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Das verstand sich: Eines der unerhörten Jung-David-Bilder hing seither an Gabelbachs Wand. Doch war es nicht mit der üblichen horizontalen Unterschrift versehen, sondern mit einer vertikalen Tabelle, einer Zeittafel: »1958 – Aufgenommen, NBR zum Druck angeboten, Veröffentlichung abgelehnt; 1960 – Erstpublikation in med. Sachbuch ›Der Mensch‹; 1961 – Goldmedaille im Rahmen der ungarischen Aufklärungsschau: ›Die Menschen‹; 1962 – 1. Preis beim sowjetischen Fotowettbewerb: ›Die Größe des Menschen‹; 1963 – Publiziert in NBR-Serie: ›Das neue Menschenbild‹ mit Untertext: ›Ein Mensch – ganz neu!‹; 1964 – von Jury der Ausstellung ›Unsere Menschen‹ zurückgewiesen, Begründung: ›Zuviel Sex!‹; 1965 – DDR-Beitrag zu UNESCO-Kalender ›Menschenkinder‹; 1966 – Prämiiert mit Silberschale der Fotomesse: ›Ein Mensch – wie stolz das klingt!‹; 1967 – …«

Auf Gabelbachs Tabelle war noch für viele Jahre Platz, und er sagte zu David: »Warten Sie nur, achtundsechzig ist Gorki-Jahr, da geht das Motto vom stolzen Menschen wieder um, da wird Ihre werte Gattin Weiteres kassieren. So betrachtet, ist bei allem Wirrwarr doch gelegentlicher Fortschritt nicht zu übersehen. Wenn ich denke, achtundfünfzig …!«

Und dabei, dachte David, weißt du längst nicht alles, was achtundfünfzig war! Du weißt wahrscheinlich nicht, hoffentlich weißt du es nicht, daß ich damals verlangt habe, du mögest gefeuert werden, im hohen Bogen an die frische Luft gesetzt, im Geschwindverfahren entlassen aus der Neuen Berliner Rundschau – ich hoffe, du hast keine Ahnung von meiner Weigerung, auch nur einen Tag länger mit dir zusammen zu arbeiten: »Nein, Genossen, das könnt ihr nicht von mir verlangen: ich mit so einem! Da sperre ich mich mitzutun, und ich kann mich nur über euch wundern. Mit Franziskas Bild könnt ihr machen, was ihr wollt, aber das Ding mit diesem Gabelbach, das wird ausgefochten; wer hier schiefliegt, das will ich nun sehen!«

Bis er es dann sah, verging einige Zeit; die Aufregung hielt die Höhe ihres Anfangs und machte die andere Aufregung, die, von der alles ausgegangen war, die Aufregung um ein paar Kinderfotos, fast vergessen, denn da war es noch um Fragen des Geschmacks gegangen, hier aber ging es nun um Grundfragen der Jahrhundertmitte, um die Wege in die Zukunft und die Wahl der rechten Weggenossen, um Abrechnung mit Vergangenem und das Problem, ob es vergangen sei; es ging um Bündnispolitik, um Kaderpolitik, um Menschenpolitik, um Politik überhaupt, die im Hause NBR und die im Lande DDR, und so ging es heftig um David Groth, zunächst aber ging es um Fedor Gabelbach.

Um siebzehn Uhr sollte die Leitungssitzung sein; Helga Gengk hatte ihren Streit mit David in die Tagesordnung eingebracht, und David war sicher, das würde nicht sehr lange dauern, da er zurückzustecken bereit war, in dieser Frage jedenfalls, aber nicht in der der Bilder; derentwegen war er nach wie vor zum Kampf entschlossen; er würde sich bei Helga entschuldigen, und dann ran an die Hauptfrage.

Der Kurs war klar, also konnte er noch ein bißchen arbeiten: In zwei Monaten würde sich die Kristallnacht zum zwanzigsten Male jähren, und er hatte die Materialvorbereitung übernommen. Er hatte eine vage Idee: Statt der bekannten Dokumente und statt der Berichte bekannter Leute, oder wenigstens zu ihnen hinzu, wollte er Zeugnisse von solchen Menschen bringen, die weder in der einen Hinsicht noch in der entgegengesetzten Beteiligte gewesen waren, er wollte im Hause jene fragen, die, ähnlich wie er selbst, dabeigestanden hatten, wollte sehen und zeigen, was an Erinnerung noch da war an einen so grausigen Tag und wie sich das ausnahm heute, zwanzig Jahre danach.

»Ich grüße dich, Karnickelmädchen«, sagte er, »ich sehe, dein Boß ist nicht da; das ist gut, da kann ich dich begierig betrachten, und, das unter uns, der ist mir auch viel zu umständlich. Hilfst du mir mal?«

»Ich denke, du bist vollauf beschäftigt, deinen Sohn begierig zu betrachten?« sagte Carola Krell. »Jedenfalls ist das schon Kantinengespräch. – Was brauchst du?«

»Ich suche folgendes: Eine Liste derjenigen unserer Mitarbeiter, ganz gleich, ob Redaktion, Druckerei oder Verwaltung, die im November achtunddreißig einigermaßen im Vollbesitz ihres Verstandes gewesen sein könnten, und schön wäre noch, es wären nicht nur Berliner. Vielleicht haben wir auch Bayern und Ex-Pommern oder Rheinländer oder am Ende gar Sachsen.«

»Quatschkopp! – November achtunddreißig, da war ich im Arbeitsdienst; aber: im Vollbesitz meines Verstandes? Was soll denn da gewesen sein?«

»Die Kristallnacht.«

»Da fällt mir etwas ein«, sagte Carola. »Ich hätte es dir sowieso gezeigt. Mir ist nicht wohl dabei, aber allein damit ist mir noch weniger wohl. Behältst du es für dich?«

»Das kann ich dir nicht versprechen«, sagte David. »Womöglich hast du die Akte von Martin Bormann gefunden, und er ist bei uns Materialverwalter.«

Carola holte tatsächlich einen Personalakt und legte ihn nach einem Blick zur Tür vor David hin.

»Gabelbach?« sagte David. »Am Ende wird doch nicht Kollege Gabelbach der Martin Bormann sein?«

»Mach du nur Witze«, sagte Carola und zog einen Karteikasten aus seiner Halterung, »aber es handelt sich nicht um eine Entdeckung. Ich habe nur etwas gelesen, im Lebenslauf eures Gabelbach, die Stelle ist angestrichen, aber nicht von mir; das hat lange vor mir jemand angestrichen.« Sie schlug ihm die Seite auf und fragte: »Hast du jemals was von einem Alfred Kerr gelesen?«

David hatte die Augen schon auf dem grauen karierten Papier und auf der steilen Schrift darauf, er erfaßte Carolas Frage nur noch halb und sagte automatisch: »Einige Theaterkritiken, die ganz lustig waren. So pathetisch. Als ob’s beim Theater um das Leben ginge!«

Dann las er Gabelbachs Erklärung, und er hörte Gabelbachs Tonfall dabei, die Sprechweise eines Mannes, der sich zu etwas herbeiließ, dem man etwas abgezwungen hatte und der rasch noch sagen wollte, er glaube nicht an gut Gelingen. »In dem gegebenen Zusammenhange halte ich mich für verpflichtet, auf einen Punkt etwas ausführlicher einzugehen, als ich es bei früheren ähnlichen Gelegenheiten getan habe. (Um sogleich die nunmehr fällige Frage zu beantworten: Anfangs, in den ersten drei Jahren meiner Tätigkeit bei der NBR, hatte ich nicht den Mut, die Dinge darzutun, von denen ich gleich sprechen werde; auch fehlte es mir an Vertrauen, und – ich will offen sein – überdies wußte ich nicht, ob ich nicht doch, wie mir oft geraten worden war, die sowjetisch besetzte Zone verlassen würde. Ich lebte in Übergängen und wollte die Lage nicht komplizierter machen.) In meinen ersten autobiographischen Darstellungen, die sich bei meinen Akten finden müssen, habe ich sinngemäß über mein Verhalten bei der Machtübernahme durch die NSDAP erklärt, ich sei, Germanistik-Student, der ich war, wie die große Mehrheit meiner Kommilitonen in völkischer Gesinnung befangen gewesen und hätte mich, halb überzeugt, halb opportunistisch eingebunden, von der Nazibewegung treiben lassen. Ferner: Ich sei als Aktiver des RKDB (Ring Katholischer Deutscher Burschenschaften) 1934 durch Reichserlaß automatisch Quasi-Mitglied des Nationalsozialistischen Studentenbundes geworden, hätte aber außerdem weder der Nazipartei noch einer ihrer anderen Gliederungen angehört, und mit meinem Ausscheiden aus dem Studium sei auch die Mitgliedschaft im Studentenbund erloschen. An dieser Darstellung habe ich nichts zu ändern, wohl aber an der erstgenannten, die mein Tun im Jahre 33 betrifft. Was meine Haltung angeht, steht zutreffend in ihr; hinsichtlich meiner Handlungen aber hielt ich die Angaben bewußt im ungenauen. Es scheint mir an der Zeit, den klaren Sachverhalt auszusprechen:

Am 10. Mai 33 wurde ich in meiner Eigenschaft als C. V.-Sprecher gemeinsam mit etwa fünfzig weiteren Studentenvertretern der Universität Köln zum Leiter der Pressestelle, Prof. Dr. Geldmacher, gerufen. Dieser erklärte, am selben Tage fände in der Reichshauptstadt ein Akt volkhafter Selbstreinigung statt, die Universität befreie sich, stellvertretend für das Volksganze, von deutschwidrigem Schrifttum. Selbstverständlich müsse sich unsere Hochschule in einem ähnlichen Akt zur neuen Idee bekennen, zumal Köln als erste deutsche Universität Männer des nationalen Wollens zu Rektor und Senat berufen habe.

Jedoch habe der Führer der Studentenschaft, ein gewisser Müller, den Rektor, Prof. Dr. Leupold, dazu bewogen, die Veranstaltung wider den undeutschen Geist des strömenden Regens wegen auf einen wettermäßig geeigneteren Tag zu verlegen.

Dann wurden Studenten benannt, die symbolisch für die verschiedenen Fakultäten den Akt durchführen sollten. Ohne mein Zutun zwar, aber auch nicht gegen meinen Widerstand, kam ich für die Philologen auf die Liste.

Da inzwischen die Geschichte ihr Urteil gesprochen hat, werde ich mich jeder persönlichen Wertung enthalten, zumal ich nicht weiß, ob das nicht doch zur Ausflucht drängte; ich teile zur Sache mit: Am 17. Mai 1933 habe ich etwa gegen 22 Uhr drei Bände eines deutschen Autors in den Scheiterhaufen geworfen und dazu gerufen: ›Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache, für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Alfred Kerr.‹

Obwohl ich nicht weiß, wieweit ich ein Recht dazu habe, und ohne den Versuch damit zu verbinden, mich zu entlasten, füge ich der Wahrheit wegen hinzu, daß ich an diesem Vorgang nunmehr gänzlich ohne Überzeugung, also völlig opportunistisch teilgenommen habe. Zwar war mir der Autor Kerr recht gleichgültig, aber nie wäre ich von mir aus auf den Gedanken gekommen, man müsse ein Buch ins Feuer werfen, weil man die in ihm ausgesprochenen Gedanken nicht teile.

Nicht gleichgültig hingegen, sondern eigenartig sympathisch waren mir zwei andere Autoren, deren Namen bei demselben barbarischen Akt gerufen wurden, woraufhin ihre Werke in die Flammen flogen. Es handelte sich um Heinrich Mann und Erich Kästner.

Aber ich habe dennoch mitgetan; ich will mich nicht lossprechen, und wenn ich im weiteren Teil dieses Lebenslaufes wahrheitsgemäß berichten werde, daß ich bei manchem anderen nicht mehr mitgetan habe, so geschieht das nicht der Reinwaschung wegen. Solche Reinwaschung ist nicht möglich.«

Hier endete der angestrichene Passus, und hier beendete David auch seine Lektüre.

»Nein«, sagte er, »nein, Carola, das kann doch nicht sein; der Gabelbach ein Bücherverbrenner, das ist Wahnsinn. Ich meine, ich weiß nicht, wie dir das geht, aber ich, wenn ich manchmal Bilder von damals sehe, wie sie durchs Brandenburger Tor ziehen oder in der Ukraine unter einem Galgen stehen, neben dem Galgen, als Zuschauer, oder jetzt die Bilder von der Kristallnacht, die lachenden Leute am Straßenrand, dann denke ich manchmal, jeder denkt das wohl mal, dann frage ich mich, frage die Leute, die da zu sehen sind und nicht anders aussehen als andere Leute: Und du da mit dem schönen Gebiß, wie geht’s dir denn inzwischen, was machst du, wie lebst du, weißt du noch, erinnerst du dich, was erzählst du denn, wenn dich die Kinder fragen? Manchmal denke ich mir Lebensläufe aus, das ist nicht schwer. Und doch ist es schwer; die Zeit ist vorbei, und automatisch denkst du, auch die Menschen sind vorbei, die sind nicht mehr.«

»Wir gehören auch dazu«, sagte Carola. »Es ist nur so: Ich war so erschrocken, weil ich den kenne. Ich weiß nicht, ob du verstehst: Das Bücherverbrennen ist immer als besonderes Beispiel für den Faschismus herausgestellt worden, und der Gabelbach kam mir immer wie einer vor, der richtige Arbeit macht.«

David versuchte, sich einen Fedor Gabelbach vorzustellen, der Bücher auf einen Scheiterhaufen warf und dazu irrsinnige Sprüche brüllte. Aber es gelang ihm nicht; der Kollege Gabelbach war ein Mann mit einer verwickelten Bildung, ein penibler Mensch, dem Unordnung die Ruhe raubte, ein Mann mit Wissen, der sein Wissen weitergab und es als einen Wert behandelt sehen wollte; der war doch nicht roh und war doch kein Klotz, der konnte zwar jeden beißen, aber doch niemanden totschlagen, das war doch kein Schlagetot, der war überhaupt nichts von dem, was man sich dachte, wenn man an die Nazis dachte, an den Lehrer Kasten oder an den Abdecker und Stadtverordneten und SA-Mann Wolter oder an die Partisanenjäger in Meister Treders Kundenkreis. Gabelbach paßte nicht in die Bilder von den Feuern am zehnten Mai und hatte doch an einem gestanden und völkische Reinigung betrieben. Es ging nicht zusammen.

»Was brütest du?« fragte Carola. »Mach bitte jetzt keinen Unsinn; ich hab es dir gezeigt, weil ich mit dir reden kann, aber nicht, damit du nun überlegst, wie man Gabelbach den Hals umdreht. Außerdem, es steht alles in seinen Akten, seit zehn Jahren; es liegt auch ein Zettel mit Bemerkungen von Genossin Müntzer drin, Petersilie hat es also gelesen, und wenn die ihn trotzdem im Haus behielt, dann brauchst du keine Drohblicke zu werfen. Ich wollte bloß mal mit dir darüber reden, David.«

»Aber es zersägt mich trotzdem«, sagte er. »Ich drehe ihm nicht den Hals um. Johanna schon eher; sie hätte es mir sagen müssen. Aber dem nicht, das lohnt sich nicht. – Ich habe mal ein Gespräch gehabt mit so einem. Der hatte einen Leserbrief geschrieben. Ich hatte irgendwas in einer alten Zeitung gesucht, ›Berlin am Mittag‹, glaub ich. Mit halbem Auge sehe ich einen Namen und eine Adresse, Schönhauser Allee. Solange hatte ich das alles wie Nachrichten von einer versunkenen Insel gelesen, aber, Schönhauser Allee, da fährt man dreimal in der Woche durch, Schönhauser Allee war hier, Gegenwart gleich um die Ecke. Der Brief war von einem Kerl, der sich Sorgen machte, weil es nun bald keine Juden mehr geben würde, und da machte er sich Sorgen um seine Kinder, der Volksgenosse Mahlmann in der Schönhauser Allee. Wie soll er seinen Kindern erklären, was Juden sind, wenn’s bald keine mehr gibt, und ob man nicht ein paar Exemplare im Zoologischen Garten zeigen kann. Der war auch noch witzig, der Volksgenosse: Man bräuchte die Juden ja nicht gleich neben den Affen unterzubringen, weil die Affen schließlich Verwandte vom Menschen wären. Und so und hochachtungsvoll und mit deutschem Gruß, Volksgenosse Mahlmann, Schönhauser Allee.

Ich bin da hingefahren. Ich dachte: Sollte er etwa noch? Aber das dachte ich nicht ernsthaft zu Ende. Und dann war er da: Inzwischen wieder Herr Mahlmann, Facharbeiter in einer Wurstfabrik in Weißensee, aber immer noch dieselbe Adresse.

Natürlich war er nervös, wechselte zwischen pampig und weinerlich, aber sehr ängstlich war er nicht. Was wollte ich denn? Er hatte seines abgebüßt: Ein Sohn war gefallen, der zweite in Kanada und ließ nichts von sich hören, die Frau auch unter der Erde, und er selbst hatte drei Jahre Bautzen gemacht, das hatte er schriftlich – er hat mir den Entlassungsschein gezeigt, mit einem Schuß Triumph sogar –, was wollte ich denn noch von ihm? In Bautzen war er, weil er jemanden denunziert hatte, tat ihm leid, tat ihm ehrlich leid inzwischen, aber der Leserbrief? ›Was wollen Sie, Kollege, so dachte man eben damals. War natürlich nicht richtig, tut mir leid inzwischen, tut mir ehrlich leid‹, und wenn ich wollte, sollte ich mich in seinem Betrieb erkundigen nach seiner Arbeit, und als er noch ein paarmal Kollege zu mir gesagt hatte, suchte ich das Weite.

Weißt du, er war ja mein Kollege; der war sicher in der Gewerkschaft, und womöglich machte er gute Wurst, und womöglich aß ich davon in jeder Woche; der war mein Kollege, der Volksgenosse Mahlmann, und Bücherverbrenner Gabelbach ist auch mein Kollege, ist das nicht großartig?«

»Wenn man das so ausspricht, Bücherverbrenner, klingt das natürlich schrecklich«, sagte Carola Krell, »aber meine Meinung ist, so einer wie dieser gräßliche Wurstmacher war Gabelbach bestimmt nicht. Ich habe in seinem Lebenslauf gesehen …«

David unterbrach sie. »Natürlich, so einer war er nicht. Er war kein Wurstmacher, er war Philologiestudent, Student der Sprachen und Literaturen; er war nicht in der Arbeitsfront und nicht in der SA, er war nur in den NS-Bund übernommen und eigentlich katholisch Korporierter; der eine war eine ungebildete Drecksau, und er war eine gebildete Drecksau. Keine Angst, Carola, ich mache schon Unterschiede, und wenn du’s wissen willst: Ich fühl mich ganz schlapp vor Enttäuschung: Seit meinem ersten Auftrag in diesem Haus habe ich mit ihm zusammen gearbeitet, und nicht schlecht. Es spricht sich schwer aus, aber natürlich war er einer meiner Lehrer, und jetzt …«

»Und jetzt wirst du daran nichts mehr ändern«, sagte Carola, die es nie hatte leiden können, wenn er an seinem Schicksal herumfummelte, wie sie das nannte, »du kannst es zum Glück auch gar nicht; das wäre ja so, als wolltest du das Alphabet vergessen, weil du es bei deinem Herrn Kasten aus Ratzeburg gelernt hast. Und obendrein wollen wir nicht übersehen: Die Geschichte liegt fünfundzwanzig Jahre zurück.«

»Weiß ich doch«, sagte David. »Ich sage ja auch nicht: Vergiß die Liste, um die ich dich vorhin gebeten habe, laß die Erinnerungen an die Kristallnacht ruhen; wer weiß, was wir sonst alles aufscheuchten – ich sage das nicht, aber, hoffentlich ist dir das ebenso unheimlich wie mir, Carola: Ein bißchen denke ich es!«

»Das ist allerdings schlimm«, sagte sie, »dann bereue ich, daß ich dir Gabelbachs Lebenslauf gezeigt habe. Hysterisch werden – das hätte ich allemal auch allein gekonnt.«

David ging zur Tür. »Ehe du mich runtermachst wie in uralten Zeiten, verschwinde ich, ich hab eine Einladung zur Leitungssitzung. Ich komme wegen der Liste, morgen oder so. Und ich komme schon zurecht, Carola!«

Aber das war nur eine Hoffnung, und die trog ihn. Zunächst kam er keineswegs zurecht. Zunächst stiftete er ein großes Durcheinander, weil in seinem Kopfe vieles durcheinander war. In seinem Kopf war wieder einmal wilde Versammlung:

Da erhob sich ein älterer David, einer, von dem man wußte: Der hatte schon ein wenig hingehört auf die Welt und war im Hohen Hause bekannt als der David der Vernunft, und dieser sprach ruhige Warnung vor optischen Täuschungen: Hüten solle man sich, den Vorgang größer zu sehen, als er gewesen sei …

Und schon fuhr ihm einer der jüngeren Davids in den Satz und schwang das Heine-Wort vom Menschenverbrennen, das nach dem Bücherbrand zu gewärtigen sei; und der ältere David mußte den Versammlungsleiter David bitten, ihm das Recht der Rede zu schützen.

Er habe keinen Grund, fuhr also David der Ältere fort, das feurige Vorkommnis zu verkleinern, was er aber zu bedenken habe geben wollen, sei die vielfache Vergrößerung des Ereignisses, die es durch vielfache Projizierung ins Weltgewissen erfahren habe, und da nähme sich plötzlich ein dummer Student wie ein fackelschwingender Riese aus.

Aha, rief es da aus der anderen David-Fraktion, hört, hört, auf einmal sind sie wieder dumm, die Studenten, wo sie eben noch, bei gerad vergangener Gelegenheit, vom Herrn Kollegen David als Lernende eines neuen Typs beschrieben worden seien, als hellwache Vertreter neuen Denkens, aber sicher, da habe das so in den Kram gepaßt, und jetzt passe es wieder in den Kram, das Wort Studenten mit dem Beiwort dumm zu versehen, und dürfe man nun fragen, was sie nach Ansicht des Vorredners David eigentlich und wirklich seien?

Fakten-David ersuchte ums Wort und bekam es, denn er trug seinen Namen, da er ein Anwalt der Sachlichkeit war. Der wollte sich nicht in den Streit um das Studentenwesen mischen, der erkundigte sich nach dem Alter des Beklagten und erfuhr, zwanzig Jahre alt sei Gabelbach gewesen, als er den Kerr ins Feuer geworfen. Fakten-David meinte, unter Umständen sei das ein geringes Alter, unter anderen freilich nicht, und sachdienlich wäre es, herauszufinden, wie es mit den Umständen des Beschuldigten ausgesehen habe zu jener Zeit. Davon wollte eine starke David-Gruppe nichts wissen – einer nach dem anderen standen sie auf und riefen, eines nach dem anderen: Mit zwanzig hatte ich bereits einen Beruf erlernt! Mit zwanzig war ich schon längst Soldat gewesen! Mit zwanzig wäre ich beinahe Vater geworden! (An dieser Stelle verzeichnet das Protokoll Gelächter und Zurufe.) Mit zwanzig, rief es weiter aus den David-Reihen, machte ich selbständige redaktionelle Arbeit! Mit zwanzig hatte ich ein Dutzend marxistischer Werke gelesen! Mit zwanzig wurde ich Parteimitglied! Mit zwanzig galt ich für erwachsen, und niemand wäre auf die Idee gekommen, mich bei Fehlern, die ich machte, mit meiner Jugend zu entschuldigen – was also soll das Gerede vom geringen Alter, wo einer zwanzig war? (Starker Beifall, aber zugleich Wortmeldung von den hinteren David-Bänken:)

Ja, du, David, du warst neunzehnhundertsiebenundvierzig zwanzig, der andere war es vierzehn Jahre früher; da war Krieg kaum eine fahle Erinnerung, für dich war es Wirklichkeit von ebennoch. – Ja, du! Dir hatten sie schon zweimal den Vater weggenommen, einmal sehr und einmal für immer, und doch hatte er zwischen dem einen und dem anderen Mal noch Zeit, dir für die Welt ein wenig an die Hand zu gehen; aber was hat dem anderen dessen Vater gesagt, und was die Schule und was die hohe Schule und was die Bilder an den Wänden und was die Zeitung im Familienabonnement? – Dir, David, dir hatten sie, als du zwanzig warst, zweifachen Judentod und vielfachen anderen Tod schon vorgeführt, dir hatten sie die Linie gewiesen von der ersten Leiche im Küchenbach bis zur letzten im maigrünen Tiergarten; der andere aber, zwanzigjährig wie du und keineswegs wie du, dem war der Tod etwas von Theodor Körner und Ernst Jünger, war ein Gleichnis aus Langemarck und hatte die ferne Schönheit des heiligen Sebastian, und vor allem: Für so einen war ein Gedanke nicht denkbar, der feurig in die Zukunft lief, von den Fackeln vor der Universität am Agrippina-Ufer des Rheines bis zu den Schloten von Maidanek, dem brüllte sein Rektor etwas vor vom Phönix des deutschen Geistes, vom Flammenprotest gegen den Ungeist hetzerischer Volksverführer und salonbolschewistischer Intellektueller, dem schrien sie ein Kommando ins Ohr, und dann warf er drei Bücher ins Feuer – sieh doch den Unterschied zwischen dir, David, als du zwanzig warst, und dem korporierten Tropf, als der zwanzig war!

Ich sehe den Unterschied, rief der Ankläger David, aber ich entschuldige nichts …

Halt, rief ein Verteidiger, der David hieß, ehe du weitersprichst: Wir sind noch nicht fertig mit den Unterschieden zwischen deinen zwanzig und seinen zwanzig; mein Vorredner David hat von den Kommandos ins Ohr des zwanzigjährigen Gabelbach gesprochen, wie aber stand es um die Kommandos an David, als der zwanzig war? Als der zwanzig war im Jahre siebenundvierzig, da redeten sie schon zwei Jahre lang auf ihn ein, sprachen mit Zungen, die Neues Deutschland hießen und Tägliche Rundschau, sprachen Worte, die von Engels waren und von Brecht und von Lenin, lasen aus Büchern vor von Heine und Seghers, deuteten ihm Reden von Pieck, Ulbricht und Grotewohl, zitierten die Stimmen der Völker und immer wieder die Große Stimme des Großen Manifests, fuhren ihn an mit dem Befehl: Lerne das Einfachste! und donnerten den Auftrag: Du mußt die Führung übernehmen!, und in den Straßen, durch die dieser Zwanzigjährige ging, stand es geschrieben, stand für ihn geschrieben: Vorwärts und nicht vergessen, wacht auf, Verdammte dieser Erde, voran, du Arbeitsvolk, drum links, zwei drei, bau auf, bau auf, erkämpft das Menschenrecht!

Und dieser zwanzigjährige David, sprach der Verteidiger David weiter, hatte Dolmetscher, wenn er nicht verstand, die kehrten die fremden Wörter in solche, die er begriff; Proletarier übersetzten sie mit dem Leben von Wilhelm Groth und Solidarität mit dem Sterben Wilhelm Groths, Profit mit Meister Treder und Maximalprofit mit Bergmann-Borsig, Demagogie mit Lehrer Kasten und Antisemitismus mit Tod im Küchenbach, Militarismus übertrugen sie in die Laufbahn von Hermann Groth aus Ratzeburg; und in die Befehlsmacht vom General Klütz in Berlin, und von Demokratie gaben sie eine erste Interpretation, indem sie David hundertfach fragten: Und du, was sagst nun du dazu?

Übrigens, so fügte dieser Verteidiger David fast sanft noch hinzu, wo nun schon die Verdienste der Dolmetscher zur Sprache kamen, da sollten auch ihre Namen genannt werden, einige wenigstens, wenigstens die von Johanna Müntzer, bekannt auch unter den Bezeichnungen Penthesilea und Petersilie; Xaver Frank, damals Sekretär in Berlin und inzwischen Mitglied der Obersten Abteilung; dann auch der Genosse Kutschen-Meyer, dem du zumindest die Einsicht in den Unterschied zwischen Intellektuellen und fortschrittlichen Intelligenzlern verdankst, aber anderes auch; und erwähnt werden wenigstens soll der Botenmeister Ratt, dessen Stachel dich oft beschleunigte; und – und erst hier wurde die Stimme des Verteidigers, der David hieß, wirklich sanft –, und genannt werden muß der Name Fedor Gabelbach …

Doch ehe der Anwalt Gabelbachs die Verdienste Gabelbachs um David Groth in Worte fassen konnte, rief ein wilder David-Chor: Aufhören, nein, und wennschon, deshalb ja gerade, das gilt nicht mehr, wir wollen davon nichts mehr wissen, wir wollen von Gabelbach nichts mehr wissen, wir wollen ihn hier nicht mehr sehen, Schluß damit, Schluß mit ihm, alles Lüge, alles Tarnung, wir wollen ihn nicht, wir wollen nicht mehr …

Ich will nicht mehr, dachte David Groth, was immer sie auch sagen mögen, ich will nicht mehr, ich gehe jetzt in die Leitungssitzung und sage denen: Mit dem will ich nicht mehr!

Und das hat der Leitung eben noch gefehlt. Sie steckt ja nur zwischen Auswertung des V. Parteitages und Vorbereitung der Volkskammerwahlen. Sie hat schließlich nicht mehr am Halse als eine etwas heterogene BPO, die geführt werden muß im Kampf gegen die Nachwirkungen der Schirdewan-und-Wollweber-Fraktion und für die Durchsetzung des Gesetzes über die Vereinfachung und Vervollkommnung der Arbeit des Staatsapparates, geführt werden muß zum Verständnis der politischen Inhalte von Konföderation und Friedensvertrag, Hauptentwicklungsrichtung der Volkswirtschaft und der sozialistischen Umwälzung auf dem Gebiet von Kultur und Ideologie, Arbeiterjugendkonferenz, Ostseewoche und atomwaffenfreier Zone. Die Leitung muß doch lediglich zwei Vorlagen für das Sekretariat der BL verfassen, eine Kritik des PB verdauen, drei Beschlüsse des 1. ZK-Plenums für den eigenen Bereich konkretisieren, eine Anfrage der BPKK beantworten, zwei Kandidaten-Anträge diskutieren, ein Ausschlußverfahren einleiten, die Entschließung der APO II begründet zurückweisen, eine Grußadresse entwerfen, einen Referenten und zwei Propagandisten gewinnen und immer noch und immer wieder um Verständnis ringen, das eigene und das der anderen, immer wieder und immer noch um Verständnis für den ungeheuerlichen Vorgang, der hinter der nüchternen Bezeichnung XX. Parteitag sich verbirgt.

Da kommt der Genosse David Groth zur rechten Stunde; hoch willkommen wird er geheißen: Endlich einmal etwas zu tun!

Und worum geht es dem Genossen Groth; was bringt er Schönes? – Bringt er einen Vorschlag, einen Verbesserungsvorschlag, will er sich verpflichten, hat er einen Plan, eine Idee, weiß er Rat, möchte er eine Initiative entfalten, oder trägt er wenigstens einen Hinweis herbei?

Oder geht es ihm etwa schon wieder um diese Babybilder? – Nein, nicht, und nicht der Genosse Groth hat um diesen Sitzungstermin gebeten? Wer war es dann? Die Genossin Gengk war es, und die hatte einen Streit mit dem Genossen Groth, und der Streit ist von den Klein-David-Bildern ausgegangen? Also doch diese verdammten Bilder, und nun reicht es aber! – Wie denn, der Streit soll hiermit als beigelegt gelten, Genosse Groth sieht ein, er hat sich falsch benommen? Und dazu verlangt ihr eine Leitungssitzung? Was seid ihr, Kinder? Also gut, wir nehmen zur Kenntnis: Ihr seid versöhnt; nun geht wieder an eure Arbeit, wir haben zu tun; wir wollen den Entwurf zum Lehrjahrsplan beraten – was, beim Heiligen Vater, gibt es denn noch?

Es gibt Davids bedeutenden Auftritt. Alle Mahnungen, Warnungen, Beschwichtigungen der eben beendeten Davids-Versammlung sind vergessen: Genosse Groth hält eine Rede und ist Danton und Robespierre in einem Stück, ist ein erzener Kämpfer aus einem Guß, ist der Herold proletarischer Wachsamkeit, Monitor der Grundregeln des Klassenkampfes; Genosse Groth sagt seiner Leitung, was er denkt, und er denkt Scharfes und Schärfstes, und ihm gelingen Worte und Sätze, oh, wenn er sich die nur merken könnte, ein Jammer wär’s, wenn er sie vergäße und nicht bewahrte für Enkel und Enkelkinder!

Und eine Schande ist es, daß die Leitung ihm offensichtlich nicht folgen kann oder will, jedenfalls nicht folgt auf seinen rhetorischen Pfaden zur revolutionären Tugend hin. Die sitzt da und hält den grünen Tisch zwischen sich und ihn und läßt sich so nicht erreichen von seinen Silbendolchen, Wortbeilen und Satzspießen und denkt nicht daran, das weiße Tuch der Selbstkritik aufzuziehen. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil: Sie setzt den roten Stander, zeigt das Zeichen: Jetzt kritisieren wir! Stille jetzt, Genosse Groth, herhören, Genosse Groth, jetzt spricht die Parteileitung!

Aber sie spricht nicht von Gabelbach und auch nicht von Johanna Müntzer, die David Groth hätte sagen müssen, wer Gabelbach gewesen ist; diese Leitung spricht zunächst einmal vom Genossen Groth, spricht sich einmal so richtig aus über den, tut so, als wäre ihrem Herzen nicht eben noch der Entwurf zum Lehrjahrsplan am nächsten gewesen, hat jetzt Zeit für David Groth und verliert sich fast in Erinnerungen an den, scheint aber ein etwas einseitiges Gedächtnis zu haben, memoriert Sachen, die hier nichts zur Sache tun, weiß, scheint’s, nichts von Verdiensten mehr, weiß aber sonst eine ganze Menge und weiß noch – sollte man es denn für möglich halten? –: Sie, die Leitung der Betriebsparteiorganisation in der Neuen Berliner Rundschau, hat dem Genossen Groth bereits zweimal mit erzieherischen Maßnahmen zurück auf den Boden des Statuts helfen müssen – und warum, aus welchem Anlaß?

David kann sich kaum erinnern; es ist zu lange her, die Rüge liegt schon ein Jahr zurück und der Verweis gar drei Jahre; wie soll er das noch im Kopfe haben, ein vielbeschäftigter Mann wie er, er hat keine Ahnung mehr; er hat alle Hände voll zu tun gehabt, schließlich, nicht wahr, schließlich ist der Klassenkampf nicht gegangen ohne den Klassenkämpfer Groth, nicht wahr, Genossen! Nun, die Genossen helfen, dazu sind sie da; sie helfen dem Gedächtnis Davids auf, und sie formulieren es zärtlich: Wir mußten dir, lieber Genosse, schon zweimal eins überbraten, und verlangten es die Regeln des innerparteilichen Umgangstons nicht anders, so hätten wir in beiden Fällen zur Begründung geschrieben: … bekommt eine Strafe wegen totaler Idiotie. Tatsächlich aber haben wir geschrieben, wir hätten dir die Rüge verpaßt und auch schon den Verweis, weil du deiner Neigung zu politisch gefährlichem Einzelgängertum so weit nachgegeben hättest, daß nur eine übernatürlich große Dosis Glück verhindert habe, was eigentlich die Folge deines Handelns hätte sein müssen, nämlich Unheil gesellschaftlicher Natur. So hattest du doppelt Glück: zum einen, weil nicht eintrat, was du doch schon in Gang gesetzt hattest, und zum anderen, weil wir eben dies berücksichtigten, als wir dich rügen mußten.

Und als ob ihr diese mehr abstrakte Erinnerung nicht genügte, beginnt die Leitung, nunmehr konkret zu werden.

Es war, spricht sie und ist dabei, was sie sein soll, Kollektiv und trägt die Erinnerungen vor im Wechselgesang; ein Leitungsmitglied nimmt dem anderen das Wort aus dem Mund, jedes weiß sein Teil, und zusammengenommen ergeben diese Teile zwei etwas absonderliche Geschichten, die beide wie alle Geschichten beginnen: Es war, es war einmal einer, und David Groth hört sie beide nicht gern.

David Groth hört seinen Genossen zu, diesen fleißigen Teppichknüpfern, diesen geschickten Glasmosaikern, die einander Fäden reichen oder bunte Scherben, auf daß Muster und Bilder entstehen, von denen man ablesen kann, was der Groth für einer ist; David hört zu und fragt sich, warum er sich abdrängen läßt von seiner edlen Sache, und was denn überhaupt sein Langer Marsch durch Port Arthur oder auch sein Gedankenaustausch mit Konrad Adenauer für eine Rolle spielen, jetzt, wo es gilt herauszufinden, welche Rolle Fedor Gabelbach gespielt hat, spielt und künftig spielen soll, und jetzt auch, da zu klären wäre, warum Johanna Müntzer, Leitungsmitglied und Hüterin des Entwurfs zu einem neuen Menschenbild, zu David nie ein Wort gesagt hat über das Feuer am siebzehnten Mai und den Anteil des Heizers, Hetzers, Hetzenheizers Gabelbach daran.

Aber natürlich fällt David seinen Genossen nicht in die Geschichten; das ist nicht üblich, wo kritische Rede geht; wer kritisiert wird, bekommt noch Gelegenheit zur Gegenwehr, aber solange die Leitung spricht, spricht man besser nicht, denn in dieser Hinsicht ist die Leitung auch nur ein Mensch.

Und der Mensch sieht sich nicht gern unterbrochen, wenn er Geschichten erzählt; da hütet sich David vor Einspruch oder Widerwort, auch wenn es in seinem Inneren reißt und zerrt, weil alles ganz anders gewesen ist.

Nun gut, die Leitung will ihn partout zu einem Wechselbalg aus Anarchist und verträumtem Trottel – ihr Wille geschehe hier auf Erden noch, aber nicht mehr im Himmel der Revolutionäre; dort wird man zu schätzen wissen, was David Groth für Menschheit und Sache getan, auch am dreizehnten Oktober siebenundfünfzig und auch im Großen Hörsaal der Technischen Universität zu Berlin-Charlottenburg; mag doch die Leitung bis dahin ihre Versionen pflegen; soll sie sich nur erheitern mit ihrem: Es war, es war einmal einer, es war hier mal ein gewisser Groth, der hielt sich für schlauer als alle anderen und zeigte sehr ausgeprägt diese mittelalterliche Neigung, allein, für sich, auf sich gestellt, als sein eigener Herr die Angelegenheiten der Menschheit in die Hand zu nehmen; waren Revolutionen die Lokomotive der Weltgeschichte, so war David Groth der Weichensteller historischer Läufte – so oder so ähnlich sah es David Groth.

Behauptete die Parteileitung, und ferner behauptete sie, in dieser angemaßten Lenkungsfunktion habe es David bereits zweimal, zumindest zweimal schon, bis kurz vor ein politisches Desaster getrieben; man denke nur an den Langen Marsch durch Port Arthur, und das war nur das eine von den beiden Dingern!

Es war an einem jener Sonntage, die Sonntag der Dreizehnte hießen und sich bei den Kalendermachern der DDR-Geschichte einer anhaltenden Beliebtheit erfreuten. Es war dies an einem Sonntag im Oktober, am dreizehnten Oktober neunzehnhundertsiebenundfünfzig. Da holten sie David Groth in aller Frühe aus dem Schlaf, riefen ihn zunächst in den Versammlungsraum der NBR, schickten ihn von dort in die Kreisleitung von Weißensee, leiteten ihn hier weiter an die Bürgermeisterei und brachten ihn schließlich in ein Aufklärungslokal der Nationalen Front von Hohenschönhausen, ihn und mehrere seinesgleichen.

Dort herrschte Hochleben, politisches noch dazu, und das war in diesen Räumen selten. Es galt, dem Feind einen Schlag zu versetzen; das machte wach. Es galt, einen Konterschlag zu tun bis ins Mark des Gegners; das machte Freude.

Aber weder Bajonette noch jene scharfsinnigen Druckwerke, Broschüren genannt, waren die Waffen, mit denen David und seine Freunde in die Schlacht geworfen wurden; es handelte sich vielmehr um ein weitaus traditionsreicheres Kampfmittel, das nunmehr wieder einmal zum Einsatz kommen sollte, es handelte sich um Geld.

David Groth war an diesem Sonntag unter die Geldwechsler geraten, in den staatlichen Bankdienst aufgenommen für sechzehn Stunden, war auf Zeit ein Bankier geworden, der auszog – o seltener Augenblick! –, das Vaterland zu retten.

Zumindest das letztere war keine Übertreibung; das Land war bedroht, wie ein jedes Land bedroht ist, wenn es über sein Geld die Kontrolle verliert.

Von den Noten, die der Minister der Finanzen und seine Bank in Umlauf gegeben hatte, fehlten rund zweitausendeinhundert Millionen. In den Kassen der Sparkassen, in den Tresoren der Bankfilialen, in den Stahlschränken der Betriebe, Handelsgesellschaften und Verwaltungen waren sie nicht.

Der Minister und seine Notenkenner ahnten vom Verbleib ihres Wertpapiers. Ein erhebliches Stück der fehlenden Doppelmilliarde vermuteten sie im Großen Strumpf der Landesbürger; die waren gebrannte Kinder, besorgt, mißtrauisch und dadurch kurzsichtig immer noch, die hatten bis vor kurzem nur einen Staat gekannt, der sie beschiß; die trauten dem neuen vielleicht in diesem und jenem schon, in Geldsachen aber waren viele noch ferne Neffen vom rheinischen Geldsachkenner Hansemann und sprachen mit dem entlegenen Onkel, am Beutel ende die Gemütlichkeit, und hielten den Zaster zu Hause.

(Als dann am Ende des Jahres siebenundfünfzig die Sparkassen dem Finanzminister unvermutete Mehreinlagen von einskommafünf Milliarden meldeten, wußte es der Minister genau: Im Großen Strumpf waren fünfzehnhundert Millionen gewesen. Da soll der Minister fröhlich gewesen sein.)

Fröhlich hingegen nicht war man am Sonntag dem Dreizehnten dort, wo die restlichen sechshundert der fehlenden Millionen gelandet waren: in einer Gegend, kurz Westen genannt.

Die vielen Wege dorthin zu nennen, fehlte es sogar einem Leitungskollektiv, das sich doch abwechseln konnte beim Bericht, an Zeit und Atem, und David Groth, der den Erinnerungen seiner Parteileitung zu lauschen hatte, weil man ihn hier bei den Ohren hielt, legte auch keinerlei Wert auf Einzelheiten, wußte er doch die Route, den dunklen Pfad, auf dem seinem Lande zweihundertachtzig Mark und sechzig Pfennig abhanden gekommen waren, und es war eine sehr fremde Lust, die ihn kitzelte und ihn zu sagen ermuntern wollte: Der Gegenwert von einhundertvierzigkommadreißig Mark der damals fraglichen Summe, der müßte eigentlich immer noch in einem Baum am Spreeufer nahe der Museumsinsel hängen! Doch das verkniff er sich; nicht aber verkniff er sich an jenem Sonntag des monetären Konterschlages, seiner Neigung zum Einzelgang nachzugeben, und eben das memorierte der Parteileitungschor genau:

David war im Aufklärungslokal von Hohenschönhausen zum Finanzbeauftragten für Port Arthur ernannt worden; er sollte in Port Arthur tun, was seinesgleichen am selben Tage im ganzen Lande taten: Er sollte, gemeinsam mit anderen, alles in Port Arthur vorhandene Geld gegen Quittung an sich ziehen, gegen andere Quittung anderes und nunmehr einzig gültiges Geld bis zum Höchstbetrag von dreihundert Mark pro Kopf an die Bürger Port Arthurs ausgeben, hinsichtlich allfallsig abgelieferter Mehrbeträge versichern, diese würden im Laufe der nächsten vierzehn Tage ebenfalls eingewechselt, über alle Transaktionen genau Buch führen und vor allem – nicht zuletzt deshalb hatte man ihn und seinesgleichen an diese Aufgabe gesetzt – die politische Bedeutung des Vorgangs erläutern.

Das alles sollte er tun; gemeinsam mit anderen freilich sollte er es tun. Nur: die anderen waren noch nicht da.

Sie mußten zwar jeden Augenblick kommen, doch David, unser gescheiter David, meinte, bei einem Konterschlag sei jeder Augenblick kostbar.

Deshalb schlug er vor, er wolle sich mit dem Gelde schon immer auf den Weg nach Port Arthur machen, dort könne er in der Verteilerstelle gleich nach dem Rechten sehen und auch die Notenportionen für die Unterverteilerstellen vorbereiten, denn schließlich sei Port Arthur aufgeteilt in die Sektionen Port Arthur I bis Port Arthur IV, und praktisch wäre es da, David der Praktische hätte bis zum Eintreffen der anderen Genossen Geldwechsler schon alles gerichtet.

Nun, die Oberverteiler im Aufklärungslokal von Hohenschönhausen waren gebildete Leute, zwei von ihnen waren ständige Leser der Neuen Berliner Rundschau und ständige Leser auch der Grothschen Berichte, sie zogen den falschen Schluß von der relativen Vernunft dieser Artikel auf den praktischen Verstand ihres Verfassers, und mit der eigenartigen Devotion, zu der gerade die anständigen Menschen gegenüber Schreibkünstlern neigen, stimmten sie dem Plan des Finanzhelfers Groth zu, sackten ihm zweihundertachtzigtausend neue Mark ein und entließen ihn leichten Sinnes in Richtung Port Arthur.

Leichten Sinnes mögen die gewesen sein, dachte David, während sich die Parteileitung von ihrem Bericht an dieser Stelle etwas verschnaufte und mit viel Kopfschütteln und Fingerzeigen an die Stirn der zweihundertachtzigtausend Mark im Sack auf Davids Schultern gedachte, leichten Sinnes mögen die vielleicht gewesen sein, aber ich trug mich schwer an Verantwortung und Geldpapier; doch ehe er den weiteren Teil des Berichts gedanklich an sich ziehen konnte, was unzweifelhaft zu einer gerechteren Darstellung geführt hätte, übernahm die Leitung wieder die Leitung; diese Leitung – zu der er doch gekommen war der Bilder Franziskas wegen, des Streites mit Helga wegen, der Untaten Gabelbachs wegen –, diese Leitung erging sich wieder in Schilderungen, die mit den drei Anlässen des Gesprächs nichts zu tun hatten; und ein besonderer Hohn war, daß sie die Kenntnis sämtlicher Details, die sie so sorgfältig vor David ausbreitete, nur David verdankte, ihm und seinem selbstkritischen Rapport, den er vor Jahresfrist geliefert hatte.

Da steigt er also mit den zweihundertachtzigtausend Eiern in die Straßenbahn, Linie 63, und streitet mit dem Schaffner, weil der für den Sack Gepäckbeförderungsgebühr verlangt, und mit einer Mutter legt er sich auch an, weil drei Jutefasern an ihrem Korb-Kinderwagen hängengeblieben sind, und er fühlt sich wie ein Großer Konspirator, da er sich die Antwort auf den Spruch der Mutter verbeißt, diese Laubenpieper könnten ihr Karnickelfutter weiß Gott zu anderer Zeit transportieren.

Da steigt er denn aus am Weißenseer Weg, schultert die zweihundertachtzigtausend Piepen; nun ist er im Schrebergartenrevier Port Arthur; nun braucht er nur noch das Kulturhaus von Port Arthur zu finden – schade, er hat vergessen, im Aufklärungslokal auf den Lageplan zu sehen, aber das wird nicht so schlimm sein, denn sein Kulturhaus, das weiß man, zumal wenn man Journalist ist, sein Kulturhaus kennt ein jeder Bürger dieses Landes.

Schon will der Journalist David Groth den nächstbesten Bürger von Port Arthur nach dem Wege fragen, da kommen ihm Bedenken: Erstens ist ihm früh, bereits auf der ersten Etappe seiner Laufbahn als Zeitungsmann, eingebleut worden, den Nächstbesten auszulassen, wo es um Erkundung geht – und verdankt er diese Bleue nicht einem gewissen Kollegen Gabelbach? –, zweitens aber ist ihm, als wären die Züge der Bewohner Port Arthurs von Grimm gezeichnet, oder ist es nicht Grimm, ist es Hadersucht vielmehr, Habsucht gar, zieht sich nicht Kriminelles durch diese Physiognomien, und dienten nicht gerade Laubenkolonien allem Gelichter als Zufluchtsort?

Die wird er besser nicht nach dem Wege fragen, er, Hilfszahlmeister Groth mit einem Sack voll volkseigenem Moos auf dem Buckel! Der gescheite Genosse Groth kam einfach nicht auf die Idee, die Leute, die so früh durch die Gartenwege eilten, könnten in die Richtung wollen, die er selbst noch suchte, und es ahnte ihm auch nicht, das Fehlen von Frohsinn in den Gesichtern könnte mit den Morgenmeldungen der Radios zusammenhängen, mit Frühaufstehen am Sonntag und mit Sorge um das Ersparte; und daß es ihm nicht in den Sinn kam, die scheinbare Finsternis in den Augen der Port-Arthur-Siedler sei am Ende Ergebnis psychischer Täuschung, sei auf den Argwohn zurückzuführen, zu welchem Menschen neigen können, wenn sie zweihundertachtzigtausend Mark durch unbekanntes Gelände schleppen, daß David Groth darauf nicht kam, wundert niemanden, der David Groth schon ein wenig kennt.

Langsam ging diese Parteileitung dem Parteimitglied Groth auf die Nerven. Wenn sie sich begnügt hätte, eine kurze kritisch-sachliche Darstellung der Ereignisse vom dreizehnten Oktober zu liefern, um ihn an Verfehlungen zu erinnern, das hätte er hingenommen, aber jetzt befaßte die sich hier mit psychischen Täuschungen und verwandelte sich allmählich in ein Konsilium von Psychologen, Psychiatern gar, das war nicht mehr parteigemäß, und prompt dachte David etwas sehr Unparteigemäßes, er dachte nämlich: Wartet nur, euch wähle ich nicht wieder!

Als wären sie doch zumindest gute Psychologen, schalteten die Leitungsmitglieder an diesem Punkt plötzlich von epischer Breite auf anekdotische Kürze und trieben den Chorbericht vom Langen Marsch durch Port Arthur rasch an sein politisch bedeutsames Ende. Also, hieß es kurz, der verirrte Geldsackträger traute sich nicht, nach dem Weg zu fragen.

Item: Dann fragte er ein Kind; das schickte ihn nach Port Arthur IV; dort war aber die Bierbude »Land in Sonne«, nicht jedoch das Kulturhaus.

Item: Dann rief ihm ein Männlein über die Ligusterhecke: »Hierher!« Das Männlein erwartete den Kollegen eines Neffen, der Holzabfälle aus dem Sägewerk zu besorgen versprochen hatte. – Kleine Verwechselung, große Mühe, sie aufzuklären: Das Männlein war mißtrauisch, glaubte, es sollte betrogen werden ums Holz, wollte unbedingt den Inhalt des Sackes sehen. – Hastiger Aufbruch Davids, fast Flucht, fast Gewalt, nur fort, und natürlich in die falsche Richtung.

Item: Es begann zu regnen: Hält der Geldsack dicht? Nehmen Port Arthurs Bürger feuchte Penunse? – Umsichtige Maßnahme des umsichtigen David: Er will sich einen Schirm leihen! Ergebnis: Ein wildfremder, mit einem Sack beladener Mensch erscheint sonntags früh kurz nach sieben in der Wohnlaube des Bürgers Könagel, dort werden eben die Kinder gebadet, dreie! Geschrei, eine Lügengeschichte, fünfzig gerade noch gültige Mark zum Pfand, Schirm her, raus, ehe Bürger Könagel sein Radio anmacht!

Item: Klägliches Rufen einer alten Dame; der Ruf gilt David Groth, der den Veilchenstieg daherkommt, mit der einen Hand einen Sack mit zweihundertachtzigtausend Mäusen in der Balance und mit der anderen einen Schirm darüber hält. Die alte Dame steht auf einem Küchenstuhl und versucht, ein dickes Päckchen unterm Laubendach hervorzuzerren. Ein Brett muß angehoben werden, David soll es tun. Er tut es, steigt auf den Sack voll neuer Kröten, auf dem Stuhl ist nicht Platz für zwei. – Es ist nämlich Geldumtausch heute, sagt die alte Dame, und der Platz unterm Dach ist ihr sicherstes Versteck, und gleich geht sie das Ersparte einwechseln, im Kulturhaus von Port Arthur soll es sein.

Item: David Groth, genannt auch: der Findige, David stellt sich im Veilchenstieg auf die Lauer; ein Viertelstündchen, und die alte Dame verläßt ihr Heim, unterm Arm ein Päckchen, trippelt sie den Veilchenstieg entlang Richtung Kulturhaus, und im Abstand von dreißig Schritt tappt unter der Last von zweihundertachtzigtausend Mark und einem Regenschirm der Genosse Finanzhelfer Groth hinterher, der Mann mit dem Konterschlag, der so seinen Weg doch noch fand ins Kulturhaus von Port Arthur.

Und als er ankam, waren schon alle da: die anderen Helfer, die Polizei, die Kinder, die Rentner, die Schichtarbeiter, die Witwen und alten Damen, die jungen Mütter und die Familienväter – und auch die Gerüchte waren schon da und der Unmut und der Zorn und die Wut und der Haß, und auch der Regen war schon lange da, nur nicht die Schlüssel zum Kulturhaus, die hatte David, nur nicht das Geld, das hatte David, nur nicht David, der hatte sich ein wenig übernommen, und für den politischen Schaden im Bewußtsein von Port Arthur hat er eine strenge Rüge bekommen.

Das ist eine Überspitzung, wollte David sagen, als er gewahrte, auf welche Pointe die Parteileitung ihren Bericht getrieben hatte, es handelte sich nicht um eine strenge Rüge, sondern lediglich um eine einfache – aber er unterließ den Einwurf: Sie hätten ihm doch nur entgegnet, mit streng sei nicht das Offizialprädikat gemeint gewesen; gemeint gewesen sei eine Bezeichnung für den moralischen Schub, mit dem sie ihm den Tadel ins Gewissen getrieben hätten, hätten treiben wollen – aber sie sähen schon: Es hatte wohl nicht ausgereicht.

Den Gedankenanschluß wollte David seiner Leitung verbauen, und deshalb hielt er seinen Mund verschlossen, schloß aber gleich auch noch die Ohren, denn ihm war es nun genug der Belehrung, wußte jedoch, denen war es noch lang nicht genug; die würden jetzt den anderen, den älteren Fall solistischer Abweichung rügen und sich wieder einmal entrüsten über ihn und sein Zwiegespräch mit Dr. Konrad Adenauer, Bundeskanzler der deutschen West-Republik damals und eben im Begriffe, einen weiteren Ehrendoktorhut in Empfang zu nehmen.

Das krumme Ding hatte ihm einen Verweis gebracht, und David hütete sich zu sagen, daß ihm der Eintrag niemals die Freude vergällt hatte an diesem so richtig schön krummen Ding.

Dabei hatte Johanna Müntzer von Enttäuschung gesprochen und David auf längere Zeit unter jene eingereiht, die jetzt hier lernen sollten und hier jetzt nichts mehr lernten, weil sie verdorben worden waren in unmenschlichen Zeiten.

Sie nannte den Adenauer-Coup eine Provokation und entsann sich, daß ausgerechnet das Wesen der Provokation Gegenstand erster Belehrung des David Groth durch Johanna Müntzer gewesen war.

»Hast du diesen Adenauer und diesen Suhr-Senat und diese Stumm-Polizei provoziert?« fragte Johanna.

»Ja, hab ich«, antwortete David, »aber doch wohl umgekehrt!«

»Wie umgekehrt?«

»Klassenmäßig umgekehrt. Ich habe die Methoden des Klassenfeindes gegen den Klassenfeind angewandt. Ich bin in das Lager des Klassenfeindes eingedrungen und habe das Lager des Klassenfeindes durcheinandergebracht.«

»Klar«, sagte Leitungsmitglied Kutschen-Meyer, »zwischen mußte donnern, sonst wird nischt!«

»Genosse Meyer«, sagte Johanna, »ich wende mich gegen diese Max-Hölz-Parolen. Wir alle wissen, daß dir die sechsspännigen Methoden des Genossen Groth gefallen müssen, aber wir haben hier jetzt andere Zeiten. Außerdem sind dir die konkreten Umstände, die wir jetzt hier diskutieren, nicht bekannt, weil du zur Schulung warst, oder nicht?«

»Doch«, sagte Kutschen-Meyer, »stimmt, und studieren mußte, sonst wird nischt.«

David merkte, hier war ein Bundesgenosse, potentiell, und er sagte rasch: »Wenn Genosse Meyer mitentscheiden soll, dann muß er auch wissen, worum es sich handelt. Ich schlage vor, ich fasse es noch einmal zusammen: Also, ich habe Eintrittskarten für Adenauers Ehrenpromotion besorgt, hundert …«

»Besorgt ist ein Euphemismus für erschwindelt«, warf Johanna Müntzer ein.

»Ich habe«, sagte David, »denen von der Studentenvertretung in Charlottenburg erzählt, ich wüßte von vielen Kommilitonen an der Humboldt-Uni, daß sie brennend gern einmal Herrn Adenauer sehen würden. Das war nicht geschwindelt; ich habe nur die Motive des brennenden Interesses unerwähnt gelassen. Ich habe die Studenten an der TU überzeugt, für das unteilbare Deutschland ist es besser, sie geben mir die hundert Karten. Die habe ich ja auch wirklich an Studenten der Humboldt-Uni verteilt, neunundneunzig.«

»Und hast sie zu der Annahme gebracht, die Partei stünde hinter dir«, sagte Johanna.

»Ich war dieser Annahme, Genossen. Ich gebe zu, ich habe dieses angenommen, sonst hätte ich es doch unseren Studenten nicht gesagt.«

Johanna wandte sich an die anderen Leitungsmitglieder. »Entschuldigt, wenn ich diese Diskussion an mich reiße, aber durch täglichen Umgang mit diesem Menschen kenne ich ihn etwas besser als ihr. Er verdreht einem das Wort, wenn man es nicht festhält. Er hat eine Extraecke für Einfälle im Kopf, da muß man achtgeben. Komm zur Sache, David!«

»Ich bin zwar bei der Sache, aber wenn du mich nicht ausreden läßt, Genossin Müntzer!«

Kutschen-Meyer brummte: »Ausreden muß einer können, sonst kommt keene Klärung.«

»Also«, sagte David, »die Studenten von der Humboldt sind mit hin nach Charlottenburg. Ich habe ihnen nicht gesagt, wir machen eine Provokation; ich habe gesagt, wir machen mit dem Adenauer eine Diskussion, und allenfalls, wenn der nicht will, machen wir eine Demonstration. Die wußten Bescheid: Ich nehme den Adenauer bei einem passenden Wort, und wenn er nicht gleich antwortet, gehen wir raus, weiter nichts, wir gehen raus, wir zeigen durch unsere Haltung, der Mann ist unser nicht würdig.«

»Genossen«, sagte die Herausgeberin der NBR, »ihr wißt ja, wie diese Diskussion ausgesehen hat. Unser Anarchist hier hat dem Adenauer etwas zugerufen, das er wohl für ein politisches Argument hielt, und dann ist der halbe Festsaal aufgestanden und rausgelaufen.«

»Klar«, sagte Kutschen-Meyer, »bei sonne Gelegenheit mußte dich verständlich machen, denn es kommt auf das Verständnis an.«

»Und außerdem«, rief David, »war es nicht der halbe Saal, es waren dreiviertel. Die TU-Studenten sind mit uns rausgegangen, viele wohl nur aus Spaß am Krawall.«

»Klar«, sagte Kutschen-Meyer. »Und wat hat nu der Adenauer zu det Theater gesagt?«

David genoß das. »Nach meinem Zwischenruf hat er erst einmal gar nichts gesagt. Als an die fünfhundert Studenten rausliefen, hat er auch nichts gesagt. Der wollte sich doch seinen Doktorhut abholen, und nun schnurren die Kameras, und die Mikrophone recken die Hälse, und unten ringt der Senat die Hände und wartet auf ein passendes Wort; da fehlte es ihm. Allerdings, als ich an der Tür war und der Saal dreiviertel leer, da ist ihm seine gerühmte Schlagfertigkeit zurückgekommen, höchstens drei, vier Minuten zu spät, da hat er gerufen und mit dem Finger auf mich gezeigt: ›Wartense nur, meine Damen und Herren, eines bin ich jewiß: den da werden wir auch noch bekehren!‹«

»Ick hoffe«, sagte Kutschen-Meyer, »dem wirste wat husten!«

»Und ich hoffe«, rief Johanna Müntzer, »jedermann sieht hier jetzt, welch eine Situation der Genosse Groth durch seine Eigenmächtigkeit auch noch heraufbeschworen hat: Er hat der Stumm-Polizei eine Handhabe gegeben, auf die Studenten einzuschlagen.«

»Ist doch nicht wahr«, rief David, »die Polizei hat gedacht, die Fete ist vorbei. Einer stand Posten, und als die Massen die Treppe runterkamen, hat er gefragt: ›Schon aus?‹, und die Studenten haben geschrien, klar, es sei aus, und da haben die Polizisten die Skatblätter eingesteckt und raus, und die Wagen sind vorgefahren, und als ich runterkam, standen sie schon Spalier. Kein Knüppelschlag, nur stramme Haltung – ich weiß gar nicht, was du immer mit mir hast, Genossin Müntzer!«

»Was ich immer mit dir habe? Ich habe die Verantwortung mit dir, Mensch! Schinderhannes konntest du in deinen Ratzeburger Wäldern spielen, Robin Hood von mir aus im holsteinischen Busch, aber der Klassenkampf ist von Karl Marx und nicht von Karl May! – Ich beantrage, dem Genossen Groth einen Verweis zu erteilen, und zwar wegen Wichtigtuerei und politischer Eigenmächtigkeit, um nicht von Anarchismus zu reden – und einen Verweis auch nur, weil es gerade noch einmal gut gegangen ist, aber soviel ist hier jetzt sicher, Menschenskind, noch so ein Verstoß gegen die Parteidisziplin, und ich beantrage eine Rüge!«

Nun ja, er hatte seinen Verweis erhalten und einige Jahre später auch seine Rüge und jetzt, wieder ein Jahr später, wies seine Parteileitung das Ansinnen zurück, sie solle die Sache Gabelbach untersuchen; für sie gab es keine Sache Gabelbach, und jene, die es einmal gegeben hatte, war geklärt.

Aber nicht geklärt, unklar schien das Weltbild David Groths zu sein – die Parteileitung ließ es ihn wissen und forderte ihn auf, sich und seine Haltung zu prüfen und sich einmal der Frage zu stellen, wer denn am Ende wohl klüger sei: er oder die Partei.

Nein, sagte die Parteileitung, sie bestreite nicht sein Recht, Fragen vorzubringen, und sie drücke sich nicht vor ihrer Pflicht, Antworten zu geben, aber sie verhandle mit niemandem, der mit gezücktem Terzerol daherkomme, bereit, jeden über den Haufen zu knallen, der ihm nicht in seine Vorstellungen folgen wolle.

Wozu also habe sie hier der Soli und Salti des Genossen Groth noch einmal Erwähnung getan?

Der Warnung wegen vor schnellem Schuß und kurzem Schluß, und damit Ende für heute: Zieh einen Strich von Adenauer her über Port Arthur bis zu deinem heutigen etwas bengalischen Hintritt vor die Parteileitung und versuche, deine Spur zur Deckung zu bringen mit dem, was Parteilinie heißt; wir fürchten, die beiden gehen nicht ineinander auf, nicht einmal Parallelen werden sie sein, wüstes Geschlängel steht zu erwarten; das bedenke erst einmal in Ruhe, dann reden wir in Ruhe weiter.

»Ick versuch det jetzt schon mal«, sagte der Genosse Kutschen-Meyer und ging mit David hinaus.

In der Kantine holte er zwei Bier vom Tresen, steckte sich eine Zigarre an, seufzte und hustete, klebte zweimal die Zigarre, wischte mit dem Taschentuch an seiner trockenen Nase herum, rückte seinen Stuhl näher an Davids heran, und dann erst redete er: »Zuerst mal zu dem Gabelbach. Nehmen wir an, ich hätte den fünfundvierzig getroffen oder sechsundvierzig oder auch noch siebenundvierzig, im Anfang, meine ich, und denn hätte mir einer gesagt: Du, der hat bei Goebbels mitgemacht, Bücher hat er gekokelt und arische Reinigung betrieben – was meinst du, wo ich eine Kleinigkeit später gewesen wäre? Bei meinem alten Knastgefährten, dem Genossen Polizeipräsidenten, und zwar in seinem Knast: Schwere Körperverletzung. Und aus der Partei wäre ich raus gewesen, nach dreißig Jahren, wegen individuellem Terror.

Entschuldige mal, wenn ich das sage, aber Gründe, daß ich dem die Gräten breche, die hatte ick ’n paar mehr als du. Das ist kein Vorwurf gegen dich; du warst nur nicht alt genug für meine Gründe. Ist ja auch Grund genug, wenn einer Bücher verbrennt. Den Kerr, den kenn ich nicht, aber von denen, die sie auch noch verbrannt haben oder verboten, von denen kannte ich viele. Ick bin mit Erich Weinert auf ’m Wedding rumgemacht; den Becher sein Motorrad hab ich mal gestemmt, dreimal über den Kopf, da war der noch so wild, kein Gedanke an Minister; na, und der Wladimir und die Anna, die so schön war, aber Haare auf den Zähnen; sogar mit Brecht hatte ich einmal zu tun, der kam mir damals ziemlich albern vor.

Also, Gabelbach war gut dran, daß ich nicht gleich wußte, wo er mitgemischt hat, und ich war auch gut dran.

Dann, eines Tages, da hat er schon eine ganze Weile hier gearbeitet gehabt, immer saubere Arbeit, weißt du ja selbst, ist er hin zu Johanna und hat ihr klaren Wein eingeschenkt. Die ist hin zum ZK, und denn hatten wir Leitungssitzung; Xaver Frank war auch mit bei, der ist extra rübergekommen; ick werde den Verdacht nicht los: meinetwegen. Wir haben Gabelbach seine Erklärung gelesen, dann haben wir mit ihm geredet. Ich nicht, ich hatte eine Stinkwut, aber laß nur, Johanna auch, wir alle eben.

Ich habe nur gewartet, daß er das Persil rausholt und die große Reinwaschung anfängt: Er hat mal einen Juden gekannt und hat ihn auch fünfunddreißig noch gegrüßt, oder er hat einem Polenmädchen einen Kamm geschenkt, den er selber noch hätte brauchen können, und diese feinen Histörchens. Allerdings, dieses war nicht.

Wieso er vierunddreißig das Studium aufgegeben hat? – Daraus hätte er eine große Rede machen können; wer hätte denn mit ihm streiten sollen, wenn er was von Reue erzählt hätte oder wat von Einsicht und bewußter Abkehr von den germanischen Studien?

War aber nicht die Rede davon bei ihm. Allenfalls, hat er gesagt, ist er mit den Widersprüchen nicht fertig geworden, und die Lösungen, die sich anboten, die sich angeboten haben, die wollte er nicht. Sagt er. Da hat er denn Fotograf gelernt, noch mal als Stift, und denn ist er bei der ›Geflügel-Börse‹ untergekommen; das war eine Zeitung für Taubenzüchter.

Von da an hat er nur noch preisgekrönte Hühner geknipst und war bloß noch in der Arbeitsfront. Mußte er ja, sonst war nischt mit Arbeit.

Kann einer sagen, wat er will: Erst Student und lustig, und denn Hühnerfotograf: Ein Wechsel war das schon.

Und das hat mir gefallen: Als sie in der Leitung gefragt haben, ob er zu dem Geflügel gegangen ist, weil es unpolitisch war, hat er gesagt, nee, es war was bei zu verdienen.

Lang hat die Freude ja auch nicht gewährt; Polen, Frankreich, Griechenland, Afrika, Italien retour, ab nach ’n Mississippi in Gefangenschaft, da ist er krank geworden, und Frühjahr fünfundvierzig war er zu Hause.

Stabsgefreiter war er, das zeugt nicht gerade von Aktivität, Bildauswerter in so einem Divisionsstab; ist geprüft worden.

Nee, Junge, der hat sich ein böses Ding geleistet, und dann nichts mehr. Keine Ruhmestaten, aber auch keine Schweinereien.

Nu is er ja auch religiös, soweit man weiß, vielleicht hat das mitgespielt.

Mit einem Wort: Man kann nicht sagen, seine Vergangenheit interessiert keinen, aber man kann sagen: Seine Vergangenheit ist eine Vergangenheit. Du verstehst, vorbei ist die, lange weg.

Natürlich: Freund werde ich nie werden von dem, aber das verlangt auch keiner. Nur, was sie von uns allen verlangen können, von mir, von dir, das ist, daß wir uns nicht aufspielen und Theater machen, wenn uns was nicht gleich einleuchtet.

Ich kann mir vorstellen, warum du dich aufgeregt hast: Weil das ’n bißchen mit Gespensterei zu tun hat oder wenigstens so aussieht. Du denkst auch, die Vergangenheit ist weit, weit weg; die ist aber bloß dreizehn Jahre weg, Junge.

Das macht man sich nicht klar, und dann fährt einem das in die Glieder, wenn man merkt, der Nebenmann war schon bei den alten Germanen dabei, oder man selbst hat schon zu Zeiten der alten Germanen gelebt.

Der große Trick von unserer Gegenwart ist eben, daß der Abschied von eine ungeheuer lange Vergangenheit gerade erst stattgefunden hat, und daß ein paar Stücke Zukunft auch schon anzutreffen sind, alles durcheinander, und da kommt einem auch das Zeitgefühl durcheinander. Gerade schaffen wir die Fleisch- und Fett- und Zuckermarken ab, also ein Stück Krieg und germanische Vergangenheit, und zur gleichen Zeit verabreden wir, daß nun eine Erdölleitung rüberkommt, vom Kaspischen Meer rauf bis hier, und an der hängt natürlich für uns jede Menge Zukunft.

Nun glaube ich aber, daß eine von den wichtigsten Aufgaben, die der bewußte Mensch heute hat, die er einfach bewältigen muß, die ist, daß er sich einen richtigen Zeitbegriff macht.

Ich meine, wann er lebt; wie die historische Lage da ist.

Natürlich, wichtig war das schon immer. Wenn ich so sehe, jetzt bei der Schulung kam ich mal drauf, wie Marx und Engels sich rumgetastet haben, um rauszufinden, wo sie eigentlich sind, wie die Lage ist – das war anstrengend, glaub ich.

Anstrengen muß man sich schon, sonst wird ebent nischt.

Die historische Lage ist so, daß wir hier nicht auf Schulung sind, entschuldige!

Als der Krieg zu Ende war, mußte man auch rausfinden, wie die historische Lage ist. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man fing an, endlich anständige Arbeit zu machen, und zwar mit allen, die mitmachen wollten – die richtigen Banditen natürlich ausgenommen; oder aber man konnte sagen: Alle, die mit den Braunen zu tun hatten, haben hierbei nischt zu suchen – da hätten wir denn wohl das Volk abschaffen müssen; komischer Gedanke, nicht? Ick sympathisiere mit deine Aufregung, David, aber billigen kann ich sie nicht, weil sie nicht richtig historisch ist. Für deine Extratouren hab ich viel übrig, aber eines, das sage ich dir mit mein’ vollsten Ernst, eines ist für einen Genossen die furchtbarste Scheiße, in die er geraten kann: daß er meint, er ist schlauer als die Partei.

Wenn du es genau nimmst, David, denn haste eine Menge Wirbel veranstaltet und eigentlich nur allen Leuten den Nerv gestohlen. Ich werde es mal folgendermaßen ausdrücken: Du hast etwas Unverhältnismäßiges aufgezogen. Hättest du gefragt, von mir aus energisch und wütend: Wie liegen die Dinge?, dann hätten wir das ganze Theater nicht nötig gehabt. Das halbe vernünftige Leben besteht aus Frage und Antwort, aber eben das vernünftige.

Bloß, du wolltest ja nicht Antwort, du wolltest Rechenschaft, und da sind wir zur Zeit alle ein bißchen empfindlich.

Wenn ick dir einen Rat geben darf: Halte dich ruhig für schlau, halt dich von mir aus sogar für schlauer als jeden anderen, trotzdem das natürlich schon gefährlich ist, aber glaube nie, du kannst gegen die zusammengelegte Schlauheit der anderen ankommen. Die Partei ist – wenn wir nun schon einmal über so etwas reden – in meinen Augen genau das: zusammengelegte Schlauheit.

Aber zu dem kommt ja nun noch eine ganz andere Art von Schlauheit, sagen wir mal, Erfahrung. Sagen wir mal, es geht um eine konkrete Frage, nehmen wir Lohnerhöhung, vielleicht zwei Prozent.

Das mindeste, was du da bei der Partei findest, ist die Erfahrung von tausend verschiedenen Plätzen, an denen sie das gleiche Problem hatten. Von Indien bis Island, bei den Japanern und bei Krupp, wo du willst. Natürlich, die Lage ist immer verschieden, aber was Gemeinsames ist auch immer da, wat bekanntlich die Gesetzmäßigkeiten sind. Wer will denn nun eine Partei schlagen, die die Antworten auf tausend Fragen von Indien bis Island und Krupp eingesammelt hat und dann sortiert und dann ausgewertet? Wer will denn gegen soviel zusammengelegte Schlauheit an?

Meine Überzeugung: Von außen ist da nischt zu wollen!

Von innen allerdings, das ist eine andere Frage. Haben wir ja gesehen, wie das geht.

Ich bin kein Spezialist für Widersprüche, aber soviel scheint mir klar: Wenn du als Partei dafür kämpfst, daß deine Mitglieder aufhören, ihre Kräfte zu unterschätzen, dann kriegst du, als Partei, sicher irgendwann mit dem Problem zu tun, daß sich nun einige überschätzen.

Junge, ick sage dir: Die dicken Dinger, die kommen noch, wenn wir uns nicht drauf einstellen.

Deshalb ist es gut, wenn wir uns gleich den Magen reinemachen; det ist zwar unangenehm, aber nicht tödlich.

Und vor Ungerechtigkeiten sind wir da nicht gefeit. Vielleicht war das ungerecht, daß die Leitung dir die alten Sünden vorgeführt hat, wo du eine an sich berechtigte Frage hattest. Bloß war sie als Frage kaum noch zu erkennen. Du hast die geschwungen wie ’ne Axt.

Gabelbach hat sich vor fünfundzwanzig Jahren wie ein dummes Schwein benommen – ick lege auf beide Wörter Wert! – und seitdem, soweit man es übersehen kann, wie ein anständiger und vernünftiger Mensch. Was man übersehen kann, ist jedenfalls anständig und vernünftig, aber det müßtest du durch deinen täglichen Umgang eigentlich besser einschätzen können als ich.

Richtig einschätzen mußte, Junge, sonst wird nischt!«

Er trug die beiden leeren Gläser zurück an den Tresen, steckte seine Zigarre wieder an und schaukelte schwer und vorsichtig durch die Kantine davon, ein besorgter Elefant, ein Riese mit Problemen, eine ungeheure Wohltat: der Genosse Kutschen-Meyer.

David entsann sich gut: Damals, nach dieser seltsam umschweifenden Predigt, hatte er noch lange in der Kantine gesessen, hatte noch lange der Leitung gegrollt und ihr die politische Rechnung gemacht: Oh, er hatte einiges gefunden, was er der Leitung hätte anlasten können, und wo sich im vorhandenen Sündenkatalog die passenden Bezeichnungen für die Abirrungen seiner Leitung nicht finden wollten, da zeigte sich David erfinderisch, zeigte sich lange noch als ein verletzter Mensch voll Einfallsreichtum, ehe er sich allmählich dann doch wieder als ein Genosse bewährte, der fähig ist zu dem Gedanken: Vielleicht aber haben die anderen recht?

Diesen Gedanken denkt niemand in einem Zuge, niemand jedenfalls, der wie David ist; es ist eine Idee, die unerträglich scheint. Deshalb tritt sie zunächst nur in Ansätzen auf, ein Schimmer eher als ein erleuchtender Schein. Dieser Gedanke kommt nicht mit geraden, zielsicheren Schritten; er wird getanzt, tastend, stolpernd, ohne erkennbare Choreographie; erkennbar sind nur schwache Vorsätze und starke Widerstände, und das Mittel daraus scheint die Ausflucht zu sein.

So schwer wälzt sich kein Stein hügelan, wie es sich denkt, die anderen könnten im Recht sein – aber das Dumme ist: Ist man in der Partei, dann muß der Stein hinauf.

Und das Gute ist: Er kommt hinauf; hier hilft der gute Wille viel. Und gut ist: Die Parteileitung hat sich lange vernehmen lassen, nun schweigt sie und stört nicht weiter. Sie stellt nicht zurückwerfende Zwischenfragen, erkundigt sich nicht nach dem Denkprozeß, unterläßt alle Ermunterung – da kommt David voran.

Zu einem bedeutenden Ende kommt es nicht; es kommt einfach zu einem Ende: Man spricht nicht mehr davon.

Freilich, die Sache mit Gabelbach dauerte etwas länger. Es blieb David nichts anderes, als den Gedanken an jenen Gabelbach abzusperren, abzudrängen, fortzudrücken aus den Gesprächen, den notwendigen Besprechungen, den ganz normalen Unterhaltungen mit diesem Gabelbach; es blieb nur, jenen von diesem zu trennen, zwei Personen aus der einen zu machen und die eine zu vergessen.

Das ging auch, aber nur durch längere Übung.

David hatte zunächst gemeint, irgendwann werde es seine Pflicht sein, mit dem Fotografen ein offenes Wort zu wechseln, ihm die Skrupel zu gestehen und die Fragen zu stellen, aber das Problem verlor an Dringlichkeit mit jedem Arbeitstag, der von David und Fedor Gabelbach das gleiche verlangte.

Und von der Art waren, genau besehen, alle Tage der seither vergangenen neun Jahre gewesen. Diese neun und die dreizehn vorausgegangenen dazu waren mehr als nur eine bestimmte Menge verstrichener Zeit; es war ein Zeitraum, in dem zwei sehr verschiedene Leute unablässig auf ein und denselben Gegenstand, auf dieselbe Aufgabe, auf gleiche Probleme, auf ähnliche Pflichten gesehen hatten; sie nicht allein, aber sie auch und sie nicht zuletzt hatten die NBR aufgebaut, ausgebaut, verändert, verbessert, verteidigt; die Rundschau war ihr gemeinsamer Nenner.

Mehr war ihnen kaum gemeinsam, war es nicht gewesen und wurde es nie. So intim beinahe ihr Zusammenspiel bei der Arbeit war, so abgesperrt verlief das übrige Leben des einen von dem des anderen, und das war, gemessen an den landesüblichen Verhältnissen, schon recht seltsam und fast unerträglich für Johanna Müntzer, die eine so dauernde Fremdheit für unmenschlich hielt.

Aber David und Gabelbach gerieten niemals auch nur in die Nähe jenes Bezirks, in dem bei gemeinsamem Umgang mit derselben Sache mehr als sachliche Gemeinsamkeit entsteht, freundliche Kollegialität etwa oder gar Freundschaft.

Vertraulichste Berührung hatten sie noch, wenn es einen gemeinsamen Gegner niederzuhalten galt, und zu Höhepunkten der Herzlichkeit kam es, wenn Gabelbach zu passendem Anlaß den Korrespondenten Franz Hermann Ortgies zitierte oder wenn David wieder einmal die abseitigen Bilder an Gabelbachs Wand genoß, und ein Gipfel der Innigkeit wurde erreicht, als der Chefredakteur Groth sich mit dem Leiter der Bildabteilung, Fedor Gabelbach, über Franziskas Chancen zum Gorki-Jahr ausgetauscht hatte und fast in die Versuchung geriet, dem Kollegen Gabelbach nun doch ein wenig von dem zu erzählen, was alles sonst noch im Jahre achtundfünfzig los gewesen war.

Doch David ließ gleich wieder von dem Gedanken; er stieß sich fast gewaltsam von ihm ab, schwang sich zurück in den Bereich der Sachlichkeit, wollte aber auch wieder nicht unfreundlich wirken bei soviel aufgeschlossener Freundlichkeit des Kollegen Gabelbach, und deshalb sagte er: »Ich habe neulich bei Kisch eine schöne Bezeichnung für eine bestimmte Bildergattung gefunden. Er beschreibt da die Sensationsaufnahmen in einer Prager Zeitung als ›Momentphotographien im Augenblicke der Mordverübung‹ – könnte Ihnen das was sein?«

Gabelbach lachte beinahe. »Im Augenblicke der Mordverübung?« sagte er. »Das könnte auch von Ortgies sein. – Aber was ist mit diesem Eilauftrag: Bildbericht über Getreide-Dispatcher Krell? Darf ich da fragen: Seit wann geben Sie Bilder in Arbeit, ohne das mit mir abzustimmen? Und wieso ist das eilig; warum sollen wir einer Aufnahme wegen, auf der ein Mensch vor einem Haufen Hühnerfutter zu sehen ist, warum sollen wir deswegen den Arbeitsplan umstellen? Wollen Sie mir bitte einen Grund nennen, warum Sie dieses Schrot-und-Korn-Verwalters wegen meinen Wirkungsbereich, in den ich unter Mühen einen Anflug von Ordnung habe bringen können, warum, Herr Kollege, Sie diesen friedlichen Bezirk nun mit Chaos bedrohen? Überdies hätte ich gern gewußt, ob es sich bei dem Hafer-und-Weizen-Verteiler, von dem Sie eine völlig außerplanmäßige Momentphotographie im Augenblicke der Körnerzählverübung wünschen, ob es sich bei diesem Herrn Krell etwa um einen näheren Verwandten unserer verehrlichten Frau Kaderleiterin handelt, einen Herrn Sohn oder einen Herrn Enkel vielleicht?«

»Na, na«, sagte David, »so alt ist sie ja nun auch wieder nicht!«, und an Gabelbachs Antwort merkte er, daß er es etwas zu hastig gesagt hatte, denn Gabelbach entgegnete: »So? – Nun, wenn Sie es sagen – ich kenne mich da nicht so aus.«

Und David dachte: So, du kennst dich nicht so aus? Bis eben habe ich das auch angenommen; nun weiß ich es anders. Bis eben hab ich gedacht, die Sache mit Carola und mir hat nur der liebe Botenmeister Ratt gewußt. Das zerspant mich: der Gabelbach auch!

»Herzlichen Dank für die Erinnerung«, sagte er, »ich habe mich heute morgen zu einer Intrige verpflichtet; an der muß noch gearbeitet werden. Die Bilder vom Dispatcher gehören dazu, und wenn später einmal eine Geschichte daraus geworden sein sollte, erzähle ich sie Ihnen, einverstanden?«

»Solange Sie nicht verlangen, daß ich Ihre Geschichten auch noch verstehe, Herr Kollege«, sagte Fedor Gabelbach.