er tot. Übrigens habe ich ihm verheimlicht, daß ich auch einmal Laufjunge gewesen bin. Für eine Apotheke, in Ratzeburg – der mieseste Posten meines Lebens. Ich lief nicht, ich fuhr mit dem Dienstrad, und zu erben war nicht viel dabei. Wenn die Kranken im Bett lagen, schickten sie ein Kind an die Tür oder den lieben Ehemann, dem seine Begeisterung anzusehen war, oder man hatte Dienstboten, und die gaben schon gar nichts. Wenn die Kunden aber selber herumlaufen konnten, dann freuten sie sich entweder so sehr über das endlich eintreffende Migränepulver, daß sie mich völlig darüber vergaßen, oder sie sahen in mir den, der ihnen diese scheußlich schmeckenden Tropfen brachte, und da auch noch ein Trinkgeld, na! Und die Apotheke erst! Für die Mädchen im Labor war ich zu klein und zu häßlich, und dem Chef war seine Frau zu alt und zu häßlich, außerdem hatte er ihretwegen ein Extraschloß an die Lade mit dem Morphium legen müssen; da war ein Prügelknabe immer willkommen.

Von so einem Posten kann ich nur abraten. Dann lieber Brötchen austragen, obwohl das so schrecklich früh sein muß, oder für einen Gärtner arbeiten. Bei dem Gärtner war ich gern; mit Blumen war man immer willkommen, und selbst wo man Kränze abliefern mußte, wurde einem noch etwas zugesteckt, Trauer macht weich, und Erbschaftsaussichten lockern die Groschen.

Ich habe gesagt, der Apothekendienst sei mein miesester Posten gewesen, aber da fällt mir ein, das stimmt nicht. Noch schlimmer war es bei Frau Brest. Die wohnte drei Treppen hoch und konnte nicht gut laufen und hatte einen Kater. Ich mußte zweimal in der Woche nach der Schule zu ihr und die Kohlenkiste füllen und die Katerkiste leeren. Ein Gestank! Was das Tier binnen drei Tagen mit dem frischen Sand, den ich ihm in die Kiste gefüllt hatte, anstellte, beschreibe ich lieber nicht. Und das für zehn Pfennig, also zwanzig in der Woche. Und die Frau Brest hatte sich vielleicht! Da durfte kein Steinchen in dem Sand sein, denn der Kater hatte so einen Zarten, und feucht durfte der Sand selbstverständlich auch nicht sein, obwohl er auf dem Hof lagerte, und manchmal regnete es eben. Ich bin aber von Frau Brest ohne viel Worte weggekommen. Ich hab ihr in die Kiste geschissen, frischen Sand draufgefüllt, und den Rest hat der Kater besorgt.

Der kurze lange, steile Weg vom Laufjungen zum Chefredakteur gibt der Obersten Abteilung gut von mir zu denken, und ich muß ihr klarmachen, daß der Weg mir nun steil und lang genug ist. Die sehen das alles zu positiv.

Klar bin ich lange genug in der Partei, klar war ich ein Arbeiterjunge, klar habe ich studiert, aber was bleibt einem in diesem Lande schon anderes übrig, wenn man erst einmal ein bißchen Köpfchen vorgezeigt hat!

Abendstudium, sechs Jahre nebenher, wenn man das hinter sich hat, ist man so erledigt, daß man sich nicht einmal richtig darüber freuen kann. Und man weiß, man hat nur eben den Zipfel der Serviette erwischt, die ganze herrliche Mahlzeit Wissenschaft kriegt man nie zu Gesicht. Ich hätte richtig studieren sollen, aber ich konnte mich von der Zeitung nicht trennen.

Das mach ich nebenher, hab ich gesagt, und beinahe hätte es mich untergekriegt. Ich habe es wirklich nebenher gemacht, aber obenhin sollte es auch nicht sein, und das mag der Kreislauf gerne. Niemand würde glauben, daß ein Journalist so viel lernen muß, wenn er auf ein Diplom aus ist, und, ehrlich, an unseren Zeitungen ist es auch nicht immer so zu erkennen. Aber es ist schrecklich viel, und wenn man nur nach dem sogenannten Feierabend dazu kommt, also dann, wenn man kaum noch Öl auf der Lampe hat, frißt es einen schier auf – es laugt dich aus, es ersäuft dich, und es drückt dich zu Boden mit Lawinenkraft. Das vor allem. Während du dir mühselig A eingeprägt hast, sind längst BCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ hinzugekommen, und ohne die, meinst du, hilft A dir gar nichts. Also gehst du B an, und während du dabei bist, wälzt sich neues heran, diesmal von Alpha bis Omega. Sisyphos heute wäre Fernstudent.

Geschichte zum Beispiel ist Hauptfach für einen Journalisten. Das leuchtet ein, aber da geht es schon los: nehmen wir Kuba. Als ich mit dem Fernkurs begann, war Kuba eine sehr ferne Insel mit einem sehr fernen Diktator namens Batista, irgendeinem Batista in einer Welt voller Batistas, das war achtundfünfzig. Als ich aber sechs Jahre später und schon beinahe als ein graues Haupt unter den Chefredakteuren ein Papier bekam, das mich als einen nunmehr richtigen, weil studierten Journalisten auswies, lag die karibische Krise schon wieder anderthalb Jahre zurück, und Sozialismus gab es nun auch auf amerikanisch. In diesen Jahren erschienen sechsmalzweiundfünfzig Nummern meiner Zeitung, in deren Impressum schon, wenn auch an verschiedenen Stellen, mein Name stand, und in mindestens sechsmalzwanzig Ausgaben berichtete die Neue Berliner Rundschau über Kuba. So kam es, daß ich am Tag über die Schweinerei in der Schweinebucht las und schrieb und am Abend, der oft genug erst um Mitternacht begann, etwas über andere Schweinereien, zum Beispiel die des älteren Roosevelt und seiner Rauhen Reiter erfuhr. Redigierte ich bei Taglicht einen Artikel über das neue Schulsystem Havannas, so notierte ich mir unter der Schreibtischlampe etwas über die Sklavenaufstände in Matanzas. Und eben umgekehrt: Hatte ich gerade etwas über die erste kubanische Republik begriffen, die es fast fünfzig Jahre vor der ersten deutschen gegeben hat, so gab es schon wieder eine neue Tatsache über die erste sozialistische in Amerika. Cortés’ Raubsprung von Kuba nach Mexiko und Castros erster Flug nach Moskau erfolgten in meinem Kopf zur gleichen Zeit; Fidels »Granma« landete vierhundertvierundsechzig Jahre nach Kolumbus’ »Santa Maria« auf Kuba, und so verschieden kann zweimal Eroberung sein; in meinem Hirn aber drängten sich beide Daten in derselben Zelle, und die Bahnen des Allan Dulles und des Piraten Piet Heyn kreuzten sich in ihm. Das aber war nur Kuba, ein bedeutender, doch winziger Punkt auf einer Geschichtstafel voll von Hussitenkriegen, Katalaunischen Feldern, Engländern am Bosporus, Deutschen in Libyen, Schüssen in Texas, roten Fahnen in Kanton, Führerhauptquartieren, rheinischen Demokraten, sächsischen Kommunisten, Fuggern und Welsern, Suffragetten, Aktivisten, Bolschewiken und Kinderpäpsten.

Und das war nur Geschichte, in summa ein Band allenfalls von zwanzig dicken Brockhaus-Bänden, und ein Blick hier und da in die anderen neunzehn war ausdrücklich erwünscht, wenn es denn unbedingt ein Diplom sein sollte.

Von mir aus wäre es ohne das gegangen, es ist schließlich all die Jahre ohne das gegangen, aber nein, es gab da einen Beschluß, und schon schleppten sie dich auf die Galeere – discere necesse est.

In diesem Land herrscht Diktatur. Wir stöhnen hier unter dem Zwangsregime der Wissenschaft. Hier wird man mit der Leselampe gefoltert. Die Despotie preßt uns in die Gelehrsamkeit. Der Druck bedient sich des Buchdrucks. Qualifizierung – das Wort schon sagt es. Theorie ist die Praxis hiesigen Terrors. Forscher zimmerten unser Joch. Lehrer bewachen unsere Schritte. Unser Profoß ist Professor. Wir führen ein Hirnzellendasein. Für Denken gibt es ein Soll. Wir sind die kybernetisch besetzte Zone. Wir sind ein einziges Schweigelager: Ruhe, Vater muß lernen, und nochmals Ruhe, Mutter auch! Nun gut, ich habe mich gebeugt und bin ein Chef mit Diplom, aber mein Argwohn spricht: Ein Minister geht nicht mehr lange ohne Doktorhut.

Schon darum will ich nicht Minister werden und kann auch nicht. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt und brauche manchmal schon zweimal Lesen für ein und denselben Satz, aber von Weisheit trennen mich noch dreißig Jahre, um nur von der Zeit zu reden. Mein Gott, kann man denn hier nichts in Ruhe zu Ende machen? Früher begann man als Lehrer und endete als Lehrer, aber als was für einer! Man wurde bei einigem Geschick mit jungen Jahren Tischlermeister, und auf seinem Grabstein stand immer noch Tischlermeister. Aber das war auch einer! Man kam zur Straßenbahn und blieb da auch. Aber wie man da fuhr! Hier fürchtet man sich beinahe schon vor der Begegnung nach drei Jahren: Was denn, immer noch Straßenbahner?, und man spürt: Verkehrstechniker war das mindeste, was von einem erwartet worden war. Hier werden alle Verkehrstechniker, warum du nicht, was ist los mit dir?

Los mit mir ist, daß ich vierzig bin und nur noch von einem Superlativ träume: Ich möchte Chefredakteur sein, und zwar von der besten Illustrierten der Welt. Ich träume in die Tiefe, nicht in die Höhe. Ich weiß, daß wir nicht viel haben, und ich will das Wenige so wertvoll wie möglich machen. Ich will so lange auf die Kohle pressen, bis sie Diamant geworden ist. Und ich will den Diamanten so lange schleifen, bis man sich um ihn reißt, von Irkutsk bis Houston. Das geht nicht ohne Wissenschaft, ich weiß. Aus derselben Menge Stahl kann man einen Amboß machen oder eine Drehbank; im Gewicht werden sie einander gleichen, nicht aber im Preis, und das Mehr an Preis kommt her von angewandtem Wissen und angewandter Wissenschaft. Nun laßt mich mein Wissen und meine Wissenschaft anwenden! Nun laßt mich mit meinem Pfunde geschulten Hirns planmäßig wuchern! Laßt mir die Neue Berliner Rundschau und verschont mich mit der Leiterpflicht im Republikmaßstab!

Was kann denn ich für die Daten in meinem Lebenslauf und dafür, daß sie euch freundlich stimmen, weil sie schon beinah ein Muster sind? Was kann ich für all das Positive hinter den Fragen, die euch und uns allen so wichtig sind? Herkunft – Arbeiterklasse; Alter – in den besten Jahren; politisch organisiert – schon lange und historisch richtig; Auszeichnungen – diverse; fachliche Kenntnisse – durchaus und gediegen; Familienstand – in Ordnung.

In Ordnung heißt bei meinen Jahren: verheiratet. Verheiratet heißt, wenn nichts Gegenteiliges bekannt: glücklich verheiratet.

Mein Glück heißt Fran, weil Fran »Franziska« nicht ausstehen kann. Aber was kann ich für die?

Immer wieder ist Regen im Spiel. Regen macht lustige Unordnung. Regen dunkelt und hellt Farben auf und verteilt die Lichter anders. Regen paßt fast zu jedem Haar, aber einmal entdeckst du, daß er zu kurzem schwarzem am besten paßt und zu grauen Augen, und da sagst du es.

»Bei diesem Wetter gefallen Sie mir.«

»Das trifft sich – es wird länger dauern, hieß es im Radio.« Sie ging in die Ecke zu den Kunstbüchern, von denen ich nichts hielt. Ich las nur Romane und Erinnerungen, Gedichte nie, und Bücher mit Bildern waren mir ein Greuel. Bei Geschonnek gab es auch fast nur Romane. Ich hatte das Mädchen noch nie bei ihm gesehen. Ihr linker Strumpf war bespritzt, die Naht saß natürlich schief, der Saum ihres Trenchcoats war über die eine Kniekehle nach oben gerutscht, das Unglück begann am Gürtel.

»Ist die neu bei euch?« fragte ich den jungen Geschonnek, und er nickte und schielte weiter. Sein Alter döste am Postkartenstand. Ihr Trenchcoat war den halben Rücken hinunter naß; das machte ihre Schultern vielleicht breiter, als sie waren – alter Trick, zu weiter Mantel, zu enger Gürtel. Die kurzen Haare waren auch ein alter Trick, Hals ist was Zärtliches. Flache Absätze – die kann’s vertragen, lang genug, vielleicht ein bißchen zu. Mal rangehen, vergleichen. Ich kann es nicht leiden, wenn sie von oben runtergucken, machen sie so schon genug.

»Sie sind wohl noch im Bilderalter?«

»Wie Picasso.«

»Sie sind ein bißchen groß für mich, finden Sie nicht auch?«

»Was machen wir denn da?«

Gleiche Augenhöhe, das ging gerade noch; graue Augen, nichts Sensationelles, aber nett. Ich drehte ab und murmelte: »Vielleicht fällt mir was ein.«

Ich wartete draußen auf sie … Der junge Geschonnek brachte sie an die Tür und schielte, als er mich sah. Sein Alter war nun wach hinter dem Postkartenstand.

Ich ging neben ihr her. »Hatten wir das Wetter schon behandelt?«

»Fangen Sie an«, sagte sie, »sagen Sie: Scheußliches Wetter, oder zeigen Sie mir, wie furchtlos Sie sind, sagen Sie Scheißwetter, sagen Sie es etwas rauh.«

»Nie«, sagte ich, »ich spreche nie so vom Regen. Ich mag ihn.«

»Bitte nicht«, sagte sie, »ich weiß es ja: Regen macht lustige Unordnung, Regen dunkelt und hellt Farben auf und verteilt die Lichter anders, Regen paßt zu meinem Haar, und zu meinen Augen erst, wußte ich das schon?«

»Verlobt gewesen?«

»Weder Perfekt noch Imperfekt noch Präsens«, sagte sie und lachte mich an, und ihre Augen waren ungefähr in Dachfirsthöhe.

»Ich hab kein Abitur«, sagte ich. »David Groth, auch wedernochnoch, fünfundzwanzig, Redakteur, zur Zeit krank geschrieben, drei Rippen gebrochen – ich habe ein Motorrad; wenn es trocken ist, fahre ich Sie einmal.«

Als meine Rippen wieder hielten und die Sonne wieder schien, bin ich mit ihr nach Lanke gefahren. Sie hieß Fran und war Fotografin, doch geheiratet haben wir erst drei Jahre später, und davor waren wir einmal sehr lange sehr weit auseinander, und davor noch waren wir ein paarmal sehr nahe beieinander. Noch bevor wir nach Lanke gefahren sind und noch bevor der Regentag mit Geschonneks Büchern zu Ende war.

»Sie können mitkommen«, sagte sie, »ich hab ein Glas Leberwurst. Meine Mutter wohnt in der Börde.«

»Das ist in jeder Hinsicht schön«, sagte ich.

Sie war auch in jeder Hinsicht schön. Manchmal machte sie die Augen zu, aber nicht immer. Manchmal hielt sie die Zunge still, aber nicht immer. Manchmal lag sie ganz ruhig da, aber lange nicht immer. Ich konnte mich in ihren Augenwinkeln verlaufen, und ich verirrte mich in all ihrem Haar, und so viel schnell vergehende Herzfehler hatte ich nie, und ich bedaure alle, die vor mir schon den Atem eines Mädchens beschrieben haben, und ich weiß seither, wie kaltes Wasser schmeckt, weil ich seither weiß, was Durst ist und Freiheit und Selbstverständlichkeit.

»Du«, sagte ich, »ist ›Fran‹ aus einem amerikanischen Film?«

»Nein, das ist aus der Börde, wo sie mit der zweiten Lautverschiebung nicht ganz fertig geworden sind. Da darf man nicht Franziska heißen.«

Mit ihr konnte man nichts falsch machen. Bevor man es tun konnte, hatte sie das Richtige getan, und so, daß einem war, als hätte man es selbst so machen wollen.

Sie hat mich in ihr Zimmer genommen, hat mir das Glas zum Öffnen gegeben, hat einen komischen Börde-Tee gekocht, hat geredet wie ein Nachbarskind und mich von dem Ehrgeiz befreit, so zu reden wie Hopalong Cassidy und um Gottes willen nicht wie der junge Werther, hat etwas von Goya gewußt, aber nicht so, daß es mir peinlich war, hat mich geküßt, als ich mich noch fragte, ob man das dürfe, mit Leberwurstgeschmack im Mund, hat gesagt, nein, sie trüge nie ein Hemd, als ob es das gewesen wäre, was mir den Atem verschlug, hat mir erzählt, wie ihr so war, als ihr so war, hat mir gezeigt, daß nicht vorbei war, was eben vorbei war, hat mir zu trinken gegeben bei diesem Durst und dem anderen und hat danke gesagt, ja, wirklich, sie hätte nun wirklich Durst gehabt, und danke auch. Mit Fran konnte man glücklich sein, ich bin es noch, bin es wieder, aber dies alles interessiert wohl nicht so sehr in der Obersten Abteilung. Oder?

Wenn es in Ordnung ist, interessiert es nicht. Privat vielleicht, aber nicht dienstlich. Jedoch weiß ich keinen dort in der Abteilung, der diese Unterscheidung gelten ließe. Auf dieser Ebene gehen nicht nur die Uhren anders, weil die Arbeit erst getan ist, wenn der Beschluß vorliegt, hier ist auch nicht mehr trennbar, was bei unsereins noch unter verschiedenen Rubriken läuft, berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit zum Beispiel, und einfach unvorstellbar ist, Mücke etwa oder Wolfgang oder einer der anderen könnte zu ein und derselben Sache zweierlei Meinungen haben, dienstlich die eine und im Privaten dann noch eine andere.

Unvorstellbar? Mir unvorstellbar jedenfalls, zumindest, wo es um Wichtiges geht. Natürlich, auch sie werden Sachlichem den Vorrang geben und dennoch nicht auf den eigenen Geschmack verzichten; wenn Politik und Wohl des Staates es wollen, werden sie das Erforderliche tun, ohne in jedem Falle zu glauben, Erforderliches und Wünschenswertes seien unbedingt dasselbe.

So weiß ich, wie Xaver Frank über das Boxen denkt. Xaver ist der Mann, den man fragt, wenn es in der Abteilung um Sportsachen geht. Er kennt die Trainer und Klubpräsidenten, die Schanzenbauer und Hallenwarte, die Rekordhalter und die Rekordlisten, vor allem die internationalen. Auch Sportfragen sind Leitungsfragen, und so sind da ein paar Antworten mehr, die von der Abteilung erwartet werden. Xaver hilft dann; er kennt sich wirklich aus, und man hört auf ihn. Nur in Boxangelegenheiten hört man nicht auf ihn, ganz einfach, weil dann nichts von ihm zu hören ist. Da schweigt er. Er hat einmal seine Meinung gesagt, und seitdem ist er raus bei dem Thema. Er stimmt zwar am Ende mit ab, aber nur nach strikt politischen Gesichtspunkten, er tut dann so, als handle es sich um einen Keglerchef oder den neuen Leiter der Fechterequipe. Er hat es mir so erzählt. Wir hatten einen Bericht über unsere Olympiakader gebracht, und Xaver trug die Zeitung in der Tasche, als er zu uns in die Redaktion kam.

»Ich wollte schon immer mal sehen, wie ihr so was macht«, sagte er, »nun komme ich gerade vorbei.« Das genügte ihm als Erklärung. Dann legte er die Nummer mit den Boxbildern auf den Tisch. »Und nun zeigt mir die anderen Fotos, die, die ihr nicht gebracht habt.«

Die Bilder wurden geholt, und er betrachtete sie angewidert. Er zeigte auf die Aufnahme eines Mittelgewichtlers kurz nach dem Niederschlag. »Ist der tot?«

»Aber nein, der ist nur k. o.«

»Woran sieht man das?«

»Das sieht man doch!«

»Wieviel Leichen hast du denn schon gesehen?«

»Na, diese und jene.«

»Und warst du schon mal k. o.?«

»Nicht vom Boxen.«

»Der sieht wie tot aus«, sagte er und schob das Bild über den Tisch, »und der ist auch ein Stück tot. Ausgeknockt – feiner Ausdruck! Ein Stück totgeschlagen, wäre richtiger. Bewußtlos geschlagen, das ist das Letzte. Weißt du, wieviel Angst die Ärzte haben, es könnte ihnen einer bewußtlos werden? Weißt du, was sie anstellen, um dir deine Leber zu erhalten? Kennst du ihren Kummer mit unseren Nieren? Hast du eine Ahnung, wie die sich abstrampeln wegen ein bißchen mehr Leben für uns alle? Und da stellen wir zwei Jungens in einen Ring und sagen ihnen: Nun haut euch mal, und wer den anderen ein Stück tot kriegt, der hat gewonnen!«

Hans Bammler, der Sportredakteur, dem der Besuch ebenso in die Gräten gefahren war wie mir und der gedacht haben mochte, ihm sei im Kommentar ein kapitaler Fehler unterlaufen, gesamtdeutsche Illusionen oder so, sagte endlich auch etwas: »K. o. wird immer seltener, und die Bestimmungen für R. S. C. werden immer schärfer, und die verordneten Pausen nach einem Niederschlag werden immer länger – es wird doch aufgepaßt!«

»Ja«, sagte Xaver, »und nach dem ersten Gong wird aufgepaßt, wer dem anderen die meisten Dinger an den Kopf ballert, der ist dann besser.«

»Mit Handschuhen«, warf Hans ein.

»Immerhin mit Handschuhen«, sagte Xaver, »soweit sind wir doch schon. – Weißt du, daß die Gerichte die Faust eines Boxers als tödliche Waffe definieren? Ein Gewehr ist auch eine tödliche Waffe, aber wenn du es mit Platzpatronen lädst, hast du das Gewehr noch lange nicht harmlos gemacht. Und der Effekt eines Boxhandschuhs ist da weit geringer.«

Wir saßen ratlos da, während Xaver Frank sich in meinem Büro umsah. Dann zeigte er auf das Radio im Regal und sagte: »Genosse Groth, tu mir einen Gefallen, bring mal den Apparat rüber.«

»Die Schnur reicht nicht.«

»Ohne Schnur«, sagte er, »ich meine, du brauchst den Kasten nicht anzuschließen.«

Ich stellte das Gerät vor ihm auf den Tisch.

»Hast du gesehen«, sagte Xaver zu Hans, »hast du gesehen, wie er damit umgegangen ist? Hast du gesehen, wie dein Kollege das Ding auf der Tischplatte gelandet hat, so, als ob es anders explodieren könnte? Du würdest es ebenso machen, ich auch. Alle gehen so mit ihren Radios um, und mit diesen blöden Fernsehern erst. Und warum? Das weiß jeder: Diese Sachen sind teuer und empfindlich. Das vor allem. Da sind schreckhafte Röhren drin und zarte Lötstellen, ein kompliziertes Gewirr von lauter Rührmichnichtans, nicht rütteln, nicht schütteln und auf keinen Fall schlagen. – Nur einem Menschen vorsätzlich aufs Jochbein klopfen, das geht; ihm einen Zentner Faust auf das Ohr setzen, das läßt sich vertreten; ihm so auf das Auge knallen, daß manchmal die Handwurzel bricht, darüber läßt sich reden! – Mit mir nicht! Ich bin im vorigen Jahr ein bißchen hart gegen die Frontscheibe gestoßen, da haben sie mir vier Wochen Bettruhe verordnet und außerdem, daß niemand mehr vorne sitzen darf, auch wenn es ihm Spaß macht, aber in diesem angeblichen Sport ist die Gehirnerschütterung eingeplant, und fürs Körperverletzen gibt’s Titel. Wenn die dann noch wenigstens Verdienter Meister im Körperverletzen lauteten, aber nein, ist ja Sport!«

Hans und ich saßen stumm vor diesem Ausbruch, dann fragte ich: »Ist das eine neue Linie? Wird Boxen abgeschafft?«

»Unsinn! Das ist nur meine persönliche Meinung; ich wollte sie mal gesagt haben. Man wird ja wohl noch irgendwohin gehen und seine Meinung sagen können, ohne eine Linie hinter sich zu lassen.«

»Aber du bist Abteilungsmitglied. Wie diskutiert ihr denn da über so etwas?«

»Das liegt lange hinter uns. Manche sind für das Boxen, manche sind dagegen, aber solange Boxen olympische Disziplin ist, machen wir mit. Wieder eine Sache, die bis zum Kommunismus Zeit haben muß.«

»Da wird das abgeschafft?« fragte Hans, fast empört.

»Wenn es nach mir geht«, sagte Xaver. »Aber dann müßte es auch nach mir gehen, daß ich hundert Jahre alt werde, oder besser hundertfünfzig. – Dann jedenfalls wird es nicht mehr nötig sein, daß wir zehn Jungens auf die Reise schicken mit dem Auftrag, anderen zehn Jungens und mehr die Nasenbeine zu zertrümmern und das Sonnengeflecht zu ruinieren, damit der Medaillenspiegel anzeigt, daß wir da sind. Dann sind wir da, Gleiche unter Gleichen, und haben keine Ellenbogen mehr nötig und die Fäuste nicht für so was. Und die Scheiß-Raketen auch nicht, um mal von etwas zu reden, was uns noch ein klein wenig mehr Sorgen macht als eure edlen Faustkämpfer. Aber jetzt gehe ich. Knipst mal wieder ’n paar Turnerinnen.«

Wir brachten ihn noch auf die Straße, dann fragte Hans: »Was wollte er nun eigentlich?«

»Du, Hans«, sagte ich, »manchmal muß einer einfach mal was sagen.«

»Stimmt schon«, sagte er, »aber der auch?«

Eine merkwürdige Frage – merkwürdig vor allem deshalb, weil wir sie alle stellen, immer wieder. Unter uns und um uns liegt das Reich der Selbstverständlichkeiten, über uns aber beginnen Mysterien. Wir schleppen einen uralten Aberglauben mit: Unsere Oberen sind anders als wir; sind sie nicht gleich Götter, so sind sie doch uns anderen Menschen nicht ganz gleich. Sie kommen aus demselben Stroh wie wir und müssen doch anders sein, sagen wir, weil sie über uns stehen.

Dämpfen wir den Neid auf diese Weise, berufen wir uns auf Natur und Wunder, damit uns unsere Rolle erträglicher werde, bedarf die Unterordnung dieser Einrede? Und bedarf unsere Ordnung dieses Gespinstes zu ihrem Halt?

Aber wenn Köhlerglaube noch Platz in unseren Köpfen findet, so doch nur, weil kein besseres Wissen ihm den Einzug verwehrt oder weil es zu schwach ist, dem Nebelspuk standzuhalten.

Denn Spuk ist es, oder benennen wir es aufgeklärter: bloße Vorstellung, pure Einbildung, reine Erfindung und böses Erbe.

Das vor allem. Tradition reitet uns; wir gehen noch an der Trense des Herkömmlichen; Altväter Denksitte führt da die Zügel.

Und das sollte uns befremden, beunruhigen, stören, wecken: He, laßt uns aufwachen, wir sind jetzt in dieser Welt und nicht mehr in jener! Wir werden von unsereins regiert. Und unsereins hat seinen Auftrag nicht von Gottvater oder irgendeinem mehr fleischlichen Erzvater verordnet bekommen, unsereins war nicht schon als quiekender Infant Gardekommandeur, unsereinem sagte keine Stimme aus dem Dornbusch vor, unsereinen hat kein Gotha vorgesehen und überhaupt, was die Vorsehung anlangt, so war sie, wo es um unsereins ging, weitgehend mit Blindheit geschlagen.

Die Heraldiker sind böse mit uns: Wir haben sie brotlos gemacht – die auch; ihnen bleibt nur der Blick zurück, und uns bleibt ihr Zorn, denn wir können nicht dienen mit Zepter und Kron, Reichsapfel und Hermelin, den Insignien der Hochgeburt; wir sind nicht einmal Wohlgeboren, unsere Ahnen geben nichts her für Schildereien, die Erkennungszeichen weithergekommener Macht. Unsere Stammbäume blieben ungemalt, da keine Wappen in ihren Zweigen hingen; da baumt kein Aar auf knorrigem Ast, kein Falkenauge blitzt diamanten, kein gefiederter Doppelkopf bezeugt das Fabelhafte unseres Daseins, kein Greifenhaupt erklärt uns für sagenhaft, kein Drachenflügel gibt vor, wir kämen aus dem Märchenreich. Wir sind, was das angeht, ohne Vergangenheit.

Unvergessen daher die Geschichte, deren Ohrenzeuge man wurde am Abend nach einer Tagung im kleinen Saal von Cecilienhof zu Potsdam, Musik von Corelli darunter: Saßen da Schriftsteller, Anfänger und Angekommene, tranken Lindenblättrigen, wußten nicht mehr viel zu sagen, denn auf der Sitzung war ihnen vieles gesagt worden, hörten mit halbem Ohr ins Settecento, hatten eben noch einen müden Augenblick für das nachgedunkelte Ritterwesen in Preußenöl und rieben rekelnd Absatzspuren auf hohenzollernsches Parkett, da sprach Ludwig Renn, der von Golßenau, einziger Adelssproß unter schreibenden Ex-Bürgern und Ex-Proleten, sprach zu Müller oder Mickel oder Bräunig, einem der Jüngeren jedenfalls und jedenfalls sehr Mageren und Ahnenlosen, sprach es wohl nach einem stillen Vergleich zwischen einem der abgeschilderten Kurfürsten und dem neben ihm sitzenden Schreiber: »Du bist ja auch so ’n Dünner. Ich bin auch so ’n Dünner. Waren sie bei euch alle so dünn? Bei uns waren sie alle so dünn.«

Während der Jüngere noch mit der Ehre solcher Gemeinsamkeit und dem Thema zurechtzukommen suchte, schickte Ludwig Renn einen kontrollierenden Blick in die Vergangenheit und ergänzte dann: »Das heißt, warte mal, im siebzehnten Jahrhundert hatten wir mal einen, das war mehr so ein Dicker.«

Im siebzehnten Jahrhundert – also zweihundertfünfzig bis dreihundertfünfzig Sommer und Winter zurück –, da hatten die mal einen, der mehr so ein Dicker war, einen dicken zwischen lauter dünnen Golßenaus, einen einzigen, der sich stämmiger ausnahm in einer Legion von aufgeschossenen Kämmerern, Mundschenken, Fahnenjunkern, Generälen und Kadetten, einen einzigen, der eines der ungezählten Holzgevierte im Barock-, Rokoko-, Biedermeier- und Jugendstil auf natürliche Weise ausfüllte, einen einzigen solchen hatten die gehabt, dreihundert Jahre zurück, aber sie wußten es.

Unsereins hatte spätestens mit dem Urgroßvater Schwierigkeiten: War das nun der Töpfer oder der Scherenschleifer gewesen, war er aus Nürnberg nach Holstein eingewandert, oder war das der aus dem Heidedorf? Manchmal, wenn nicht allzu viele äußere Unruhen allzuviel häusliche Unordnung gebracht und allzu viele Fluchten eiligen Aufbruch und leichtes Gepäck gefordert hatten, manchmal dann fand sich bei unsereins noch ein nach der verfeinerten Technik des Herrn Daguerre belichtetes Stück Pappe, einen steifen Mann mit Schnauzbart und eine meist viel kleinere Frau in steifer Bluse zeigend und umseitig die in steifer deutscher Schreibschrift gefertigte Mitteilung enthaltend, es handle sich bei den nun wiederum umseitig abgebildeten Personen um den Christoph Groth nebst seiner Ehefrau Friederike, geborene Stellmacher, festgehalten vom Lichtbildner Murza anläßlich der heilen Rückkunft des Erstgenannten aus der großen Schlacht bei Sedan im Kaiserjahr achtzehneinundsiebzig.

Manchmal gab unsereinem eine Urkunde Bescheid, daß ein Mann namens Gottfried Groth im Lauenburgischen zehn Acker Land erworben habe, ein Ludwig Groth zu Lehrte das Sargmachen erlernt, ein Gotthelf Groth es bei den Grenadieren zum Gefreiten gebracht, ein anderer Gotthelf Groth die Mathilde Nehls geehelicht und ein Fürchtegott, ausgerechnet Fürchtegott, Groth wegen Teilnahme an aufrührerischer und bewaffneter Zusammenrottung mittels polizeilichen Aushangs gesucht worden sei.

Manchmal, und bestimmt sogar, wenn man mit Vornamen David hieß und im Frühling nach dem Reichstagsbrand zur Schule gekommen war, hatte man noch einen Überblick über drei rückwärtige Generationen, aber die Kenntnis verblaßte wie das Licht im Quadrat der Entfernung, und jenseits der Öllampengrenze herrschte undurchdringliches Dunkel.

Die Groths und das siebzehnte Jahrhundert, das war so klar wie die Beziehungen der Groths zu Oliver Cromwell, Henry Purcell und Blaise Pascal; so kühn war keine Phantasie, daß sie da Stege geschlagen hätte. Selbst die Vorstellung, ein damaliger Groth hätte vom Dasein wenigstens der deutschen Größen seiner Zeit einen Ahnungsschimmer gehabt, hatte einen Zug ins Wilde. Leibniz hatte mit seinen Monaden zu tun, und da blieb ihm keine Zeit für die Groths, und die hatten mit dem Leben zu tun, mit dem Am-Leben-Bleiben, und da blieb keine Zeit für Herrn Leibniz.

Vielleicht sangen sie einmal ein frommes Lied von Herrn Gryphius, vielleicht. Vielleicht hatten sie einen Schulmeister von den Gegenwartsromanen des Herrn Grimmelshausen sagen hören, vielleicht. Vielleicht hat ein poesieanfälliger Groth seine müden Vettern mit den Sinngedichten des Herrn von Logau geplagt, vielleicht, aber wahrscheinlich ist das alles nicht.

Wahrscheinlich ist nur, daß auch die Groths, viele von ihnen, in den Fluten des Dreißigjährigen Krieges ersoffen sind; das vor allem wird ihr siebzehntes Jahrhundert gewesen sein.

Ganz sicher sind Groths, wo nicht an Blattern, so an Religion und was dafür galt, gestorben, am Weißen Berg, an der Elbbrücke bei Dessau, vor Stralsund und bei Wittstock an der Dosse. Dazu nun wieder gehört kaum Einbildungskraft: den Ruf einer Elisabeth Groth zu hören, mit dem sie die Kinder von der Dorfstraße bringt, weil die Mansfeldischen kommen; einen sächsischen Groth schreien zu hören, weil ihm die Pike eines braunschweigischen Groth gerade die Galle von der Leber trennt; das Lachen eines Groth aus Holstein zu vernehmen im Gebrüll eines Groth aus Pommern, der kopflings über einem Feuer hängt, das ein Groth aus Lüneburg fröhlich schürt. Sich hungrige Groths auszudenken, fiebrige, stehlende, plündernde, ausgeplünderte, geblendete, taube, schwitzende, stotternde, bettelarme und saudumme Groths, dazu braucht es ein Nichts an Imagination, das liegt so nahe, denn diese Art Groth-Linie reicht bis in die allerjüngste Vergangenheit.

So gewiß wie die Golßenaus im siebzehnten Jahrhundert einen Dicken hatten, so gewiß hatten die Groths in derselben Zeit einen dürren Torfstecher, einen hohlwangigen Dorfbader, einen schwindsüchtigen Flickschuster, einen mageren Ziegelbäcker, einen ausgemergelten Grundholden, einen spillrigen Reepschläger, einen spacken Spökenkieker, engbrüstige Ducklinge in jeder Menge – nur wurden die nicht gemalt, und so gibt es keine Bilder von ihnen und so kein Bewußtsein.

Das hatte unsereins erst nachzutragen, das auch noch.

Gut, haben wir gesagt, da ist das siebzehnte Jahrhundert, und sein Namensregister ist ein bißchen unvollständig, da werden wir wohl die Lücken zwischen den diversen Wallensteins, Tillys und Hatzfelds ein wenig ausfüllen müssen, da denken wir uns einmal zu einem jeden dieser gemalten Herren ein paar tausend Troßjungen und Tagelöhner namens Groth hinzu, zu jedem Herzog von Friedland tausend Spießträger und Mahlknechte namens Müller, zu jedem General Götz tausend Soldknechte und Hintersassen namens Sasse, zu jedem Bernhard von Weimar tausend Hellebardiere und Kärrner namens Wagenknecht, zu jedem Christian von Braunschweig tausend Schwertgesellen und Hufschmiede namens Schmidt, und so fort, zu jedem geadelten Malermodell einen Haufen bis dahin übersehener, weil unübersehbarer Arbeitsleute, das macht dann am Ende auf ein Dutzend gepinselter Obernasen eine Menge harter Fäuste, das macht eine Menge, eine Masse, eine Masse Volks, macht die Volksmassen, und von denen kommen wir her, wir, unsereins, und also unsere neue Oberkeit auch.

Sie und wir, wir waren der Hintergrund auf jenen Bildern, deren Vordergrund ein herrschender Dicker auf dickem Gaul einnahm, sie und wir, also unsereins; unsereins war das Getümmel hinter dem vollgefressenen effigierten Schlachtenlenker; unsereins machte dem Künstlerpinsel nicht halb soviel zu schaffen wie ein auserwählter Roßschweif; wir waren Farbrestgesprenkel, irgendwo dahinten. Dann allerdings, dann kamen wir nach vorn und machten denen da zu schaffen und schafften sie ab.

Nicht ganz ohne Hilfe freilich, nicht ohne Zutun von Leuten, die immerhin auch schon gemalt worden waren, nicht ohne ein klärendes Wort eines gewissen Dr. Marx, nicht ohne den staatlich examinierten Uljanow, nicht ohne Notarius Liebknecht, nicht ohne, sehr früh, Herrn Fabrikbesitzerssohn Friedrich Engels, und selbst nicht ganz ohne – seht, wer nun kommt – den späten Sproß derer von Golßenau, den dürren Ludwig Renn, neuartigen Schlachtenlenker aus ältestem Hause, Stabschef in einem Heer aus Peones und Trabajadores, sächsischen Republikanern auf spanischer Erde – o Hamlet, welch ein Aufstieg!

Seither haben wir eine neue Obrigkeit, und die unterscheidet sich, was ihre Altvorderen aus dem siebzehnten Jahrhundert betrifft, nicht von der neuen Untrigkeit.

Freilich, wenn da im siebzehnten Jahrhundert Gleichheit war, so darf die merkwürdige Ungleichheit des zwanzigsten, jene, die bis zum Mai fünfundvierzig anhielt, nicht übersehen werden, noch nicht. Denn in dieser Zeit war, was wir ein wenig vorschnell und gleichmacherisch unsereins nannten, doch wieder nicht ganz so ununterschieden. Die Differenzen enthüllen sich in biographischen Daten.

Nehmen wir – und nur zum Beispiel, denn viele andere aus unseren Obersten Abteilungen, Mücke und Wolfgang etwa, täten es auch –, nehmen wir noch einmal jenen Xaver Frank, den zerrissenen Gegner des Faustkampfs, und nehmen wir ins Gegenbild, sagen wir, den Hermann Groth aus Ratzeburg, den Onkel des David Groth, nicht dessen Vater, Wilhelm Groth, denn der hat einen Sonderweg genommen, nehmen wir Hermann, einen der vielen Groths, nehmen wir diesen.

Beide sind, das erleichtert den Vergleich, zwölf Monate älter als das Jahrhundert, beiden galten vor fünfzig Jahren Corelli und Leibniz und der Herzog von Friedland gleichviel, beide hatten bis dahin fast alles gemeinsam: Sie waren unsereins.

Dann allerdings, im November achtzehn, trat Xaver einem kaiserlichen Korvettenkapitän in den Hintern, und Hermann tat ein gleiches, nur tat er es mit einem französischen Bauern.

Im Dezember noch desselben Jahres schlug dem Xaver eine Gardekorpskugel auf der Berliner Chausseestraße durchs Schlüsselbein, und Hermann machte seinen Anstellungsbesuch beim Klempnermeister Schütt in Ratzeburg, er hatte sich dazu das Vorknöpfhemd seines Vaters ausgeliehen.

In Rosas letzter Stunde war Xaver insofern noch gut dran, als man ihm nur drei Rippen eingetreten hatte; Hermann hörte von der Sache am Landwehrkanal durch den Schneidermeister Seeger, der sich an diesem Tage gleich zweimal erlöst fühlte, zum einen wegen der Sache am Landwehrkanal und zum anderen, weil der Ausguß nun wieder Zug hatte, dank Hermann.

Neunzehnhundertfünfundzwanzig hatte Hermann genug von verstopften Ausgüssen und maulenden Hausfrauen und ging für zwölf Jahre zur Reichswehr; er war der viertbeste unter hundert Bewerbern, und neunzehnhundertsiebenunddreißig war er Stabsfeldwebel, aber den Einmarsch in die Sudeten verpaßte er, denn da war er schon Finanzanwärter im Amt zu Ratzeburg.

Xaver hatte indessen eine weniger gediegene, dafür aber um so intensivere und variiertere Erfahrung mit Waffen gesammelt: Bei Hettstedt hatte er mit einer Mauser geschossen und war mit einer Parabellum ins Bein geschossen worden, in Neukölln hatte er mit einem Stuhlbein hantiert, und eines Stuhlbeines wegen war seine Nase nicht mehr ganz gerade seit einer Diskussion im Friedrichshain, nicht einmal die Hundepeitsche im Columbiahaus hatte das wieder gerichtet, und in Sonnenburg schlugen sie eher mit Ochsenziemern und lieber in die Nierengegend.

Als der ausgemusterte Stabsfeldwebel Hermann Groth dem Aufnahmediktat eines Ratzeburger Finanzsekretärs zu folgen versuchte, kommandierte Xaver Frank aus Würzburg ein Bataillon; das war vor Teruel, und das liegt in Spanien.

In Stalingrad hätten sie einander beinahe getroffen, doch es kam nicht dazu, obwohl Hermann trotz der Kälte noch recht ordentlich zielte und obwohl Xaver eigentlich laut und deutlich genug in sein Mikrophon sprach.

So trafen sie sich nie, denn als Hermann noch Holz in den Wäldern an der Lena schlug, verscharrte Xaver bei Oderberg seinen Fallschirm, und als Hermann Groth, jetzt selber Finanzsekretär, dem Schneidermeister Seeger einen Steuerbescheid schickte, Ratzeburg, Hindenburgstraße neunzehn, da wohnte Xaver Frank in Berlin am Majakowski-Ring, und nach Ratzeburg durfte er längst nicht mehr. Zweimal unsereins und nicht ganz so sehr eines.

Unter unseren Oberen sitzen viele vom Schlage des Xaver Frank, und im Volke, das nun sie leiten, sind viele vom Schlage des Hermann Groth, aber vor der umgewälzten Geschichte wäre es purer Aberwitz, wenn wir nicht spätestens aus dem so und so mißglückten Stalingrader Treffen zwischen Frank und Groth gelernt hätten, was da zu lernen war: daß unsereins auf unsereins hören muß.

Nur leider, der Aberwitz ist am Tage und beherrscht noch des Tages Ordnung, ab Ratzeburg westwärts, und ab Ratzeburg ostwärts gibt es immer noch manchen, der immer noch nicht den Unterschied zwischen dem Herzog von Friedland etwa und etwa dem Xaver Frank begriffen hat, obwohl er doch leicht selbst ein Xaver Frank hätte sein können, nie aber Herzog von Friedland.

Ein Mitglied der Obersten Abteilung ist ein anderes Tier, heißt es da, nämlich ein hohes und also ein anderes, und ein Minister ist es auch.

Und manche kommen ins Schielen, wenn ein Minister kommt, und manche kommen in langwährendes Stottern, wenn man ihnen mit einem Ministerposten kommt. Zum Beispiel ich.

Zum Beispiel ich, David Groth, Urenkel vielmal eines Troßjungen und Tagelöhners aus dem siebzehnten Jahrhundert, Sohn des Wilhelm Groth aus Ratzeburg, Neffe des Stabsfeldwebels und inzwischen Finanzamtmanns Hermann Groth von ebendort, Ehemann der Franziska Groth, Fran genannt, Ex-Kommandeur einer Zentralen Ordnergruppe, extern studierter Diplom-Journalist, Parteimitglied seit zwanzig Jahren, seit vier Jahren Erstgenannter im Impressum der Neuen Berliner Rundschau, ich, David Groth, zum Beispiel möchte nicht Minister werden.

Aber ich glaube, ich muß mir das alles noch einmal und in Ruhe und dann mit System überlegen.