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David hatte Fritz Andermann in einem seltsam gestuften Verfahren kennengelernt. Zuerst war das nur ein Name, den Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow wie eine besonders zutreffende Bezeichnung des Teufels aussprach und durchaus wie einen Fluch benutzte; wo seine Landsleute jene Aufforderung zu befremdendem Tun mit einer nahen Verwandten ausgestoßen hätten, da schrie Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow: »Fritze Andermann!«

Dann machte David Bekanntschaft mit Fritze Andermanns bedeutendster und schlechthin entwaffnender Untat, die vornehmlich deshalb entwaffnend war, weil ihre äußere Erscheinung eher vermuten ließ, es handle sich hier um eine hundertprozentig positive Aktion.

Danach lernte David in einem Zuge Andermanns Handschrift und seine entschiedenen Ansichten zu einer bestimmten Figur der Militärhistorie kennen und im selben Zuge noch eine ihm bis dahin unbekannt gewesene Form politischen Meinungsstreits.

Wenig später konnte sich David mit Fritze Andermanns Stimme vertraut machen, was insofern leicht war, als diese Stimme aus vier Großlautsprechern erscholl und nur deshalb unbefriedigend bleiben mußte, weil das Klangbild unter der etwas ungünstigen Postierung der vier akustischen Geräte an den Ecken eines weiten Stadtplatzes litt und in seiner phonischen Differenziertheit auch ganz gut als die Aufnahme eines mittleren Sommergewitters hätte gelten können.

Sechs Jahre darauf bekam David diesen Fritz Andermann zum ersten Male und nur für kurze Zeit zu Gesichte; und danach dauerte es weitere vier Jahre, da war der sein Lehrer an der Parteischule, ein grimmiger Pädagoge, dessen Gebaren David nicht besonders ermunterte, mit dem Bekenntnis zu alter Bekanntschaft hervorzutreten. Als er es dann doch getan hatte, lachten sie sehr, und anschließend stritten sie wieder über jene Person aus der preußischen Kriegsgeschichte.

Schließlich sah David den Fritz Andermann öfter, aber meistens nur so, wie ein Journalist einen Minister zu sehen pflegt, doch nun waren sie Komplicen in einer positiven Intrige zugunsten der Kaderleiterin Carola Krell.

An allem Anfang aber war Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow gewesen, Major der Sowjetarmee, Stadtkommandant im System der Militäradministration und Johanna Müntzers alter Bekannter aus ihren Großen Zeiten.

Der sah so aus: breit und wuchtig, Kragenweite 44, Kugelkopf, helle Augen, runde Nase, wenig Haar, Gesichtsfarbe braun bis in die Mitte der Stirn, eben erst rasiert, Schultern und Bauch eines älteren Ringers, Alter schwer zu schätzen, fünfundvierzig mit fünf Jahren Toleranz nach beiden Seiten – Gesamteindruck empfiehlt, Temperamentsspanne für weitestmöglich zu halten und persönliche Prüfung besser zu unterlassen: Könnte sein, du wirst adoptiert, könnte sein, du wirst an die Raben verfüttert.

Das glaub ich, dachte David, als Penthesilea ihm befahl, in ihrem Besucher einen wahren Menschen und einen ihrer besten Freunde zu sehen; das glaub ich, dachte er, ihr beiden paßt zusammen.

Dann richtete er sich auf etwas Jähes und Überwältigendes ein; in die Übung kam man als Johannas vertrauter Mitarbeiter, und mit solcher Erwartung rüstete man sich aus, wenn man mitten aus einer Arbeit heraus zur Herausgeberin kommandiert worden war.

»Hier habe ich jetzt meinen Assistenten für dich, Wassilij Wassiljewitsch«, sagte Johanna, »der Mensch steht zu deiner Verfügung. Und du, David, antwortest dem Genossen Spiridonow, er ist zu Bericht bei seinem General gewesen, und jetzt besucht er mich, und er ist Major.«

Der Genosse Major musterte David und nickte. Was immer ihm Johanna von ihrem Assistenten berichtet haben mochte – es schien ihm nun alles klar.

Er schüttelte David die Hand und fragte: »Wie ergeht es deiner Gesundheit?«

»Gut, gut«, sagte David.

»Und wie befinden sich Herr Vater und Frau Mutter?«

David schielte zu Johanna hinüber, aber die starrte ihn nur an und wippte mit einem blauen Bein; da antwortete David: »Teils, teils.«

»Gut«, sagte der Major, »wir haben uns also bekannt gemacht. Nun eine kurze Frage …« Er hielt inne und schien noch nach dem passenden Wort zu suchen. Sein Blick verfinsterte sich; er flüsterte etwas; er schien mit einer bösen Erinnerung zu ringen; was über seine Lippen kam, halblaut und doch mit gefährlichem Ton, klang wie ein Fluch aus tiefstem Seelengrunde, aber es mußte eine sehr spezielle Verwünschung sein, meinte David, der durch einigen Umgang mit den zugereisten Soldaten zu Einblicken in deren Schimpfkünste gekommen war, es mochte sich bei dem Wetterwort, das der Major da durch die Zähne gestoßen hatte, um eine Schmähe von engbegrenzter Verbreitung handeln, um eine Spezialität aus Irkutsk vielleicht oder eine Eigenprägung der Bürger von Kasan, um einen nie gehörten Ausdruck jedenfalls, denn nie zuvor hatte David einen russischen Fluch vernommen, der so ähnlich klang wie ein gezischtes »Fritze Andermann!«.

Doch ehe sich David näher mit diesem idiomatischen Problem befassen konnte, hatte ihm der Major Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow seine kurze Frage gestellt: »Was weißt du über Moltke?«

Jetzt sah David ohne alles Schielen fragend zu Johanna Müntzer hinüber, und jetzt starrte die auch nicht einfach zurück, jetzt sprach sie: »Es ist mir zwar nicht recht, daß du solche Sachen weißt, weil sie in deinem Kopf einen Platz besetzt halten, an dem besser anständige Erkenntnisse aufbewahrt werden sollten, aber ich weiß, daß du diese kriegerischen Dinge kennst, da kannst du sie jetzt hier meinem sowjetischen Freund vortragen. Trage es einmal vor, David!«

Bevor er vortrug, vergewisserte sich David rasch, daß nicht der Marneschlacht-Moltke, sondern der Moltke von Königgrätz und Paris gemeint war, dann trug er vor, und wie er da vortrug!

Seine ersten Mitteilungen gab er zwar noch behutsam von sich, weil ihm erinnerlich war, daß sowjetische Offiziere kriegskundige Deutsche im allgemeinen nicht zu schätzen pflegten, aber da über die Aufforderung des Majors hinaus ein Befehl Penthesileas vorlag, ließ er bald von der Vorsicht und gab den Schüben lange verborgen gehaltenen Wissens nach, öffnete seine Speicher und teilte von seinen Vorräten aus wie damals vor einer Ewigkeit, als er seinen Onkel Hermann, den Feldwebel Groth aus Ratzeburg, mit der Enthüllung in entrüstetes Staunen getrieben hatte, daß Groß-Preußens genialster Militärstratege nicht nur dänischer Offizier, sondern auch Kriegsgehilfe eines türkischen Sultans gewesen war; wie damals, als sich Klein-David im Kampfe gegen den Lehrermenschen Kasten durch Sonderwissen in der Abteilung »Unsere großen Deutschen«, Unterabteilung »Die Feldherrn«, mit einem Extra an Autorität versehen hatte; wie damals beim Meister Treder, als er den Verkauf eines Chassepot-Modells 66 mit der Mär zu verbinden gewußt, aus diesem Gewehr sei vor Paris ein ernstgemeinter Schuß auf den Grafen von Moltke gefeuert worden, was dem Meister wieder Anlaß gegeben hatte, im weiteren Verlauf der Geschäftsverhandlung nur noch von der »berühmten Mordwaffe« zu sprechen; wie damals endlich referierte der NBR-Assistent Groth dem Sowjetmajor Spiridonow die »Kriegslehren« des Feldmarschalls von Moltke, wie damals, als David noch Waffenpfleger beim Fliegergeneral Klütz war und besondere Gäste mit Zitaten aus dem Stabswerk über den italienischen Feldzug achtzehnneunundfünfzig verblüffen durfte.

Johanna Müntzer hörte den Auslassungen ihres Zöglings mit Ingrimm zu; man sah, sie war empört über soviel Mißbrauch menschlicher Hirnkraft, und man sah, es war ihr recht, genau das parat gehabt zu haben, wonach ihr sowjetischer Freund auf der Suche gewesen war.

Daß der zufrieden war, konnte man nicht übersehen, und man konnte auch nicht den begeisterten Ton überhören, mit dem er diesmal seinen fremdartigen Fluch hervorstieß; es war ein Ton wie zu »Allewetternochmal!« oder »Potztausendnocheins!«, aber die Worte, die er gebrauchte, das war nun kaum noch zu bezweifeln, die lauteten »Fritze Andermann!« und klangen wie Triumph.

Er erhob sich und umarmte Johanna Müntzer so heftig wie einer, der vom Weibe los in einen langen Polwinter hinaus muß, und zu David sagte er: »Ich muß nun fort, und du wirst mein Gefährte sein!«

David mußte gleich zweierlei bewältigen: Erstens den Schrecken, denn wer wußte, wohin so ein Mensch zu reisen gewohnt war, und zweitens die kitzelnde Beunruhigung, die von der Sprechweise des Herrn Spiridonow ausging; es war da etwas altfränkisch Literarisches in seinen Worten, eine Redensart nicht mehr so ganz von dieser Welt, ältere Schulgedichte hatten so etwas oder sehr alte Jahrgänge von Auerbachs Kinderkalender.

Zum Glück zeigte es sich, daß Wassilij Wassiljewitsch diesen Ton nur wählte, wenn er sich sehr direkt und sehr persönlich auszulassen wünschte; allgemein gehaltene Äußerungen, berichtende, unterrichtende und erzählende, trug er in einem Deutsch vor, an dem nur ungewöhnlich war, daß es so geläufig von einem Landesfremden gesprochen wurde. Und, natürlich, daß an allen Stellen, an denen man einen saftigen Fluch erwarten durfte, die geheimnisvollen Worte »Fritze Andermann!« erklangen.

Das heißt, das Geheimnis wurde verhältnismäßig früh gelüftet. Verhältnismäßig früh, also nicht gleich, nicht in den Minuten des jähen Aufbruchs, in denen David kaum Zeit blieb, eine Tasche zu packen, und gerade noch so viel, daß er unter Ausflüchten für Johannas Ohr zur Rotation hinüberlaufen konnte zu schnellem und wirrem Bescheid für Carola; geklärt wurde das Rätsel auch noch nicht während der ersten zwei Stunden Fahrt aus Berlin hinaus in Richtung Nord-Nordwest; da hielt der Major zunächst einmal Gedankenaustausch mit seinem Fahrer, einem, wie David erfuhr, Baschkiren, der bis zum Ziel ein halbes Pfund Machorka und eine ganze Ausgabe der Prawda durch seine Lunge jagen sollte, und zwar der Erregung wegen, so deutete W. W. Spiridonow an, die dem Soldaten zu schaffen machte, weil er einen deutschen Schweinehund durch den Frühling chauffieren mußte. So ergab sich also Wassilij Wassiljewitsch von Berlin-Stadtmitte bis auf den Marktplatz von Neustrelitz der Aufgabe, dem düster vor sich hin qualmenden Wagenlenker ein Deutschlandbild zu vermitteln, das, wie David fand, bedenklich apologetische Züge trug.

Der zweisprachige Vortrag des Majors mußte einen aktiven sowjetischen Soldaten ebenso irritieren wie einen deutschen Soldaten außer Diensten, denn wenn sie beide recht verstanden, so fuhren sie hier weniger auf einer Straße, die unter anderem an Sachsenhausen und Ravensbrück vorbeiführte, als vielmehr auf der Verbindungslinie zwischen Heinrich Heines Berlin und Gerhart Hauptmanns Hiddensee, auf einem Kulturpfad durch eine Großlandschaft, die sich von den Geburtsstätten Heinrich von Kleists im Osten und Fontanes im Westen bis zum nördlichen Rügen Ernst Moritz Arndts erstreckte und Heimat Fritz Reuters und Johann Heinrich Voßens gewesen war, und linker Hand lag Tucholskys Rheinsberg und zur Rechten Hans Falladas Knast, und Güstrow war nicht fern mit dem Barlach-Haus, und nach Neustrelitz fuhren sie nur hinein, um eine Runde um Engelbert Humperdincks letzte Wohnung zu drehen, und David dachte, Engelbert Humperdinck, mein Gott, wie mag das in baschkirischen Ohren klingen?

Neben seinen kulturgeographischen Anmerkungen über die Künstlerpersönlichkeiten des von ihnen durchmessenen Territoriums lieferte Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow seinem machorkaverzehrenden Fahrer auf russisch und dessen unerwünschtem Fahrgast auf deutsch Charakterbilder von Freunden und Genossen, die man zwar ungestraft Deutsche, aber keineswegs ungestraft deutsche Schweinehunde nennen durfte.

Von Johanna Müntzer fertigte er ein ausladendes Gemälde an, und es zeigte dieses eine Person von Herzensgüte, Prinzipienstärke, Gedankenmut und, was David verwirrte, humoristischer Sinnenfreude. Gedankenmut, das mochte sein, und Prinzipienstärke, das war gewiß, aber Herzensgüte, na, und humoristische Sinnenfreude gar – da kam David nicht mehr mit, und wenn er sich auch sagte, daß der russische Major vornehmlich um das Deutschenverständnis des baschkirischen Rauchers bemüht war, so hielt er soviel Schönmalerei nun doch für unerlaubt. Aber ausgerechnet an diesem Punkt schien Spiridonow bei seinem Fahrer durchzudringen; der nickte mehrmals beifällig, und zweimal stieß er mit dem Machorkanebel etwas aus, was sicher ein baschkirisches Gelächter war. Wenn das wirklich Johanna-Müntzer-Geschichten waren, die hier in zwei Sprachen zum besten gegeben wurden, so hatten sie zweifachen Effekt: Sie vermittelten dem jungen Mann am Steuer ein neues Deutschenbild und dem jungen Mann im Wagensitz hinter ihm ein völlig neues Bild der Johanna Müntzer; sie waren so farbig und saftig, daß ihr Erzähler, selber noch einmal von der Erinnerung begeistert, nach ihren Pointen mehrfach in den bewundernden Ruf ausbrach: »Fritze Andermann, ach, Fritze Andermann!«

Dann, als sie durch die Bruch-und-Sumpf-Landschaft der Müritz fuhren, kam Wassilij Wassiljewitsch auf einen anderen Deutschen, der ebenfalls nicht in die Kategorie Schweinehunde gehörte, wenngleich er einen katastrophalen Fehler zu haben schien; was für einen, war für David noch nicht zu erfahren, hörbar war nur, daß da etwas war, denn hörbar war an verschiedenen Stellen inmitten der Lobrede des Majors sein Stöhnen, gepreßt aus Wut und Qual, ein nun wieder unzweifelhaft fluchendes Stöhnen: »Ach, Fritze Andermann!«

Es handelte sich bei dem Deutschen, auf den der baschkirische Steuermann von seinem Vorgesetzten verwiesen wurde, offenbar um den Bürgermeister oder den Parteisekretär jenes Ortes, dem sich der Wagen näherte, und in diesem David, der immer noch nicht wußte, wo dieser Ort gelegen war, und auch nicht, was seiner dann dort harren mochte – es handelte sich vermutlich um einen deutschen Funktionär jener Stadt, deren sowjetischer Kommandant der Major Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow war. Nach den Worten Spiridonows war der erste deutsche Mann am Ort ein Kerl ohne Fehl, bis auf den einen, unbenannten. Ein Mensch mit Löwenmut und Bärenkraft und Fuchsesschläue. Einer von denen, die gekämpft hatten, an der Ruhr und im Zuchthaus Brandenburg, am Wedding und in Oranienburg. Der Sohn eines hessischen Kupferschmieds, ein Bergmann, ein KPD-Funktionär, ein Gestapo-Häftling, einer von jenen, die sich auf dem Transport, der aus dem Lager an der Havel auf das Todesschiff in der Ostsee führen sollte, von der SS befreit hatten, einer der hängengeblieben war in Mecklenburg, hängengeblieben an der Arbeit dort.

Als Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow seinem Fahrer von diesem Mann erzählte, erwachte in David leise das Gefühl, daß er seit langem mit Bedacht in den Schlaf getrieben, ja mit wütender Anstrengung fast erstickt hatte; der Gedanke regte sich wieder, den er gegen manch besseres Wissen und entgegen dem Widerspruch, der in der Erinnerung an seinen eigenen Vater steckte, für unerlaubt erklärt hatte, trotz des Umgangs mit Johanna Müntzer und Kutschen-Meyer und ihresgleichen, trotz der Begegnungen mit Xaver Frank und seinesgleichen, trotz der Lesearbeit und des Lesevergnügens von Marx und Engels bis zu Brecht und Becher hin; der Gedanke war wieder da, hier, in einem Wagen voll Machorkarauch, auf einer krummen Straße entlang am Plauer See, hier in der Gesellschaft eines Baschkiren und eines russischen Majors, der über der Blusentasche zwei Reihen Erinnerungszeichen an gewisse Begegnungen mit den anderen Groths und Meyers und Franks trug; ausgerechnet hier und jetzt rührte sich in David ein Gefühl, formte sich zu einem Gedanken und ging: Vielleicht läßt sich das doch noch machen in dieser Welt, vielleicht kommt man doch noch dahin, daß man seinen Namen nennen kann und den Namen seines Landes, ohne anderen ein Schrecken zu sein; vielleicht werden das einmal Worte sein, die nicht anders klingen, nicht besser und nicht schlechter als: Spiridonow und Irland, Baschkirow und Ungarn, Dubois und Schweden. Aber der Major ließ ihm nicht die Ruhe für seinen guten Traum; er überließ den Fahrer seinen bläulichen Genüssen und wandte sich an David allein: »Jetzt bring ich dir Kunde mein Freund, und sag dir von einer Not: Wir werden nun bald in Parchim sein; da bin ich Kommandant, und da ist Moltke geboren, und dort – ach, Fritze Andermann! –, dort hab ich einen Streit mit dem führenden deutschen Genossen, und was meinst du, worum es geht in diesem Streite? Um Moltke geht es. Dies ist die Lage: Die Stadt hat sich lange mit dem Namen Moltkes geschmückt; man kann es verstehen. Ein großer Platz trug ihn, ein großes Hotel, eine große Apotheke, eine lange Straße – nun ja: lang!, eine Straße jedenfalls, eine Brücke auch, ein Tor und ein Aussichtsplatz. Was soll man sagen; es ist überall so; in Leningrad heißt auch manches nach Kutusow – das ist normal.

Für mich ist das normal, aber was denkst du, mein frischer Gesell, für wen das nicht normal ist? Für Fritze Andermann ist es nicht normal! Zuerst noch hat er Moltke in Frieden gelassen; da ging es um Brot und Betten und Fensterscheiben, dann ist es um Arbeit gegangen und eine Ordnung und um die Spitzbuben und um neue Lehrer; da war er beschäftigt wie ein Biber, der Fritze Andermann. Er hat seine Kampagnen geführt, dieser Genosse: Kampagnen gegen schlechte Suppen und schlechte Gedanken – Kampagnen für ein neues Leben; du verstehst, mein guter Freund!

Aber dann hat er die Kampagne gegen Moltke eingeleitet, und seither haben wir unseren Krieg. Keine Moltke-Brücke mehr, kein Moltke-Tor, keine Moltkestraße, kurz: kein Moltke mehr.

Sogar das Denkmal wollte er entfernen, das Moltke-Denkmal am Friedensplatz, der früher – du wirst schon eine Ahnung haben, mein freundlicher Vetter – Moltke-Platz geheißen hat, achfritzeandermannnochmal!

Ich gebe zu, Genosse Andermann hatte gewisse Motive, die wie berechtigte Gründe ausgesehen haben: Er ist in diese Stadt gekommen und hat alles anders machen wollen und neu, und zuerst haben sie Angst vor ihm gehabt und haben gehorcht, aber wie das Leben wieder in Gang gekommen ist und manche Leute, die im Anfang gedacht haben, jetzt geht es ihnen an den Kragen, haben gemerkt, ihr Kragen ist noch ganz und ihr Hals noch da, sind da frech geworden, diese Schweinehunde, und haben dem Genossen Andermann zu verstehen gegeben: Was willst du denn, wo kommst du überhaupt her, scher dich doch in dein Hessen zurück oder in die Kohle, was weißt du schon, du Grubengaul, hier bist du nicht unter Tage, hier bist du in der Geburtsstadt Moltkes, hier ist die Moltke-Stadt, wir sind Moltke-Bürger, wir haben Moltke-Verstand, kurz: Sie haben einen Haß in ihm aufgezogen, einen Haß auf Moltke; es ist in seinem Kopf zu einer Identifizierung gekommen zwischen den Schweinehunden und dem Feldmarschall Moltke, und darum muß der Moltke weg. Auch das Denkmal – oi, Fritze Andermann!

Da bin ich eingeschritten; ich bin der Kommandant. Ich habe gesagt: Keinen Schritt näher an das Denkmal heran.

Du sollst nämlich erfahren, mein guter Junge du, ich habe das Denkmal im Auge. Es steht auf der einen Seite des Platzes, und gegenüber auf der anderen Seite ist meine Kommandantur. Dort stehe ich am Fenster und kann dem Marschall ins Auge sehen – ich konnte es, ich konnte ihm ins Auge sehen; jetzt sehe ich anderem ins Auge, und das ist …

Wenn ich denke, Moltke: der Generalfeldmarschall, der seinen Truppenführern die nötige Freiheit ließ, ihre Truppe zu führen. Der oberste Stabschef, von dem die Definition der Strategie als eines Systems von Aushilfen stammt.

Ei nun, mein Bester, zwischen uns soll ein offen Wort wohl gelten; da mag ich dir auch sagen: Natürlich habe ich so, wie der Genosse Andermann seinen persönlichen Grund gegen das Denkmal hat, meinen persönlichen Grund für dasselbe. Es ist nämlich keine Kleinigkeit, wenn du ein Bauernjunge gewesen bist in einem Dorf bei Rostow am Don und stehst dann am Fenster Moltke gegenüber:

Da ist vor vierzig Jahren ein Brief in den Weiler gekommen vom Herrn Rittmeister Hochwohlgeboren; der Vater kommt nicht wieder, heißt es, er ist gefallen, und die Weiber im Dorf jammern: Oijeh, er wird uns noch alle fressen, der Deutsche, der verfluchte. Dann holt dich selber der Zar, sollst ihm seinen Krieg führen, doch den Zaren, den jagst du zum Teufel, aber den Deutschen, den kriegst du nicht in die Hölle, den kriegst du nicht aus dem Land, der macht in Brest-Litowsk etwas, das er einen Frieden nennt, und du mußt ihn nehmen, diesen Frieden, und abends auf dem Stroh heißt es: Oi, der Deutsche ist schlau, der hat Generale, die sind schlauer noch als Rasputin. Dann wollen die Weißen dir ans Leben und du ihnen. Sie jagen dich, du jagst sie; bis nach Sibirien geht es, und einmal geht es besonders schwer: Jeder Tag kostet Blut, und du kriegst die Schufte nicht zu packen. Dann hörst du: Kein Wunder, Bruder, sie haben einen bei sich, einen Baron von der Ostsee, der ist beim Deutschen gewesen, hat Strategie studiert, oi, die deutsche Strategie! Dann hast du sie gekriegt, hast auch Strategie gehabt, gehst nach Hause mit dem Befehl: Du mußt Lehrer werden! Setz dich hin, Freundchen, lerne, dein Fach haben wir dir schon ausgesucht. Da studierst du, studierst Deutsch. Deutsche Sprache, deutsche Literatur, deutsche Geschichte. Na, du lernst, und du denkst: Was für ein Volk! Welche Dichter, welche Musik, was für Denker! – Was für Generale, denkst du nicht so oft, aber einige, oh! Dieser Clausewitz zum Beispiel oder dieser Moltke! Dann bist du Lehrer: deutsche Sprache, deutsche Literatur, deutsche Geschichte, sogar ein kleines Theaterzirkelchen hast du aufgebaut, schaffst es bis zu Kleist und Hebbel, kannst sogar deutsche Freunde zu Gast laden, eine Freundin heißt Johanna Müntzer, die hilft deinem besten Schüler, Wanja Kuleschow, noch, den Prinzen von Homburg einzustudieren, aber kurz vor der Premiere ist alles aus, da steht der andere Deutsche wieder im Lande, und du wirst nicht erfahren, ob Wanja sein offenes Grab gesehen hat wie der Prinz, den er spielen wollte, du erfährst nur, ein Grab hat er gefunden, irgendwo. Und du selbst lernst dich fürchten wie der Prinz; der Deutsche hetzt dich, alles um dich herum schlägt er in Stücke und kommt und kommt und kommt, und einmal hörst du dich denken: Kein Wunder, daß sie uns so treiben – Scharnhorst und Gneisenau und Clausewitz und dieser Moltke! Dann aber, eines Tages, nach langen, langen Tagen, drehst du dich herum, und jetzt kommst du; du kommst und kommst, und am Ende kommst du in eine kleine Stadt, von der hast du gewußt, aber nie hast du wissen können: Dort wird einmal Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow am Fenster stehen, als Major und Kommandant, und drüben, auf der anderen Seite des Platzes, wird er ein Denkmal sehen, das bronzene Abbild des preußischen Feldmarschalls und deutschen Generalstabschefs Graf Helmuth von Moltke …«

Wassilij Wassiljewitsch sann einen Augenblick seiner Geschichte nach und sah eben noch zufrieden aus, doch dann brüllte er so, daß sogar der Baschkire seine Prawda aus dem Munde nahm: »Und nun dieser Fritze Andermann!«

Den bekam David vorerst noch nicht zu Gesicht, und er wußte auch immer noch nicht, zu welchem Ende er in dieses Dreiecksverhältnis zwischen Spiridonow, Moltke und Fritze Andermann geraten war; zunächst wurde ihm nur geheißen, ein Stück Wurst zu verzehren und einen Schluck aus der Flasche zu nehmen, während der Wagen schon an einer schier endlosen Scheunenreihe vorbei in die Stadt einfuhr.

Schließlich hielten sie vor einem Backsteinbau; der Major umarmte David so heftig, wie er einige Stunden zuvor Johanna Müntzer umarmt hatte, und er flüsterte: »Bruder, steig hinauf dort und verhilf diesem Genossen dort oben zu besserem Verständnis des Generalfeldmarschalls Graf Helmuth von Moltke; sag, du kommst von mir, sag, du kommst von der Zeitung, sag, was du willst, aber sag ihm vor allem eines: Sag ihm, daß unser Moltke uns bleiben muß!«

Da kroch David, halb lahm vom langen Sitzen, halb erstickt durch baschkirische Leidenschaft, halb erdrückt von neuem Deutschenbild und neuem Russenbild, aus dem Kommandantenwagen, und als er die Stufen zum Rathaus hinaufstieg, stöhnte er leise: »Ach, Fritze Andermann!«

Der Aberwitz seiner Lage ließ ihm keine Wahl; er fragte sich zum Büro des Bürgermeisters durch, und immer wenn er umkehren wollte, fiel ihm ein, daß der baschkirische Fahrer gleich nach ihm aus dem Wagen geklettert war, auf der Rathaustreppe Platz genommen und so ausgesehen hatte, als warte er auf wen, eine dampfende Selbstgedrehte gefährlich im Mundwinkel und im Arm eine Konstruktion des Genossen Schpagin; Modell PPS-41, Kaliber 7,62, umschaltbar auf Einzel- oder Dauerfeuer, letzteres bis zu einundsiebzig Schuß.

Die Sekretärin des Bürgermeisters war ohnehin schon so, wie sie sein mußte, aber als sie Davids Begehr und Auftrag erfahren hatte, schien auch sie ein Geschöpf des Genossen Schpagin zu sein.

Doch David hielt ihren Garben stand – was blieb ihm anders? –, und einmal ging sie auch zu Fritz Andermann und kam auch einmal wieder von Fritz Andermann und deutete auf Stuhl und Tisch in der Ecke ihres Vorzimmers und legte einen Zettel auf den Tisch, darauf stand: »›Wo unsere Truppen erscheinen, ist die Ordnung hergestellt‹ – H. v. M. nach der blutigen Niederschlagung der Revolution am 17. XI. 1848.«

David sah die Sekretärin fragend an, und die gab eine Runde Dauerfeuer: »Sie sollen das beantworten der Bürgermeister hat keine Zeit sich mit Ihnen zu unterhalten er hat zu tun wie Sie sehen und wenn Ihnen was Positives zu dem verdammten Moltke einfällt sollen Sie es gefälligst auf einen Zettel schreiben Sie kriegen dann Antwort was ich überflüssig finde und ich frage mich ob Sie nichts Besseres zu tun haben der Bürgermeister hat jedenfalls zu tun und nun schreiben Sie schon endlich los!« – einundsiebzig Schuß.

So schrieb David, aus einundsiebzig Wunden blutend: »Aber M. war gegen die feudale Zersplitterung und für die nationale Einheit.« Die Sekretärin nahm diese Post mit, als sie den nächsten Besucher anmelden ging, einen wütenden alten Mann, der wie ein wütender alter Lehrer aussah, und den Gegenbescheid brachte sie, als sie einen finsteren Menschen mit Schlachterschürze zur Tür geleitete. »Ja, und das Rezept sah so aus: ›Es kommt darauf an, Deutschland durch Gewalt gegen Frankreich zu einigen‹ – M. im August 1866; und nach dem Krieg gegen Frankreich schrieb er, es sei Preußens geschichtlicher Auftrag, ›das ganze Deutschland zusammenzufassen und zu schützen, eine Aufgabe, zu deren Lösung der wichtigste Schritt eben jetzt gethan ist‹ – M., Militärische Korrespondenz. – Außerdem meine Meinung: Nationale Frage wichtig, Klassenfrage wichtiger! – F. A.«

Der Hund schreibt da was ab, dachte David, »gethan« mit h, und er gewahrte auch, daß er sich mit M.s Stellung in der Klassenfrage nicht auskannte; davon hatte nichts in jenen Büchern gestanden, die er gelesen, und überhaupt: Mit Klassenfragen hatte er sich erst in letzter Zeit befaßt, und M. war dabei nicht vorgekommen. Er versuchte, sich ein Bild von den gesellschaftlichen Verhältnissen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu bauen und seinen M. dareinzupassen, seine Divergenzen zur feudalen Kamarilla, den Streit mit Waldersee und den Platz im Norddeutschen Reichstag, und als die Sekretärin eine junge Frau mit Schwesternhaube zum Bürgermeister brachte, nahm sie Davids Behauptung mit: »Als Adliger hat sich M. mit der Bourgeoisie verbündet – das war damals fortschrittlich.«

Die Schwester legte im Hinausgehen des Bürgermeisters Erwiderung auf Davids Tisch. »Damals schon nicht mehr genug. – M. war ein Proletarierschlächter. Er hat zehntausend Kriegsgefangene auf die Pariser Commune losgelassen, und zur Zeit des Sozialistengesetzes empfahl er, gegen ›Tumultuanten in freier Straße Anreiten der Kavallerie und flache Hiebe, gegen Barricaden Schrapnells‹ einzusetzen.«

Mit M. und dem allgemeinen Fortschritt war es also nichts, das sah David; da wollte er es wenigstens mit M. und dem technischen Fortschritt versuchen; diese letzte Anstrengung glaubte er Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow schuldig zu sein, und so erreichten den Bürgermeister zusammen mit hilfesuchenden Rentnerinnen, protestierenden Kleingewerbetreibenden sowie einem Schornsteinfeger und einer Kinderdelegation, die eine zerbrochene Mandoline dabei hatte, die Nachrichten David Groths, M. habe sich um das Eisenbahnwesen und um das Telegrafenwesen verdient gemacht und auch um die Kartographie, doch ein hinkender Heimkehrer, ein polternder Förster und ein Pastor, der sich die Hände rieb, brachten die nun schon sehr sarkastisch gehaltenen Entgegnungen des Bürgermeisters Andermann: Durchaus, durchaus, eine moderne Nachrichtentechnik habe so einer schon gebraucht, der die Parole erfunden: »Getrennt marschieren und vereint schlagen«, verläßliche Geländemappen habe einer wohl haben müssen, wollte er Dänemark überfallen oder Österreich oder auch Frankreich, und daß ein Blitzkriegplaner mit der Eisenbahn etwas anzufangen gewußt, das sollte man nur glauben.

Diese Folgerungen ärgerten David um so mehr, als er sah: Auf die hätte er auch ganz gut selber kommen können, und als er bemerkte, daß ein Mensch, der unzweifelhaft ein Dichter war oder eine andere Art Künstler, außerordentlich lange beim Bürgermeister gesessen hatte, da gab ihm dies und die Verzweiflung eine letzte Botschaft ein, und die Sekretärin trug sie persönlich hinein und brachte die Antwort persönlich heraus, und dies war der Wortlaut des letzten Briefwechsels zwischen dem Assistenten der NBR-Herausgeberin und dem Bürgermeister der Moltke-Stadt:

David, hinein: »Und außerdem soll M. ein sehr begabter Schriftsteller gewesen sein!«

Fritz Andermann, heraus: »In der Tat, und ein Idealist dazu! Hier eine Probe aus den künstlerischen Briefen des Generalfeldmarschalls von M.: ›Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ist ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden der Menschen, Muth und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen.‹ – Mensch, gib’s auf!«

Da gab David es auf, und auf dem Weg vom Tisch bis zur Tür durchsiebte ihn die Sekretärin mit weiteren einundsiebzig Worten vom Kaliber 7,62 – Feuergeschwindigkeit etwa neunhundert Schuß pro Minute: »Wenn Sie vielleicht geglaubt haben Sie sind der erste der uns hier mit diesem Moltke kommt und Sie können das schaffen was die halbe Stadt und der Stadtkommandant oft und vergeblich versucht haben dann sind Sie jetzt hoffentlich belehrt und Ihrer Zeitung können Sie sagen wenn sie einen Artikel über Militarismus drucken wollen und brauchen fachlichen Rat dann sollen sie sich an uns wenden wir sind hier nämlich dafür gründlich präpariert!«

Der baschkirische Posten warf einen Blick auf Davids vergrämte Züge, drückte eine Kippe an der Trommel seiner Schpagin aus und seufzte wissend: »Fritze Andermann!«

Dann fuhr er David zur Kommandantur, und der Hausherr dort sprach zunächst nicht einmal so viel, wie sein Fahrer gesprochen hatte; als David ihm stumm die leeren Hände wies, winkte Wassilij Wassiljewitsch nur müde ab und zeigte dann zum Fenster hinüber.

David spähte durch die Scheiben – wenn er nun schon Moltke nicht hatte rehabilitieren können, so wollte er doch wenigstens das Abbild des widersprüchlichen Feldherrn zu Gesichte kriegen; aber zu Gesicht bekam er das überlebensgroße Abbild des Generalissimus Stalin. Und auch die Schrift darunter war von enormer Größe, die Schrift zum historischen Wort: »Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt!«

David hörte, wie der Major ein scharfes russisches Kommando gab und dann seufzend ans Fenster kam. Dort stand der Stadtkommandant und wies über den Platz auf seinen höchsten Vorgesetzten. »Da siehst du es, mein tapferer Kamerad, und nicht mehr siehst du Moltke dahinter. Das hat Fritze Andermann da hingestellt – oi, was für ein Stratege! Da kann ich gar nichts machen, das weiß er genau, oh, wie er das weiß! Nur herumgehn kann ich noch um das Transparent und den Marschall von hinten besehen, euren – und ein bißchen Taktik kann ich machen, gerade noch ein bißchen Taktik, und selbst die ist nicht ohne Risiko, weil … ach, Fritze Andermann!«

Dann legte er den Arm um Davids Schultern und wies mit dem anderen auf vier Soldaten, darunter den Baschkiren, die mit einem beschrifteten Tuch in den Händen über den Platz in Richtung Stalin-Moltke marschierten. Die Soldaten machten sich nagelnd und glättend zu Füßen ihres obersten Kriegsherrn zu schaffen, und als sie zurücktraten, ihr Werk zu betrachten, betrachteten auch Spiridonow und David das Werk und lasen: »Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt und dieser Moltke auch!«

Bevor Wassilij Wassiljewitsch seinen Gast nach Hause fahren ließ, diesmal von einem Soldaten, der Litauer war und, wie der Major versicherte, Nichtraucher, verzehrten sie ein halbes Schwein miteinander und tranken Erhebliches dazu, und es war schon Abend, als der Kommandant den Assistenten seiner alten Freundin Johanna Müntzer vor das Haus geleitete, und es war mitten im heftigen Abschied, als sich plötzlich von den vier Ecken des Platzes ein mächtiges Dröhnen erhob, ein Donnern und doch einer menschlichen Stimme noch ähnlich, und es erschreckte David sehr, aber Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und schrie ihm ins Ohr: »Es ist nur der Genosse Andermann. Er behauptet, es ist zur Aufklärung der Bevölkerung, aber ich weiß, für wen es ist. Er liest Moltke vor – die etwas fragwürdigen Stellen. Das macht er immer um diese Stunde.«

Dann schubste er David freundlich in den Wagen und winkte freundlich, trat zurück, ballte die Fäuste, holte Luft und schrie etwas, das kein Ende nehmen wollte, schrie so, daß es zu hören war trotz Motorgeräusch und vierfach dröhnender Moltke-Zitate, und David, obwohl nur mangelhaft mit Kenntnis russischer Sprache versehen, täuschte sich nicht: Hier war von Fritze Andermann nicht die Rede, dies war Soldatenrede, dies war geballte Kriegsfolklore, dies waren Schlachtrufe, Schreie in sibirischen Sturm, Brüllen im Wolchowschlamm, dies war Markigstes vom Kosakenadel, ukrainische Lautmalerei, Urworte baschkirisch, hier donnerte Mütterchen Rußlands zornigster Sohn Verwünschungen, die niemanden ausnahmen, den Vater nicht, den Enkel nicht, den Oheim nicht und nicht einmal das Mütterchen und auch nicht, wenn David seinen Ohren da trauen durfte, den Stabschef und Generalfeldmarschall Graf Helmuth von Moltke.

Fort ging die Fahrt, fort in den dunklen und bald auch sehr stillen Abend von Mecklenburg; fort trug es David, zurück in die Neue Berliner Rundschau, zurück zu Johanna Müntzer; vorwärts trug es ihn durch die Zeit, aber die Schlacht um den Grafen von Moltke vergaß er nicht, und das Fluchen des Majors Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow konnte er nicht vergessen, denn das, so hätte er geschworen, das hielt noch immer an.

Und Fritze Andermann? – Nun, wie konnte er den vergessen – er sah ihn ja häufig und hatte ihn doch eben noch gesehen. Und hätte ihn je der fremdartige Wunsch befallen, den Minister Andermann im Bilde zu betrachten, dem wäre das Archiv der Abteilung Gabelbach gewachsen gewesen. Minister hatten die da, jede Menge Minister und auch jede Menge Minister Andermann.

Allein, jede Menge hieß noch nicht: alles. Ein Andermann-Bild gab es nur in einer Ausfertigung, und die lag in Davids Wohnung, in der Kassette, zu der David einen Schlüssel hatte und niemand sonst. Nicht einmal Franziska, und nicht einmal ihr zeigte er das Foto, obwohl es von ihr gemacht worden war und obwohl es mit ihr sehr zu tun hatte, mit ihr und David, mit ihr und David und Klein-David, mit der Familie Groth und der Liebe zwischen David und Franziska, Fran genannt. Unter technischen Gesichtspunkten taugte das Bild nicht viel; es war ein Mann darauf zu sehen, bedrängt von anderen Männern, gegen einen Pfeiler gedrückt im Regen, ein Mann, der was war: entsetzt, erschrocken, wütend, verzweifelt, erstaunt, ungläubig, voll Haß und am Ende?

Das Bild half nicht weiter; von der Kleidung der Männer war kaum etwas zu erkennen, es konnten Leute von irgendwo sein, der Pfeiler konnte irgendein großes Gebäude stützen, und die Stunde konnte die Stunde irgendeines Tages voll Regen sein.

Und unter moralischen Gesichtspunkten taugte das Bild für keine Öffentlichkeit, nicht einmal für die an Gabelbachs Wand; es war nicht vorzeigbar, mußte Verschlußsache sein und blieb es auch in Davids Kassette.

Manchmal hatte David gedacht, er sollte es zerreißen, und einmal hatte er gemeint, er sollte es Fritz Andermann geben, aber er hatte es weder vernichtet noch fortgegeben; er hatte es für sich behalten, weil er es brauchte, für sich.

David neigte nicht sehr zu Fetisch und Symbol, aber ein Rest solcher Neigung war, wie in jedem Menschen, auch in ihm, und es wäre ihm nur als eine andere Art, ein deutlicheres Zeichen noch von Fetischismus erschienen, hätte er dem bohrenden Wunsch nachgegeben und das Bild vernichtet.

Er war dabeigewesen, als es aufgenommen worden war; er hatte neben Fran gestanden und hatte ihr, so gut es gegangen war in der Menge, für einen Augenblick den Raum verschafft, den sie gebraucht für dieses Stück ihrer Arbeit.

Mehr noch: Er hatte Franziska zugerufen: »Nimm den da auf!«, denn für ihn allein war der da mehr gewesen als ein hart bedrängter Mann, der am Ende schien und sich nicht geschlagen geben wollte. Der da hatte gerufen, hatte geantwortet auf die böse Frage, die anderes wollte als einen Namen, die einen Grund wollte, sich wandeln zu können aus einer Frage in eine Aufforderung, die einen Anlaß wollte, sich aus der Erkundigung: Wer bist denn du? in mörderisches Brüllen zu verkehren – der Mann am Pfeiler hatte Antwort gegeben und mit ihr gezeigt: Er hatte verstanden; hier ging es nicht nur um einen Namen, um den Namen ging es zuletzt, aber er nannte seinen und rief: »Ich heiße Fritz Andermann, und ich bin einer von denen, die ihr hängen wollt – ihr seid nicht die ersten.«

Das gab ihm einen Splitter Zeit, verschaffte ihm Rederaum für die Worte: »Nicht mit euch, mit den anderen will ich sprechen – hört zu, Kollegen …« Dann war die Chance vertan, war gar keine gewesen, denn hier hatte nicht die Oberhand, wer hören und reden wollte, hier hatte das Brüllen sein Sagen, hier schrie der Irrsinn, und der Irrtum schrie mit, und der Haß sah hier seine Gelegenheit und schrie, schrie: »Hängt sie auf, schlagt ihn tot, stopft ihm das Maul, dem Hund!«

Da stand Fritz Andermann gegen den Pfeiler gedrückt im Juniregen und wartete, und was dachte er da?

Was dachte er da? hatte sich David später oft gefragt; später, nicht an diesem finsteren Junitag, nicht hier in der Menge neben Franziska, die ihre Arbeit tat, nicht in der Menge, jetzt schon zwei Meter fort von Franziska, zwei Meter näher zu dem Mann am Pfeiler, zwei Meter durch ein Verhau aus Zimmermannsrippen, Poliersellenbogen, Handlangermuskeln, Schultern vom Bau und Bäuchen, die nicht auf dem Bau gewachsen waren, zwei Meter heran an Fritz Andermann.

Das war fast alles, was er später noch wußte: das wilde Würgen zum Pfeiler hin, den Ruf eben noch: »Nimm den da auf!«, und den Gedanken davor: Das ist er, das ist Fritze Andermann! »Laßt ihn los, ihr Hunde. Ich komm schon, Fritze!«

Mehr fand sich kaum im Gedächtnis, nur der Regen noch und die Furcht, jetzt erdrückt zu werden, schon zwei Meter fort von Franziska und noch zwei Meter fort von Fritz Andermann, nur die Erinnerung an eine Bewegung, die den Mann vom Pfeiler schwemmte oder zog oder stieß, aus den Augen jedenfalls und vielleicht auch aus dem Tod, die sichere Erinnerung aber, daß diese Bewegung, die eine schützende schien, auch in Zimmermannskord und Maurerdrillich gekleidet gewesen – das war alles, was sich im Gedächtnis fand. Keine Antwort auf die Frage: Was wolltest du, was hast du dir gedacht, welcher Vorsatz hat dich die ungeheure Strecke von zwei Metern durch diese Menge getrieben, hast du Angst gehabt, wolltest du mutig sein, bist du verrückt gewesen, was, glaubst du, hättest du getan, wärest du bis zu dem Pfeiler gekommen?

Keine Antwort.

Später bot sich die Versuchung an, sich bedeutend zu denken in diesen Minuten, als einen Mutskerl gegen versuchten Mord, als einen Bewußtseinshelden im Augenblick der bösesten Unvernunft, als Entsatzmann für den bedrängten Genossen – aber hier widerstand David, so gern er sich auch mit heroischem Zierat hätte versehen lassen. Er wußte zu genau, daß er vom Vorsatz frei gewesen war, daß ihn etwas getrieben hatte, und allenfalls ließ er gelten, daß er sich in die richtige Richtung hatte treiben lassen.

Damit beschied er sich, tat es nicht ohne Mühe, aber beschied sich und war auch so ganz zufrieden, weil er wußte, wie viele andere sich auch nur hatten treiben lassen, aber nicht in die richtige Richtung.

Genug davon, genug von David, aber nicht genug von Fritze Andermann. Über den durfte man nachdenken, mußte man nachdenken; dessen Bild durfte man, mußte man betrachten, durfte dies Gesicht ansehen und mußte fragen: Was dachtest du in diesem Augenblick?

Im Laufe der Jahre kam David freilich dahinter, daß es ihm doch vornehmlich um sich selbst gegangen war, um Antworten für David Groth und weniger um Antworten von Fritz Andermann.

Er war schließlich sogar überzeugt, daß die Auskunft, die er hier bekam, zu jenen zählte, an die er sich ein Leben lang halten würde.

Er glaubte nicht, zuverlässige Übersicht über sich selbst zu haben, aber er wußte von Momenten, von denen her er um einiges mehr mit der Welt vertraut geworden war. Es waren Umschlagspunkte vom bloßen Tun hinüber zum Begriff gewesen, Übergänge aus der Erfahrung ins Bewußtsein, Schaltungen vom Erlebnis zu einer Regel.

So dankte er dem Nachdenken über jenen Fritz Andermann, den etwas Furchtbares gegen einen Pfeiler gepreßt hielt, etwas, das aussah wie seinesgleichen und seinesgleichen auch war – so dankte David dem Versuch, sich in Fritz Andermann hineinzudenken, ein Quant Gerechtigkeit, dessen er wohl bedurfte in seiner Zeit, bei seinem Leben, zu seiner Arbeit.

Da gab es genug Gelegenheit, von Härte zu sprechen, Starrsinn, Mißtrauen, Strenge des Urteils, Enge der Sicht, und es half, die Klage zu dämpfen, sah man die Dinge mit den Augen jenes Fritz Andermann am Pfeiler dort.

Mach dir das klar, David Groth, zwing es dir in den Kopf: So einen wie den hat die Überzeugung in der Spur gehalten: Der Beginn der Freiheit für seinesgleichen wird auch das Ende der Dummheit von seinesgleichen sein, jener entsetzlichen Dummheit, die demütig machte und fromm und dienstwillig und gläubig und auch mordbereit. Der hat alles ertragen, weil er zu wissen meinte: Wenn die, für die ich es ertrage, erst einmal begriffen haben, wird niemand mehr so etwas ertragen müssen.

Er hat sich nie als das Opfer eines schlimmen Wunders gefühlt; was ihm geschah, war erklärbar, und deshalb war es möglich, es von einmal an nie mehr geschehen zu lassen.

Er hat nur jenen Fehler begangen, in den die Klugen und Mutigen und Gerechten allzuoft verfallen: Er hat zu sehr auf Klugheit und Mut und Gerechtigkeit gesetzt und gemeint, hätten die nur ihre Chance, so wäre das gleich auch ihre Stunde und ihre Herrschaft für immerdar.

Das hat er wirklich gemeint, trotz aller Erfahrung, trotz der Jahre unter Tage, in denen er hatte erleben können, daß es auf ein und dieselbe Art Hundeleben mehrere Antworten gab, nicht nur die rote, auch eine rosa Antwort, auch eine braune, schwarze, weiße und gelbe.

Er hat es gemeint, obwohl er sah, wer in den Reihen der anderen marschierte, von der Ruhr bis zum Wedding, durch das Brandenburger Tor in der Januarnacht und auf das Marsfeld von Nürnberg, unter Waffen hinaus in alle Himmelsrichtungen und unter Waffen auch am Zaun entlang von Oranienburg.

Fritz Andermann hat das alles gesehen, voll Trauer und Zorn, aber er hat weiter gesehen: auf den Tag der Änderung.

Der kommt und die kommt, hat er gesagt, und als sie dann kamen, die Tage der Freiheit und die Taten zur großen Änderung, da hat er die Geschwindigkeit überschätzt, mit der neue Möglichkeit zu neuer Wirklichkeit wird, und dem guten Willen hat er zuviel zugetraut, zuviel an Maß und zuviel an Kraft, und ausgerechnet er, den die Niedertracht ein Leben lang gewürgt hatte, ausgerechnet er hat nicht gesehen, wie wenig noch die Niedertracht geschlagen war.

O die Fehler der Gerechten: keine Schonung, weil sie sich selber nicht schonen; Ungeduld, da Eile not tut; die eine Richtung des Blicks auf das einzig Richtige; nur langsam weichende Blindheit, die von jäher Erleuchtung kommt; der Ton, der nur den Gleichgesinnten erreicht; manchmal auch aller Verzicht auf alle Erklärung, weil doch alles klar ist; und dieser falsche Schluß der Tugend: Da ich mich nicht bereichern will, da ich nicht lüge, da ich nicht feige war, da ich Entbehrungen trug, da ich mich nicht verführen ließ, da ich mich richtig verhielt in schwerer Zeit – wie sollten Habsucht und Feigheit und Dummheit jetzt noch zum Zuge kommen, jetzt, wo die Zeiten beginnen, leichter zu werden?

Aber dann steht so einer an einem Tag im Juni mit dem Rücken an einen Pfeiler gedrückt und sieht: Er ist ein Träumer gewesen; er hat die hinter sich geglaubt, um sich, die jetzt vor ihm stehen, gegen ihn drängen und ihm ans Leben wollen; vielleicht weniger wollen als sollen, aber das macht im Augenblick keinen Unterschied – er hat seine Erfahrung mit solchen, die auch weniger wollten als sollten: Sie haben ihn niedergeschrien, weil sie sollten, sie haben ihn gejagt, weil sie sollten, sie haben ihn geschlagen, weil sie sollten, sie hätten ihn umgebracht, wenn es gegangen wäre, und gesagt hätten sie hernach: Wir haben das nicht gewollt, wir haben es gesollt, wir haben es gemußt, wir haben es nicht anders gewußt.

Das hatte Fritz Andermann inzwischen oft genug gehört, aber zu oft hatte er inzwischen geglaubt, nun, da sie es besser wüßten, könnten sie nie mehr in solche Lage kommen.

Aber da waren sie wieder, da war die Lage wieder, da war Fritz Andermann hier und sie wieder dort, acht Jahre, nachdem er wieder zu ihnen gestoßen war, nach acht Jahren, von denen er gemeint hatte, weil sie so anders waren als alle davor, müßten in ihnen auch die Menschen ganz anders geworden sein, als sie es vorher gewesen waren.

Für einige traf das zu; das erfuhr Fritz Andermann noch zu seinem doppelten Glück: Die rissen ihn aus der Klammer zwischen Pfeiler und gelenkter Wut; so behielt er sein Leben, und so behielt er die Hoffnung.

Aber die Hoffnung sollte es lange schwer haben gegen die Erfahrung dieses Junitages. Die Enttäuschung machte auf Jahre die Augen schmal, machte die Sinne überscharf, machte die Fäuste hart, schmälerte das Vertrauen; die Erinnerung hämmerte: Achtung, Fritz Andermann, aufpassen, Obacht geben, wachsam bleiben, nicht leichtgläubig werden, Übermut tut selten gut, Voreile wird bestraft, nur keine Vertrauensseligkeit, nur kein fauler Liberalismus, nur keine Romantik, der Kampf ist nicht zu Ende, wir sind noch nicht soweit, dieses können wir uns noch nicht erlauben, jenes dürfen wir noch nicht gestatten, der Schein kann trügen, noch einmal hinsehen, noch einmal überprüfen, noch etwas abwarten, den Vorwurf der Enge nicht fürchten, wenn das heißt: dem Feind keinen Fußbreit Boden und jenem Junitag nie wieder eine Chance.

Auch kamen andere Tage hinzu; ein Tag zum Beispiel, an dem ein ungarischer Fritz Andermann von seinem Pfeiler nicht mehr fortkam; und die Zeit kam, in der die Berichte vom bittersten Irrtum, von äußerster Täuschung, von fürchterlichstem Tod in die Welt gingen der Sache wegen, die nur in der Wahrheit leben kann, und doch und gerade darum auf die Sache zurückgeschleudert wurden als hämisches Echo: Also war alles Lüge, alles, alles, alles!

Doch von so kommenden Dingen ahnten weder Fritz Andermann noch David Groth etwas in jenen Stunden der Junimitte von dreiundfünfzig; an diesem Tag hielten sie diesen Tag für das grimmigste aller Schrecknisse – auf Franziskas Bild, das Fritz Andermann am Pfeiler zeigte, war es zu sehen, und in Davids Gedächtnis war es aufbewahrt, aber auch eine andere Erinnerung an den nämlichen Tag, und die eine verhielt sich zu der anderen so wie das Feuer zum Schnee, und waren für David, wenn ein und dasselbe Kalenderblatt ihn an beide erinnerte, in ihrer Gemeinsamkeit immer noch nicht ganz zu fassen.

Denn der Tag war ausgegangen in doppeltem Ausnahmezustand. Von dem einen stand auf nassen Plakaten geschrieben; in dem anderen sprachen zwei: Ich liebe dich. Der eine hackte Kettenspuren in die Straßen der Stadt; der andere war zweien ein dauernder Grund, einander nun nicht mehr aus den Augen zu lassen.

Franziska und David hatten sich wiedergefunden, als Andermann vom Pfeiler verschwunden war; David war zurückgeschwommen durch das zwei Meter breite Meer, die Angst hatte ihn getrieben, er könnte ein leeres Ufer finden und nur noch die Spuren von verlorenem Kampf, eine zerbrochene Kamera vielleicht.

Aber die Kamera war noch ganz, und auch das Mädchen war noch heil, und wie es sich zu helfen wußte, das durfte David gleich noch einmal erfahren.

Er kam gerade zurecht, als wieder einer Franziskas Arm hielt, wieder einer, der wohl wußte, warum er hier keine Bilder wollte, doch ehe sich David mit diesem Menschen befassen konnte, hatte Fran das Problem weit gründlicher gelöst.

Sie sagte halblaut zu dem Bilderscheuen: »Wenn du nicht gleich verschwunden bist, schrei ich, du hast die Enge hier ausgenutzt und wohin gegriffen, wohin du dich sonst bei anderen nicht traust.« Das half weit besser, als ein verrückter David hätte helfen können; das gab dem Menschen Flügel.

Und dann geriet auch alles andere in Bewegung; die Gewalt bekam ihre Antwort, und die hieß auch Gewalt, Befehle nahmen sich der Schreie an, hier hatte es schon zu lange »Hängt ihn auf!« gebrüllt, hier hieß es jetzt: »Schert euch nach Hause!«

Nach Hause ging es die Wilhelmstraße hinunter, am Tiergarten entlang und vorbei an der zerborstenen Reichskanzlei, von der man einen Durchblick hatte hinüber zum Schloß Bellevue, dorthin, wo man an diesem Tag seit Stunden und bis eben noch ein letztes Mal hatte haben können, was der Name des Hauses versprach: eine schöne Aussicht nach Osten hin – nach Hause ging es die Linden ostwärts bis zur Littenstraße, nach Hause inmitten verstörter Menschen, die um so lauter schimpften, um so weniger sie verstanden hatten, was ihnen geschehen war und was sie hatten geschehen lassen – nach Hause an einem Fahnenrest auf dem Pariser Platz vorüber, an einem Auto vorbei, das kopflings vor der Oper lag, vorbei an gepanzerten Wagen, vorbei an einem Laternenmann, der tief betrunken »O Deutschland hoch in Ehren« sang – im Regen nach Hause, Dieselbrummen im Ohr und immer noch Hysterie, heraus aus dem Hauptstrom auf der Liebknechtstraße, ja, Liebknechtstraße, hinein in die Littenstraße (»Litten, Hans, bürg. Rechtsanwalt, ermordet 4. II. 38 in Dachau«) und hinüber zum Hackeschen Markt und von dort dann nach Hause. Nach Hause? Wo ist das in diesem Falle? Was ist jetzt gemeint? Nach Davids Hause? Nach Franziskas Hause? Zum möblierten Zimmer bei Frau Wunder also oder zum möblierten Zimmer bei Tatjana Gideon, Gesangspädagogin?

Kommt beides nicht in Frage, und überhaupt kommt nach Hause nicht in Frage. In Frage kommt jetzt nur: an die Arbeit oder wenigstens an die Arbeitsstelle. Fran ist freiberuflich, die hat viele und jetzt keine; aber David hat eine, seit acht Jahren schon, und die heißt Neue Berliner Rundschau – auf zur NBR, und Fran kommt mit. Als sie über die hölzerne Brücke hinter dem Dom gekommen waren, hätten sie eigentlich nach links gemußt, schräg über den Lustgarten in Richtung NBR, aber sie gingen geradeaus, an der Nationalgalerie vorbei, und redeten einander zu, so werde es sich leichter gehen, seitab von den bewachten Straßen, und diese Rede galt auch noch für das kurze Stück von der zweiten Brücke bis zur Zetkinstraße; dort hinunter am bronzenen Hegel vorbei, das hätte nun nahegelegen, aber sie gingen den Kupfergraben weiter an der Spreereling entlang, und wohin die sie führen würde, das wußten sie beide, sagten es aber beide nicht.

Dann war da der Baum, komisches Erinnerungsmal an die Werferin Franziska, gräßliches Erinnerungsmal an den Währungsverbringer David, Schlußpunkt hinter der David-und-Fran-Geschichte erstem Teil, und was nun? Und was bist du nun, Baum?

David äugte in die junigrüne, juninasse Krone und gab eine große Schau von einem, der ernsthaft durch Blätter, Zweige und Äste späht, und sagte schließlich gepreßt, als wäre ihm vom vielen Sehen der Atem vergangen: »Er ist nicht mehr da.«

Da fragte Fran behutsam, wie eine Hexe behutsam: »Wer ist nicht mehr da?«

Was konnte David anderes, als Antwort zu geben, unschuldig Auskunft: »Der Ring ist nicht mehr da.«

Noch ein Stück hielt es Franziska durch. »Der Ring? – Ach ja, der Ring. Ja, der ist nicht mehr da.«

»Versteh ich das recht«, sagte David, »versteh ich: Du warst schon mal hier?«

»Ja, war ich«, sagte Fran, »du wohl nicht?«

»Doch«, sagte David, »ich war auch, aber bestimmt nicht öfter als siebenhundertmal!«

Dann sah er sie an, und sie sah ihn an, und für drei Sekunden vielleicht blieben ihre Gesichter noch blank, aber dann rührte es sich im Spreebaum über ihnen, das Gelächter rührte sich, das noch immer dort oben hockte, rührte sich und hielt sich nun schadlos für ein Jahr stummer Geduld, rührte sich und röhrte über das Wasser der Spree so sehr, daß niemand, der in der Nähe war, anders als einzustimmen vermochte.

In der Nähe waren nur David und Fran; da dauerte es lange, bis sie einander aus den Armen kamen, und aus den Augen kamen sie einander nun nicht mehr und redeten doch, als wär’s ihre letzte Gelegenheit.

Zuerst redeten sie sich einmal zurück in die Welt, versuchten sich zu erklären, wie dies möglich war: so ein würgender Tag und so ein freies Gelächter; ob es statthaft sei: dies und das andere zugleich; fragten einander nach den langen Wegen allein und fragten sich hinein in diesen Tag; kamen immer wieder nicht zurecht mit dem Synchronlauf von Unglück und Glück; erinnerten einer den andern an das, was außer ihnen war, und versprachen eines dem andern, was alles nun kommen würde.

Dann nahm sie die Neue Berliner Rundschau auf.

Der Genosse Schäfers war am Tor, und allein der Ausnahmezustand war es, so sagte er, der ihn bewog, Franziska ohne Formalien einzulassen, ausnahmsweise.

Der Botenmeister Ratt war auch am Tor; er hatte sich seinen goldenen Sessel unter den Hausbogen gerückt, und man sah: Hier saß ein Wächter vor den Mauern von Troja.

Kutschen-Meyer kam über den Hof und rief schon von ferne: »Gabelbach hamse die Fresse poliert!«

Dann begrüßte er Fran sehr betulich und erzählte mit wunderlichem Behagen: »Wir sind hier raus bei dem Radau, und erst hat er am Rand gestanden und mehr so Panoramagemälde gemacht, bis ich zu ihm sage: ›Näher heran müssen Sie klotzen, Kollege Gabelbach, sonst wird es nichts.‹ Kannst dir denken, was er mir an den Kopf gefeuert hat, von den ollen Korrespondenten Ortgies war auch was bei. Als er sich ausgemeckert hatte, ging er ans Geschäft, fuhr wie so ein Schwabe unter die Türken, und dies war ja nun was für seinen Ordnungsfimmel! Der schimpft doch die Leute an, nicht wegen ihre stinkigen Parolen, sondern weil sie hier so ein Durcheinander machen! Zu dem einen hat er was von Chaos und Wirrwarr gesagt und auch sein schönes Wort Olla podrida, wat mir schon immer gut gefallen hat. Aber dem, dem er das gesagt hat, dem hat das gar nicht gefallen; der hat wohl gedacht, das ist eine ganz abgefeimte Berliner Igelei, die er noch nicht kennt, Olla Pottschieta oder diese Preislage. Der is nu auf Fedorn los, und ehe ich Nanu zu Ende gedacht hatte, machte der schon mit in einem Handgemenge, wie Erich in der Hasenheide früher, wie ’n richtiger Intelligenzler jedenfalls, und auch so ungeschickt. Die Entwicklung war absehbar; da habe ich lieber meinen Doppelnelson angesetzt und ihn abgeführt, den Kollegen Gabelbach. Mann, das Theater sonst mit Johanna! Die sitzt so schon da und liest Fedorn die Leviten: wegen Menschenwürde und Praktizismus!«

David paßte da Johanna Müntzer sehr gut in die Rede; sie ließ von Gabelbach ab, der in der Tat ein bißchen unscharf aussah, aber immerhin noch erlaubte, daß Fran ihre Bilder in seinem Labor entwickle, ehe er sich pflegen ging, dann kam es auf David und kam aus dem vollen:

Abenteurertum, ja, das war es, was man jetzt hier am besten gebrauchen konnte. Hereinfallen auf die erstbeste Provokation, das hätte sie sich sagen müssen, das mußte ihr Assistent ja bei erstbester Gelegenheit. Vergißt seine Arbeit, weil ein Geschrei ist in der Stadt, zieht mit den Haufen herum, anstatt unters Gewehr zu rücken. Unters Gewehr, jawohl – sie lehnte solche Dinge ab, aber wenn es sein muß, lehnt sie sie nicht ab, und außerdem hat sie es bildlich gemeint, hat Büchsenmachersprache gesprochen zu einem Büchsenmacher, einem Ratzeburger, aus dem sie einmal einen Menschen machen gewollt. Die Banditen sind los, und sie fragt sich, wo ist ihr kleiner David – ach was, kleiner David, sie fragt sich, wo ihr Assistent ist, damit er ihr jetzt hier assistiert, aber der Büchsenmacher ist nicht da, hat keine Disziplin, hält Rundschau sonstwo und kommt nicht zur Rundschau und hat wohl den Genossen Grotewohl nicht verstanden gestern abend im Friedrichstadt-Palast, denn der Genosse Grotewohl hat gesagt: Geht an die Arbeit, Genossen! und hat nicht gesagt: Fallt unter die Räuber, Genossen! Aber natürlich, David Groth, der hat wieder Pulver gerochen, sein geliebtes Büchsenmacher- und Kanonendreher-Pulver, und so muß der parteilose Mensch Gabelbach allein hinaus an die Arbeit, nur notdürftig beschützt vom alten Genossen Meyer, und selbstverständlich, das erste, was dem unersetzlichen Leiter der Bildabteilung passiert, ist: Sie polieren ihm da draußen die Fresse!

Nach diesen Worten brachte sich Penthesilea zu scharfem Halt; hier war ihr ein Ausdruck entlaufen, und sie saß jetzt stille da und sah ihm bekümmert nach.

»Nein«, sagte sie endlich, »es ist nicht menschlich, was heute geschieht, da müssen wir sehr auf uns achtgeben. Wir wollen gleich einmal anfangen damit, David; das beste ist, du sagst jetzt gar nichts hier, du bedenkst für dich, was ich eben in bester Absicht zu dir gesprochen habe – nicht alles brauchst du zu bedenken, du weißt schon, was nicht –, und später sprechen wir es in Ruhe durch, denn jetzt haben wir die Ruhe hier nicht; du hast sie schon gar nicht, ich kann es verstehen, und ich bin auch sehr froh, daß du dies Mädchen wiedergefunden hast, ich habe mir schon damals gedacht: Das ist doch nun einmal ein schöner und auch noch ein guter Mensch!«

»Ja?« sagte David. »Das habe ich noch gar nicht so gesehen, da will ich gleich mal nachsehen gehen.« Aber dann, er war schon halb aus der Tür, erkannte er doch die alte Schlachtenlenkerin wieder. »In einer Stunde ist Vollversammlung im Haus, und komm mir nicht ohne Konzeption; wir wollen es denen einmal zeigen, David!«

Er mußte einige Minuten vor der Labortür warten, ehe Fran ihn einließ. Sie hatte Gabelbachs langen Kittel angezogen und sah darin etwas verkleidet aus, aber doch sehr professionell. Sie sprach auch sehr professionell und hielt sich David vom Leibe. »Vorsicht, gewöhn deine Augen erst an das Rotlicht, sonst feuerst du noch die Schalen vom Tisch. Die Entwicklertanks sind wunderbar; so was hätte ich auch gern zu Hause.«

»Ich weiß nicht«, sagte David, »die Chemie hier, die riecht so – ich finde, die wirkt irgendwie sinnlich, findest du nicht?«

»Da hätte ich aber ein aufreibendes Leben«, sagte Fran, »und wieso: Bist du zum erstenmal hier im Labor?«

»Nee, aber sonst war da Fedor Gabelbach in dem Kittel; da kam die Chemie wohl nicht so zum Zuge. Gottes willen! – Aber jetzt kommt sie sehr zum Zuge. Je mehr ich in mich hineinhorche, um so mehr muß ich feststellen, daß sie ganz besonders sehr zum Zuge kommt. Glaubst nicht?«

»Ja, ja! – Halte Abstand, es ist hier so schon warm genug.«

»Es muß an der Chemie liegen«, sagte David, »sag mal: Springst du immer so rum, wenn du in einem Labor bist?«

»Wie springe ich rum?«

»So ohne was an unterm Kittel?«

»Ich hab was an unterm Kittel.«

»Wetten?«

»Bist du verrückt? Wenn Gabelbach kommt!«

»Kann er ja nicht. Er hat doch das elektrische Zeichen selbst anmontiert: ›Kein Eintritt jetzt! Phototechnische Arbeiten!‹ Das ist ja nun auch eingeschaltet, nicht? Da hat er ja selbst für gesorgt, daß das respektiert wird, nicht? Und denn ist hier ja auch noch ’n Riegel, nicht?«

»Du bist völlig meschugge«, sagte Fran, und dann sagte sie, als brächte es ihr ganzes Leben auf die Summe: »Und ich bin auch völlig meschugge.«

»Das ist schön«, murmelte David und murmelte noch: »Es könnte natürlich auch an dem Rotlicht liegen.«

Ungefähr nach elf Lichtjahren, ungefähr nach einer Millisekunde, ungefähr in Höhe des hellsten Kassiopeia-Sterns, ungefähr im Auslauf vom Holmenkollen, ungefähr als Magalhães wieder nach Hause kam, ungefähr als Otto Hahn Lise Meitner so groß zunickte, ungefähr mit Berthold Schwarzens erstem Knall, ungefähr am achten Mai, vierten Juli, vierzehnten Juli, ungefähr am ersten Schultag, ungefähr am letzten Schultag, ungefähr an den Nilquellen, ungefähr über Paris im Cockpit der »Spirit of St. Louis«, ungefähr dort und dann sagte Franziska Grewe zu David Groth: »Jetzt müssen die Filme aus dem Entwickler.«

So sagte David: »Da müssen eben die Filme aus dem Entwickler, wir wollen es jetzt hier gleich einmal zeigen, Franziska!«

Der Penthesilea-Tonfall erinnerte ihn an Penthesilea und an die Vollversammlung und an die Konzeption und an den Tag da draußen und an den nassen Pfeiler und an den Mann davor und an den anderen Ausnahmezustand, und er sagte: »Wenn du wüßtest, was du mit mir fertigkriegst, Mädchen – hoffentlich kommst du nie drauf. Zeig mal die Bilder vom Leipziger Platz.«

Fran ließ das hingehen und suchte zwei Filme heraus. Er fand die Aufnahmen. »Kannst du die hier gleich mal abziehen?«

Sie machte sich an die Arbeit. »Da hinter der Tür ist ein Spiegel und dergleichen. Du siehst etwas unordentlich aus.«

Als er wiederkam, gekämmt und zugeknöpft, sagte er: »Du auch.«

Sie ging, und er fischte sich einen der Abzüge aus der Schale, besah ihn genau und erschrak. Er spannte das Bild auf die Trockenplatte, fand in Gabelbachs Regalen ein Kuvert, legte das Foto hinein, und als Fran zurückkam, fast zu ordentlich angezogen jetzt und fast zu schön wieder, sagte David: »Die Nummer vierundzwanzig von dem Film hier, die laß bitte künftig aus. Ich möchte nie so aussehen wie Fritz Andermann da; ich möchte nie so aussehn müssen, und dabei ist er viel stärker als wir alle.«

Fran nickte, und David ging zur Tür. »Wir haben Versammlung. Bleibst du hier?«

»Ja, ich arbeite, bis man mich rauswirft. So ein Labor müßte man haben. Hier kann man sich wenigstens bewegen.«

»Ja, das kann man«, sagte David.

»Aber ein paar Züge Luft kann ich vertragen«, sagte sie und kam mit auf den Korridor. Sie öffneten ein Fenster, standen nah beieinander und sahen hinaus.

Es war fast ruhig geworden, nur ein Panzerdiesel hustete irgendwo in der Nähe.

»Das spleißt mich auf«, sagte David, »wenn Fritz Andermann nicht mehr in der Moltke-Stadt ist, wo ist dann Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow? Wenn der Moltke-Gegner in Berlin ist, könnte da nicht auch der Moltke-Freund in Berlin sein? Könnte doch sein! Könnte sein, der befehligt die Panzer da unten, könnte dann auch sein, sein Baschkire steuert eins von den Dingern und qualmt da die Bude voll. Der hätte dann aber jetzt einen Rückfall in seine Schweinehund-Theorie! Und was hätte Wassilij Wassiljewitsch? O Mensch, stell dir die Scheiße vor: Vielleicht hat er Garnison in Neuruppin bei Fontane, oder er ist in Frankfurt/Oder stationiert und hat da schon wieder einen Kleist-Zirkel aufgemacht mit einem neuen Wanja als Prinzen. Stell dir vor, dann rufen sie ihn ans Telefon: Wassilij, steig wieder ein, du mußt noch mal nach Berlin, der Deutsche, weißt du, er hat’s noch nicht begriffen. Dann sagt Wassilij: Komm, Wanja, laß den schönen Text, nimm die Schpagin, steig auf – sie glauben, sie haben schon wieder Strategie, Nathalie muß warten!

Ich hoffe nur, Fran, ich hoffe nur, die achtzig Kilometer hierher sind lang genug gewesen, daß er mit dem Fluchen zu Ende gekommen ist und zum Denken, daß er jetzt weiß: Die achtzig Kilometer sind doch nicht, was der Schein auch flüstern mag, sie sind doch nicht nur ein weiteres Stück von seinem langen Weg, der in einem Dorf bei Rostow begann. Fritze Andermanns Moltke ist wirklich nur noch ein Denkmal, und die Strategie da draußen, die kommt aus ganz anderen Köpfen. Ach, ich hoffe, ich glaube, nein, ich weiß, er weiß es: Die Grube hier, die ist mit einem sehr langen Stiel geschaufelt worden, und gedacht war sie sehr groß. Die Gelegenheit schien günstig; wir sind wohl nicht schuldlos dran, wir hätten es eher sehen müssen, und es ist schlimm, daß uns erst hier an der Grube die Augen aufgehen, aber ich weiß, wer sie geschaufelt hat; ich hätte es gestern schon wissen können oder heute mittag, ich hätte genauer hineinhören sollen in das Geschrei, ich hätte auf die Namen sehen sollen, die auf den abgerissenen Schildern standen, da hätte ich begreifen dürfen, wer uns dies Geviert gegraben hat und nicht nur, um uns das Fürchten zu lehren.

Auf deinem Bild eben, auf Nummer vierundzwanzig, hab ich es gesehen, da ist einer drauf, der hat es gesehen, Fritz Andermann, der hat heute morgen schon gewußt, was in die Grube sollte: Alles, was hier anders geworden ist in den acht Jahren, alle, die es anders gemacht haben, die Andermanns und Müntzers und Meyers und auch die Gabelbachs und Groths und Grewes.

Der achte Mai sollte da hinunter und der siebte Oktober und die Fahne, die ihnen in die Augen sticht, wenn sie vom Schloß Bellevue herübersehen.

Nun wird nichts draus, ich bin sicher.«

Fran holte sich noch einen tiefen Zug Juniluft, schloß das Fenster und sagte: »Ich weiß nicht, was kommt, aber daß wir diesen Tag nicht vergessen werden, können wir uns wohl denken. Ich sehe mich da in schlimme Lagen kommen: Wenn das Datum kommt, werden die Leute ernste Augen machen, und ich werde denken: Wir haben Grund zu solchen Augen, aber, bitte, erlaubt mir doch ein freundliches Zwinkern, ich hab auch dazu einen Grund: Da war nämlich einer, den hab ich sehr gemocht; frag mich nicht, warum. Dann war er sehr lange weg; frag nicht, warum. Dann hat es einen schlimmen Auflauf gegeben, ihr wißt doch noch, warum. Seitdem hab ich den einen wieder, und nun kann ich ganz so ernst nicht sein. Ihr müßtet ihn kennen, dann wüßtet ihr, warum.«

»Nee«, sagte David, »erzähln Sie doch mal!«

»Weil dieser Mensch alle Entwicklungsgesetze Lügen straft; weil ich denken muß: Hätte ich ihn erst nach hundert Jahren wiedergetroffen – dieselbe Verrücktheit, derselbe fast verrückte Ernst, derselbe Bramarbas, dieselbe Zärtlichkeit ein wenig außerhalb des Vorhersehbaren, doch, da bin ich sicher, derselbe Großgarnspinner, derselbe etwas eigenartige Verstand, schrecklich ganz derselbichte David Groth, ganz derselbe, glücklicherweise.«

»So einen is das nu?« sagte David.

»Ja«, sagte Fran, »so einen is das nu! – Und es gehört noch dazu, daß er völlig vergessen hat: Er hat nun Versammlung.«

»Mensch«, schrie er, »das räufelt mich auseinander! Und dieses hab ich auch noch nicht: eine Konzeption!«

David lief über den Korridor, und Fran rief ihm nach: »Ach doch, ich glaube doch!«