Zur Amtszeit des Nachfolgers des Nachfolgers des Nachfolgers von Kutschen-Meyer, zur Amtszeit des dritten ordentlichen und ausübenden Chefredakteurs der Neuen Berliner Rundschau also, fand David im Wirtschaftsdienst vom ADN eine Meldung, die ihm sehr gefiel.
Nach der geltenden Ordnung hätte er sie Jochen Güldenstern zuleiten müssen, denn der war für Wirtschaft zuständig, und auf Zuständigkeiten wurde seit dem Amtsantritt des dritten Nachfolgers sehr gehalten. Aber David nahm die Meldung an sich und ging zu Johanna Müntzer. Auch das war nicht in der geltenden Ordnung. Ordentlich war es vielmehr, daß, wer eine Idee hatte, diese in der Wochenberatung oder in dringenden Fällen sogleich und zuerst dem Chefredakteur vortragen mußte. Das hatte seine Logik; es straffte die Organisation, erhöhte die Operativität, stärkte die Stellung des Chefs und dämmte den Einfluß Penthesileas ein.
David nahm an, gerade dieser Punkt sei im Auftragskatalog des dritten Nachfolgers nicht gerade der allerletzte. David verstand das, und halben Herzens billigte er es sogar. Wenn Johanna »jetzt hier« sagte, und sie sagte es immer noch sehr gerne, klang es immer noch wie die Beschreibung einer Wüstenei oder doch eines Minenfeldes, und die Skepsis gegen ihre Mitbürger hielt sich immer noch die Waage mit dem Vorsatz, ein neues Menschenbild zu formen. Die AIZ war ihr Fetisch geblieben und die Verirrungen zu Archipenko hin das große Schrecknis, und sie versuchte weiterhin, sich und andere auf die Beispiele der Großen Jahre zu orientieren, auch dort, wo die Großen Jahre schon aus historischen Gründen gar kein solches Beispiel hatten herleihen können.
Sie selbst blieb dennoch für David ein Beispiel, auf das er immer sah. Mochte sie ihn auch manchmal mit ihrem Argwohn gegen alles, was in den Großen Schriften nicht vorgesehen war, zur Verzweiflung getrieben haben – sie hatte ihn gezwungen, sie zu überzeugen, sie hatte ihn zum Denken gezwungen, zum Nachdenken und auch zum Vorausdenken.
Mochte sie auch oft über ihn hergefallen sein als Penthesilea – sie hatte ihn geschützt vor mancherlei Gefahr; vor der Gefahr des Hochmuts, der ein Partner zu sein schien der Geschicklichkeit, mit der David mit Worten umzugehen lernte; vor der Gefahr des Kleinmuts, der über ihn kommen wollte, wenn vor seinen Augen ein Traum oder, schlimmer noch, ein Stück Arbeit zu den Wolken verdampfte; sie hatte ihn zu schützen gesucht, nicht immer erfolgreich, aber doch so, daß er dem Selbstzweifel offenblieb; hatte ihn schützen wollen vor Eitelkeit, Siegestrunkenheit, Wehleidigkeit, Überschätzung seiner Kräfte, Unterschätzung seiner Kraft, blinder Hingabe und augenblitzender Kommandofreude.
Sie hatte ihn mit List vor Höhenrausch und Tiefenrausch bewahrt, indem sie ihn über Jahre in der Mitte hielt, ihn nicht aus der merkwürdig vag umrissenen Dienststellung eines Assistenten entließ, in der er gelegentlich zwar der mächtige Arm der Herausgeberin sein konnte, immer aber der Arm nur blieb von Johanna Müntzer.
Der dritte ordentliche und ausübende Inhaber des Spitzenplatzes im Impressum hatte auch dies geändert; ein wenig zwar nur, aber doch so, daß etwas mehr Ordnung ins Haus kam und etwas weniger Einfluß aus dem Büro der Herausgeberin in die Geschäfte der Redaktion. Im Stellenplan hieß David nun nicht mehr Assistent der Herausgeberin, sondern Redaktionsassistent, und die Weisungsberechtigung an ihn hatte der dritte Nachfolger selber inne.
David merkte bald, worauf das hinauslief; während er vorher eine Art Redakteur zur besonderen Verfügung gewesen war, vornehmlich zur Verfügung Penthesileas, und beinahe nach Herzenslust auf allen möglichen Hochzeiten hatte herumtanzen dürfen, wurde er jetzt mehr und mehr mit organisatorischen Aufgaben befaßt.
Auch das hatte seine Logik, denn unter den Oldtimern der Rundschau war er eine alte Hand, wußte um die Maschinerie des Hauses und den Mechanismus des Geschäfts und mußte dem dritten Nachfolger, der aus einer Tageszeitung gekommen war, hochwillkommen sein. Aber während David die allgemeinen Neuerungen zumindest halben Herzens billigte, sperrte er sich gegen diese spezielle Änderung aus ganzem Herzen. Er begriff, der Apparat bedurfte der kundigen Wartung – der hatte an Umfang gewonnen und wurde komplizierter mit jedem Jahr und war mit Faustregeln nicht mehr zu beherrschen –, aber er war Journalist und kein Verwaltungstechniker; er wollte sehen und hören und schreiben und nicht Akten durchsehen und Buchhalters Klagen hören und Grundmittelanforderungen schreiben.
Deshalb gefiel ihm die Meldung im ADN-Wirtschaftsdienst, deshalb leitete er sie nicht zu Jochen Güldenstern, deshalb ging er mit der Idee, die an der Meldung hing, nicht zu Nachfolger III und wartete auch nicht bis zur Wochenberatung, deshalb nahm er das Fernschreiberblatt und ging zu Johanna Müntzer.
»Ich hab was«, sagte er, »soll ich es vorlesen?«
»Das wird faul sein«, sagte sie, »wenn du zu mir damit kommst, wird es eine Intrige sein, natürlich eine positive Intrige, wie du so etwas nennst, aber positiv wird sie sein, sonst kämest du nicht zu mir; dann lies vor, du Mensch!«
David las: »Auf Einladung der British Gunsmith Association wird sich die volkseigene Jagdwaffenindustrie der DDR an einer Jagd- und Sportwaffenschau in London beteiligen.«
Sie überlegte, nickte und sagte dann: »Manchmal möchte man sich versündigen und rufen: Dieser verfluchte Klassenkampf! Da müssen wir nun auch noch mit Mordwaffen prahlen jetzt hier, damit man draußen einen Blick wirft auf die Republik; versündigen möchte man sich da!«
»Jagd- und Sportwaffen«, sagte David sanft.
»Daß dir nicht die Zunge zerreißt bei so einem Wort: Sportwaffen! Ich bin für den Sport; ich habe mehrere Allunionsspartakiaden gesehen … ach was, und du willst da hin zu diesen britischen Kanonenkönigen?«
»Die Gunsmith Association hat nichts mit Kanonen zu tun; das sind Büchsenmacher, die haben mit …«
»Ja, ich weiß, mit Sportwaffen haben die zu tun, ein sprachlicher Zynismus ist das, du weißt schon: Zynismus!«
»Ja«, sagte David, »ich weiß: Hundephilosophie.«
Sie lachten beide, dann fragte Johanna: »Und er weiß noch nichts davon?«
»Nein.«
»Und dieser ökonomische Mensch weiß auch nichts?«
»Jochen Güldenstern? Nein, der weiß auch nichts.«
»Und die Reportergruppe?«
»Auch die nicht. Es kam eben aus dem Schreiber.«
»Dann trag es morgen auf der Beratung vor, aber nicht so laut, hörst du, misch es unter Verschiedenes, aber mach dich gefaßt, es kostet Devisen, und es ist überhaupt ein Fall, bei dem alle mitzureden haben werden: der Buchhalter, die Reporter, der ökonomische Mensch, dieser Rosenkrantz, die Kaderleitung, Gabelbach wegen der Bilder aus Albion, die Außenminister auch, und natürlich er, der Genosse Chefredakteur; mach dich gefaßt!«
Sie hatte recht: Alle wollten mitreden, als die Gunsmith Association zur Sprache kam, auch wenn vorher beim allgemeinen Wochenplan nicht alle mitgeredet hatten.
Nachfolger III sah auf Ressortscheidung; es förderte die Effektivität, wenn zur Sache nur Fachleute sprachen, und an Fachleuten hatte es jetzt die Menge im Kollegium. So war die Rede in dieser Sitzung schön der Reihe nach und ruhig gegangen, bis David sein Verschiedenes verlesen und Johanna Müntzer sich aus dem Verschiedenen ein Item herausgefischt hatte, das sie zu interessieren schien: »Nicht so hastig, David, man kommt ja nicht mit. Möglich, daß andere mitkommen, aber ich bin etwas älter. Hast du nicht eben etwas von einer Industrieausstellung vorgelesen?«
»Industrieausstellung? Nein, davon war nichts dabei. Die gehörte auch nicht unter Verschiedenes, die hätte ich Jochen Güldenstern weitergereicht.«
»Aber du hast eben etwas von einer Ausstellung gesagt.«
»Ausstellung? Nicht daß ich wüßte, das heißt, doch, du hast recht, Genossin Müntzer, da ist eine Jagdwaffenschau, natürlich; entschuldige bitte, du hattest recht.«
»Gib mal rüber«, sagte Jochen Güldenstern, »das ist Leichtindustrie, da könnten wir ruhig mal wieder was machen.«
Gerd Korn von der Außenpolitik meldete sich: »Ich würde es auch gern sehen; soll es nicht in London sein?«
»Ich geb es dir«, sagte David, »ich suche es gleich raus, nur, weißt du, es waren, glaub ich, Jagdwaffen. Sind die auch Außenpolitik? Waffen, das möchte sein, aber Jagdwaffen auch?«
»Eindeutig Leichtindustrie«, rief Jochen Güldenstern, »schmeiß rüber, das muß sich die Wirtschaft näher ansehen.«
»Ansehen ist mein Stichwort«, sagte Gabelbach, »mag auch ungeklärt sein, ob es sich um Außenpolitik oder Wirtschaft handelt, das geht ohnehin unübersichtlich ineinander über, aber zum Ansehen ist so eine Jagdwaffenschau zweifelsfrei geeignet, und London ist dazu auch recht geeignet, aber ansehen kann man nur, was fotografiert worden ist. Machte ich mich deutlich?«
Helga Gengk von der Reportergruppe nickte ihm zu. »Sehr deutlich, Kollege Gabelbach, und ich unterstütze Ihre Ansicht: Es wäre ein schöner Gegenstand für eine Reportage in Wort und Bild; es böte sich mir schon ein Titel an: ›Suhl in Soho‹!«
»Ich weiß nicht«, sagte der dritte Chef, »das ist eine etwas gewagte Ideenverbindung: Suhl in Thüringen, im grünen Herzen Deutschlands, und dann diese englische Kneipengegend. Dieses Soho ist doch so ein Verbrecherviertel, und diese Ideenverbindung: DDR-Waffen in der britischen Gangsterhochburg, das müßte noch bearbeitet werden.«
»Seid ihr schon beim Bearbeiten?« fragte der Hauptbuchhalter. »Dann will ich mal mitarbeiten. Ich hatte zuerst den Eindruck, ihr redet über Verschiedenes, aber nun hört es sich an, als sollte es in den Plan. Das wird eine Devisenfrage, da will mein Ministerium eiserne Gründe hören.«
»Entwicklung der DDR-Wirtschaft«, rief Güldenstern, »Aufschwung, Ansehen, Stolz auf die ökonomischen Erfolge, Ansporn zu weiteren solchen.«
Gerd Korn unterstützte seinen Kollegen und fügte andere Gründe hinzu, die freilich mehr auf die Zuständigkeit seiner Abteilung verwiesen: »Entwicklung des DDR-Ansehens in der Welt, auch in der kapitalistischen, Außenwirtschaft, Außenhandel, Außenpolitik, Anerkennung; müßte doch reichen für den Finanzminister.«
»Finanzminister wollen etwas vor Augen haben«, sagte Gabelbach, »augenfällige Dokumentation der Wege, die das Geld genommen hat; man sollte dem Antrag einige Bilder von den Industrieausstellungen in Bangkok und Wien beifügen; da findet sich der Mann besser zurecht.«
Helga Gengk nickte ihm wieder zu und erinnerte an die Verdienste der Reportergruppe bei diesen und anderen Gelegenheiten und bedauerte nur, daß sie den fabelhaften Titel »Pankow in Bangkok« nicht durchbekommen hatte, weil dem dritten Nachfolger die Ideenverbindung zu gewagt gewesen war.
Der Hauptbuchhalter hörte allen so aufmerksam zu, als käme man ihm zum erstenmal mit solchen Gründen, dann sagte er: »Mich überzeugt ihr immer, nur, mir gehört das Geld nie. Es ist auch keines da. Pfunde! Die sind heute wie Milch bei Gewitter. Wenn man denkt: Bank von England, das war so verläßlich wie die Sternwarte von Greenwich. Wenn die in dem Land so weitermachen, wird man guttun, den Nullmeridian zu verlegen. – Pfunde sind nicht! Für zweie jedenfalls nicht. Einen kann ich beantragen.«
Noch ehe das Ressortkarussell wieder in Fahrt kommen konnte, sagte Johanna Müntzer: »Dann wird es keinen Sinn haben, dann leg das Blatt wieder unters Verschiedene, David. Bei einer Finanzfrage tritt der Mensch an seine Grenzen. Es ist natürlich schade, aber der Verzicht erspart uns auch einen Streit. Es ist nur gut, daß unser Sportmensch fehlt; er hätte schließlich auch noch mitzureden, wenn es eine Sportwaffenausstellung ist – war es nicht auch eine Sportwaffenausstellung, David?«
»Ja, eine Jagd- und Sportwaffenschau.«
»Dann ist es nur gut, daß er nicht da ist; Sport wäre ein sehr wichtiger Grund für den Finanzminister gewesen. Nein, David, leg es wieder unters Verschiedene, aus dem nichts zu machen ist.«
»Einen Augenblick«, sagte Chefredakteur III, »es schält sich vor meinen Augen doch zu einem wichtigen Komplex heraus, es ist eine sehr komplexe Ideenverbindung: Sport, Leichtindustrie, Außenhandel, Außenpolitik, Suhler Wertarbeit, bildhafte Darstellung unserer Rolle, Anerkennung, Vertretung der DDR auf einer internationalen Leistungsschau, es könnte immerhin ein wichtiger Beitrag sein. Solche Dinge standen bei der letzten Beratung im Mittelpunkt, Genossin Müntzer.«
»Ich war nicht dabei«, sagte Johanna, »aber ich glaube es. Nur, wenn wir für zweie nicht die Pfunde haben, ist das Geld für einen zum Fenster hinaus. Außerdem, das sehe ich jetzt erst: Es ist wohl mehr eine Fachausstellung; wie heißen die Leute, David, die das veranstalten?«
»Das ist die British Gunsmith Association.«
»Ja, das klingt sehr fachmännisch. Mit den Menschen muß man sich wohl sehr fachmännisch unterhalten können, anders wäre es nicht gut für unser Ansehen; solche Fachleute sind sehr eigen, nicht wahr, Lilo, meinst du nicht auch?«
»O ja!« rief Fräulein Lilo. »Sehr prägend zwar, aber auch sehr eigen!«
»Seht ihr«, sagte Johanna, »dann hat es keinen Zweck, oder verstehst du etwas von Waffen, Helga? Und unser Ökonomiemensch auch nicht, oder doch? Und die Außenpolitiker? Oder Kollege Gabelbach? Nein, nein, das braucht niemanden verlegen zu machen, ich verstehe auch nichts davon. Wißt ihr, es war so eine Tradition zu meiner Zeit; wir haben noch mit Berta von Suttner ›Die Waffen nieder!‹ gerufen, und ich erinnere mich, welche Schwierigkeiten mein guter Bertram hatte: Kaum hatte er sich von Archipenko gelöst, da hieß es: Kunst ist Waffe!, das ist ihm nicht leichtgefallen, und anders als in diesem Verstand hatten wir auch keinen Umgang mit Waffen …«
»Ja, ja, das ist ganz interessant«, sagte der dritte Chefredakteur, »nur wird es jetzt etwas komplex. Ich sehe aber ein: Für diese Aufgabe brauchten wir einen Spezialisten, und den haben wir nicht, da hat es wenig Sinn; ich denke, wir machen weiter.«
»Ja«, sagte Johanna, und daran, daß sie ihre Tasche vom Tisch nahm und den Griff mit beiden Händen fest umklammerte, sah David: Sie holte zum entscheidenden Schlage aus. »Es wird uns nichts anderes bleiben, weil wir keinen Fachmann haben – oder was meinst du, Carola, du kennst dich aus mit den Unterlagen der Menschen hier im Hause, du bist die einzige, die sich damit jetzt noch auskennt hier; hast du eine solche Rarität in deinen Akten?«
Carola Krell sah von ihrer Faltarbeit auf, sah sehr unschuldig drein und wies mit der halbfertigen Schwalbe auf David. »Hast du nicht so etwas Ähnliches gelernt? Ich meine, es stünde in deinen Unterlagen.«
Du kannst so bleiben, dachte David: Ich meine, es stünde in deinen Unterlagen! – Ich hingegen meine, die Wissenschaft hast du weniger aus meinen Unterlagen als mehr aus anderen Lagen, aus solchen, die sich ergeben, wenn einer auf einer herumliegt, und dem einen ist so wohl dabei und auch nicht ganz geheuer, weil die eine so tut, als wäre dies die selbstverständlichste Lage der Welt, auch wenn der eine noch nicht so oft in solcher Lage gewesen und auch viel jünger ist als die eine mit den breiten Schultern, und da redet sich der eine heraus aus der neuartigen Lage, redet auf Männerweise von Sachen, mit denen er sich auskennt: von den Trinkgewohnheiten eines Fliegergenerals, von einem Lehrermenschen, der Kasten hieß, von Meister Treder, der ihn immer Daffi rief, von der Stadt Ratzeburg und dem Küchensee, von Wilhelm Groth und der Taube mit dem goldenen Verwundetenabzeichen, von Gedichten, in denen das Wörtchen laß vorkommt, von einer Taschenuhr der International Watch Company, von der Gefechtstaktik Gustav Adolfs und natürlich auch von der Gustav-Adolf-Muskete und dem Mannlicher-Stutzen und dem Carcano-Karabiner und Quadrantvisier und Perkussionsschloß und zylindro-ogivalen Geschossen: »Du mußt nämlich wissen, ich bin eigentlich Büchsenmacher …«
Du kannst so bleiben, dachte David und fragte sich wieder einmal, wer in dieser Runde, außer dem einen und der einen, von der Sache wisse, und war sich nur sicher, daß Penthesilea dies eine einmal entgangen war, und er sagte: »Das ist schon richtig; es steht in meinen Unterlagen: Ich hab Büchsenmacher gelernt.«
»Richtig«, rief Johanna Müntzer, »wo habe ich nur meinen Kopf! Genossen, es ist seltsam: Was weit zurückliegt, daran erinnere ich mich genau. Wenn ich so denke: Die Kunstdebatten in der AIZ, jedes Wort weiß ich noch, das da fiel: Kolbe, Albiker, Barlach, Manolo, Archi…«
»Das wird nun etwas komplex«, sagte der dritte Nachfolger, »kehren wir noch einmal zu dieser britischen Sache zurück, wir haben jetzt einen neuen Gesichtspunkt. Wir brauchten einen Fachmann, und es hat sich herausgestellt, Genosse Groth ist ein solcher Fachmann. Das gibt eine völlig neue Ideenverbindung. Mir ist nur nicht klar, Genosse Groth, warum du nicht selber diesen Hinweis gegeben hast.«
»Weißt du, ich dachte, es wird jemand gesucht, der da hinfahren kann, aber ich bin hier nun Redaktionsassistent, die Organisation, die Operativität …«
»Eben die Operativität«, sagte Chef III, »eben die Operativität verlangt, daß die Kader zweckmäßig eingesetzt werden; ehe du dich hier zum Bürokraten entwickelst, Genosse Groth, lassen wir dich wieder einmal etwas praktische Journalistenarbeit schmecken. Die Gelegenheit ist günstig, und es kommt überhaupt nicht in Frage, daß wir uns die britische Sache entgehen lassen. Ich schlage vor, wir nehmen diese Waffenschau sofort unter Rot in den Arbeitsplan. Ich danke, und ich bitte gleichzeitig um gründliche Vorbereitung; das wird eine sehr komplexe Angelegenheit.«
Sie wurde es. David kam nicht ganz von der Vorstellung los, die halbe Administration des Landes sei nunmehr mit ihm und seiner Reise befaßt; täglich wurden neue Anträge, Vorlagen und Briefe in den Verwaltungsorbit geschossen und umkreisten das Projekt Londonreise in Bahnen, deren Gesetze sich, wie es David scheinen wollte, einem Astrologen eher erschlossen hätten als einem Astronomen.
Auch hatten die Ressortvertreter im Hause den Vorgang keineswegs aus den Augen gelassen; fuhren sie schon nicht selbst, so hatte David eben ihre Interessen mit wahrzunehmen: Außenpolitische, handelspolitische, wirtschaftspolitische Gesichtspunkte wurden ihm eingeprägt; Hans Bammler vom Sport versah ihn mit den Ergebnislisten internationaler Schützenwettbewerbe; Redakteur Klotz, der zwar längst nicht mehr die Literatur, immer aber noch die Winke für die Hausfrau betreute, bat ihn, das Geheimnis der englischen Küche aufzuhellen; für Lilo sollte er den Tower begehen, sie hatte unter ihren Korrespondenten einen besonders hartnäckigen Englandspezialisten; Helga Gengk von der Reportergruppe hoffte auch auf ein Mitbringsel, eine Skizze wenigstens, und hielt schon den Titel bereit: Das Friedenslied auf der Oxford Street; und Gabelbach wollte ungefähr tausend Bilder.
David frischte seine fototechnischen Kenntnisse auf, kratzte ein bißchen mehr Englisch zusammen, ließ sich vom Hauptbuchhalter über die Tücken der britischen Währungs- und Maßsysteme aufklären, versah sich mit einigen Grundkenntnissen über Land und Leute, wurde mit Papieren und Papier die Fülle versehen und nahm Abschied von Familie und Freunden und der Neuen Berliner Rundschau.
Die Familie machte es kurz und sachlich, die kannte dies schon, aber Freunde entpuppten sich als Kenner von Schottenwitzen und Shakespeare, da tat man besser eilig, und Gabelbach nannte David mehrmals leicht gehässig Herr Kollege und meinte, England interessiere ihn ohnehin nicht so sehr, nach Amerika, ja, dahin führe er ganz gern noch einmal, und sollte es zu einer Reise in die USA kommen, in dem Falle habe er bessere Chancen als David und so mancher im Hause, denn er sei parteilos, und da es in den amerikanischen Gesetzbüchern stünde, daß ein Mann von Davids Gesinnung und Bindung seinen Fuß nicht setzen dürfe auf das Territorium der Vereinigten Staaten, sei es schon ganz nett, daß man ihn wenigstens auf die britische Insel lasse. Dann warnte er David vor dem gefährlichen Durcheinander, das auf Ausstellungen zu beobachten sei, zitierte den Korrespondenten Franz Hermann Ortgies, der einen Fall berichtet, in dem zwei Potsdamer Leutnante fahrlässig mit Schießeisen umgegangen waren und »dan der erste den andern bey starcker Verrückung der Flinte unvorsichtiger Weise durch den Kopf geschoßen« hatte, und mahnte, sollte Ähnliches sich in London begeben, so möge David mit der Kamera zur Stelle sein. Johanna Müntzer fragte David die »Lage der arbeitenden Klassen in England« ab, verzichtete aber auf eine Zeichnung des britischen Menschenbildes, verkniff sich jedoch nicht den Hinweis auf das Marx-Monument, das David natürlich besuchen müsse, auch wenn es als Bildwerk eher unbedeutend sei, es sei eine reine Kostenfrage gewesen, und bei dieser Gelegenheit erfuhr David auch, was Bertram Müntzer von Henry Moore gehalten hatte.
Dann endlich Flugplatz Schönefeld. Der Vertreter vom VEB Hohes Ziel, dem Suhler Jagdwaffenbetrieb, war leicht zu finden. Er stand schon am Prag-Schalter, hatte einen großen Koffer dabei und über der Schulter ein Gewehr in festem Futteral.
»Groth«, sagte David. »Guten Tag, ich glaube, wir beide sind hier verabredet.«
»Ich bin der Böwe Karl«, sagte der kleine Mann, »da wolln mir mal.«
Böwe Karl machte wenig Umstände; bis Prag hatte er David sein halbes Leben erzählt. Er war ein Experte, der schon ein wenig herumgekommen war, aber London war auch ihm neu.
»Was soll groß sein«, sagte er, »so ein Land ist meistens genau so, wie man es sich immer vorgestellt hat, nur, natürlich, man muß es sich richtig vorgestellt haben! Meine Frau wird jedesmal wütend, wenn sie fragt: Nu, wie war’s? und ich sage: Nu, genau so, wie ich’s mir gedacht habe. Und ein Gewese vor jeder Reise! Immer, als ob’s nach Amerika ginge! Ich sage dann jedesmal: Nach Amerika, Gerda? Mir nicht! Und ob man’s glauben möchte oder nicht: Das beruhigt sie.«
Das Gewehr führte er als Handgepäck mit; es war ein Drilling, eine Maßanfertigung für einen linkshändigen Peer; bevor es dem Kunden ausgehändigt wurde, sollte es noch auf der Ausstellung gezeigt werden. »Das andere Gelumpe haben wir schon hingeschickt, aber bevor ich mich von diesem Prachtstück trenne, hab ich gesagt, fahr ich lieber gar nicht. Eine Schreiberei war das, wegen der Beförderungsbestimmungen. Ich hab ein Zertifikat dabei, auf dem nischt weiter steht, als daß die Büchse in dem Zustand, in dem sie jetzt ist, nicht schießen kann, aber in sechs Sprachen, sogar in Portugiesisch. Ich hab gesagt: Ihr denkt wohl, in England haben sie portugiesische Zöllner? Ich sag: Da schreibt’s auch gleich noch auf Indianisch, falls mir auf der Reise zufällig durch Amerika kommen! Haben mir einen Spaß gehabt!«
Von Prag flogen sie mit einer Maschine der CSA nach Zürich. Jetzt mußte David von sich erzählen, und als es heraus war, daß er bei Treder in Berlin gelernt hatte, reichte ihm Karl Böwe die Hand. »Dann sagen mir du! Bei dem alten Gauner bist du gewesen? Haben mir mit dem einen Spaß gehabt! Der hat unserem kaufmännischen Direktor gegen Ende des Krieges, als wir schon lange nur noch den 98k gebaut haben, eine Perkussionsdoppelflinte im Originalzustand verkauft, die sollte aus dem Privatbesitz vom König von Württemberg stammen, der war, ich weeß nich, General bei Napoleon …«
»Gegen Napoleon«, sagte David, »nach 1813 hat er das siebte Armeekorps befehligt, ein besonderer Kriegskünstler war das nicht.«
»Weeß ich nich«, sagte Böwe Karl, »aber der Treder, dein Meister, das will ich dir sagen, der war ein Künstler! Haben mir Spaß gehabt: Originalzustand! Die meisten Originalteile waren Original-Treder-Produktion. Wer weiß, vielleicht hast du selber daran rumgefeilt.«
»Wer weiß«, sagte David, aber ehe er die Erinnerung an den Verkauf einer Original-Perkussionsflinte aus dem Privatbesitz Wilhelms II. von Württemberg hervorgekramt hatte, waren sie in Zürich, und sie mußten in die Schalterhalle, weil es zu Hause mit den Tickets nicht geklappt hatte.
Das war nun mal ein Flugplatz, und wie groß war doch die Welt: Abflug nach Singapur, Ankunft aus Monrovia, flugplanmäßig Reykjavik, Passagiere nach Caracas, Passagiere aus Addis Abeba, Charter nach Istanbul, Kargo aus Hongkong, fly Air India, fly BOAC, see the world with BEA, up and up and away with TWA, Montreal und Feuerland, ganz nett, aber London war auch kein Scheißdreck, wo ist hier der London-Schalter?
Da herrschte Hochbetrieb, und David sagte: »Wenn die sich mal vertun, landest du am Fudschijama und wolltest nach Bremen.«
»Da hätten mir Spaß«, sagte Böwe Karl, »Bremen kenn ich schon. Aber keine Sorge, die arbeiten hier mit Schweizer Uhrenpräzision. Meine Frau macht sich auch immer solche Gedanken, dann sag ich: Keene Bange, Mutti, wenn die mich falsch fahren, müssen sie für meine Versorgung aufkommen, das kostet, da passen sie auf.«
Sie erhielten ihre Bordkarten und kamen zum Zoll. Davids Tasche und Koffer blieben unbeachtet, Böwes Koffer auch, aber den Gewehrkasten mußte er öffnen.
»Ein Gewehr!« sagte der Zöllner.
Böwe nickte. »Eine Jagdflinte, zwei Schrotläufe, ein Kugellauf, Maßarbeit, Sonderanfertigung.«
»Schaut gut aus«, sagte der Zöllner.
Böwe nickte. »Schießt auch gut, Wertarbeit aus der DDR.«
»Aus der wo?« sagte der Zöllner.
Böwe nickte. »Ich weiß, ihr seid neutral, kennen Sie nicht. DDR, ein Land so um Berlin herum.«
»Ein Gewehr«, sagte der Zöllner, »da gibt es Bestimmungen.«
Böwe nickte und schwenkte sein Zertifikat. »Die halten wir ein. Ein striktes Land, diese DDR, und so sprachbegabt. Es steht hier in sechs Sprachen: Ein vitales Teil, das dieses Muster erst zum Gewehr macht, wurde entfernt und auf anderem Transportweg zum Bestimmungsort geschickt. Suchen Sie sich eine Sprache aus, es ist auch Portugiesisch dabei.«
»Ich kann Portugiesisch«, sagte der Zöllner, »aber es ist schon in Ordnung.«
Sie bekamen ihre Stempel, und nach dem üblichen Gerenne hinter einem Mädchen mit dem Gehabe einer Glucke saßen sie in der Maschine nach London.
Sie landete in Lissabon.
»Ham mir Spaß«, sagte Böwe Karl, »nun sind mir im Portugiesischen.«
»Ja«, sagte David. »Schweizer Uhrenpräzision.«
Sie fanden nicht heraus, wo der Fehler gelegen hatte, nur wurden sie gleich so behandelt, als hätten sie ihn begangen, und Böwes Bewaffnung milderte die Situation keineswegs.
Zuerst schauten die Beamten nur interessiert auf das Gewehrfutteral, als sie dann aber die Pässe gesehen hatten, kam Alarmstimmung auf.
»Was wollen Sie hier?« fragte der ältere, der etwas mehr Gold am Kragen hatte.
»Wir wollen hier nichts«, sagte David, »wir wollten nicht einmal hierher.«
»Haben Sie etwas gegen Portugal?« fragte der Beamte.
Sein Ton lag David nicht, und deshalb sagte er: »Darüber ließe sich womöglich reden, nur im Augenblick wüßte ich lieber: Wo geht’s denn hier nach London lang?«
Folgte eine längere portugiesische Aussprache zwischen den beiden Beamten, folgte das Verschwinden des jüngeren, folgte dessen Wiederkehr in Begleitung eines Herrn in hellem Anzug. Portugiesische Berichterstattung des älteren an diesen, portugiesische Frage von dem zurück an jenen. Jener hielt diesem die beiden Pässepaare unter die Nase, in der einen Hand Davids Pässe, in der anderen Böwes Pässe, je zwei ausgestellt vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik und vom Allied Travel Office in Westberlin. Der hellgekleidete Herr beugte sich über die Dokumente und sagte dann etwas Kurzes, aber sehr Portugiesisches. Darauf gingen die DDR-Pässe an ihre Besitzer zurück. »Nehmen Sie«, sagte der ältere Beamte, »die gibt es nicht.«
»Spaß«, sagte Böwe Karl, »und wie ist es mit uns, gibt es uns?«
Der Beamte sah ihn unfreundlich an. »Als Personen, ja, speziell als unerwünschte Ausländer unbekannter Nationalität.«
Das machte Böwe Karl auch nicht freundlich. »Nu aber sachte, lieber Kollege, wenn Sie mit dem Staate schon nischt im Sinne haben, Ihr Pech, aber: unbekannter Nationalität! Mir sind Deutsche!«
Sein Gegenüber klappte Böwes Alliiertenpaß auf und wies auf den gestempelten Eintrag: »Presumed German«. »Hier steht, man nimmt an, man hält es für möglich, es könnte sein, daß Sie Deutsche sind, aber wir sind zu so einer Annahme nicht verpflichtet. Für uns sind Sie unerwünschte Ausländer unbekannter Nationalität.«
Böwe Karl fuchtelte mit seinem DDR-Paß. »Ein Schkandal! Ich bin ein Deutscher, so wie Sie ein Portugiese sind, hier steht’s drin!«
Jetzt wurde auch der andere heftig. »Stecken Sie das ein, das wollen wir nicht sehen, das gibt es nicht, das existiert nicht!«
»Ich glaube«, sagte David, »es sollte jetzt ein Vertreter unserer Fluggesellschaft hier sein. Die hat unser Geld genommen, die hat uns hierher transportiert, für die existieren wir; können Sie den Agenten holen lassen?«
Konferenz auf Portugiesisch. Anordnung des hellgekleideten Herrn. Abmarsch des jüngeren Beamten. Rückkehr mit einem vierten Herrn, dieser dunkel gekleidet.
Der war, wie er sich ausdrückte, von Kopf bis Fuß betroffen, und es war ein solcher Fall ihm noch nicht vorgekommen. Er verhandelte ein langes in der Landessprache und gab dann Auskunft, ja, leider, die Dinge lägen so: Unerwünschte Ausländer unbekannter Nationalität, einschlägige Anordnungen: Ausflug solcher Personen mit nächster Maschine der Gesellschaft, die unerwünschte Personen ins Land gebracht, Aufenthalt bis dahin im Transitraum, auskömmliche Beköstigung dorten auf Kosten der Gesellschaft, und betroffen sei er von Kopf bis Fuß.
Er machte Anstalten, sie in den Transitraum zu geleiten, da sagte der ältere Beamte: »Enthält dieses Gefäß eine Waffe?«
Böwe Karl faßte den Futteralriemen straffer. »Für Sie nicht«, sagte er, »was in dem Gefäß ist, ist aus der DDR, es existiert nicht. Man könnte sagen: Es ist eine presumed weapon, man nimmt an, man hält es für möglich, es könnte sein, daß es eine Waffe ist – Spaß!«
Große portugiesische Konferenz; Beschluß: Wenn es eine Waffe ist, muß sie vorgezeigt werden, es gibt da Bestimmungen.
Böwe Karl produzierte sein Zertifikat, gab es aber niemandem in die Hand. »Hier steht, ein vitales Teil, das dieses Muster erst zum Gewehr macht, wurde entfernt und auf anderem Transportweg zum Bestimmungsort geschickt, also ist in dem Gefäß erschtens nur ein presumtes Gewehr, und zweitens ist es kein Gewehr, sondern ein Muster, und drittens wird Ihnen das Papier auch nicht helfen, auch wenn’s in Portugiesisch draufsteht, denn es ist ein presumed paper, weil nämlich ein Stempel vom Außenhandelsministerium der DDR drauf ist, das sogenannte presumed Foreign Trade Ministry, Sie wissen ja: Man nimmt an, man hält es für möglich, es könnte sein!«
Der Herr in Hell, der Herr in Dunkel, die Herren in Uniform hatten eine weitere Konferenz; der Flugagent übernahm die Berichterstattung: »Man ist übereingekommen, das Problem auf folgende Weise zu lösen: Sie waren nicht hier, soweit es die hiesigen Behörden betrifft. Sie sind hier, natürlich, nicht wahr, in meinen Augen und in der Obhut meiner Gesellschaft. Unsere nächste Maschine bringt Sie wieder auf den Weg nach London. Bis dahin werden Sie, was die hiesigen Behörden betrifft, gebeten, sich so zu verhalten, als wären Sie nicht hier.«
»Das wird schwierig sein«, sagte David, »aber hat man Ihnen gesagt, warum das ganze Theater?«
»Nun, der Standpunkt der hiesigen Behörden leitet sich wohl von der Verfassung Ihres, äh, Landes ab. Die hiesigen Behörden sind in diesen Dingen recht heikel.«
»Die kennen unsere Verfassung?«
»Oh, ich meinte nicht das Papier, das Dokument, die geschriebene Konstitution; ich meinte, das heißt, die Vertreter der hiesigen Behörden meinten die allgemeine Beschaffenheit Ihres, äh, Landes, die Ordnung, Regierungsweise, Regierungsform, die gesetzgebende und ausübende Gewalt, die Rechte seiner Bürger; Sie werden mir verzeihen, aber ich glaube, die Herren von den hiesigen Behörden meinten es im politischen Sinne, und glauben Sie mir bitte, mich macht dies alles betroffen von Kopf bis Fuß!«
Böwe Karl sagte, ihn mache die Sache jetzt langsam am Magen betroffen; die Behördenvertreter entfernten sich ohne weiteres Wort, der Agent besorgte einen Tisch im Transitraum und wünschte guten Appetit, und selbstverständlich seien sie Gäste der Fluggesellschaft; sie aßen, und sie tranken auch einen kräftigen Schluck, Böwe schulterte sein Gewehr und vertrat sich die Beine, und ein unauffälliger junger Mann schlenderte hinter ihm her im gleichen Schritt und Tritt, und David döste und dachte sich seins.
Er hatte das Ereignis noch nicht in eine Ordnung gebracht, in die es gehörte; Ausgangspunkte waren nicht mehr zu sehen und Endpunkte noch nicht, er war nun in Portugal und wußte nicht wie, er wußte nur, er war hierhergekommen und war zugleich nicht hier, und er hatte Lust, aufzustehen und einen befreienden Satz zu sprechen, und sprach wenigstens leise vor sich hin: »Die Verwandlung eines Menschen in einen Käfer ist für uns keine annehmbare Lösung!«
Böwe Karl, das mutmaßliche Gewehr geschultert und gefolgt von einem unauffälligen jungen Mann, marschierte vorbei und sagte: »Der Spaß ist nur: wenn ich’s meiner Frau erzähle, hat sie wieder Argumente!«
Der Spaß ist nur, dachte David, in dieser Situation gibt es keine Argumente, es ist eine presumed situation, nicht so recht vorgesehen, man kommt nicht hierher, wenn man herkommt, wo ich herkomme, aus einem, äh, Land, aus Ähland, aus Sogenannt, dessen allgemeine Verfassung den hiesigen Behörden nicht paßt, da sind sie heikel.
Ausgerechnet die! Nein, nicht ausgerechnet die, sondern natürlich die!
Spaß, wird Böwe sagen, und zu Hause werden sie sagen: Da hast du aber Spaß gehabt, und Gabelbach wird fragen, ob ich ihn auch im Bilde festgehalten habe, und sicher wird er den Korrespondenten Franz Hermann Ortgies zitieren, der sich gewißlich einmal in ähnlicher Lage befunden.
Er nahm die Kamera und fotografierte den thüringischen Mann mit dem Gewehr; das verwandelte einen unauffälligen Nachbarn am Nebentisch aus einem schläfrigen Nachbarn in einen hellwachen Nachbarn. Da sind sie heikel, dachte David, das mögen sie nicht, wenn auf einem Bilde zu sehen ist, daß wer hiergewesen ist, der nicht hiergewesen ist.
Die Sorge hatte Franz Hermann Ortgies noch nicht; von dem wollten sie es nur schriftlich und nicht im Bilde, aber von David Groth wollen sie es auch schriftlich, da fängt er besser gleich mit an.
Er nahm sein Schreibzeug, und als er die Haltung seines unauffälligen jungen Nachbarn sah, winkte er ihm freundlich zu und sagte, wobei ihm der Kognak kräftig half: »Wenn Sie so sitzen bleiben, werden Sie Schwierigkeiten mit Ihren Halswirbeln bekommen; Sie arbeiten der Spondylose in die Hand. Mein Name ist Franz Hermann Ortgies, und ich verfasse eine Correspondenz aus Portugal, einem Land, das, was die allgemeine Verfassung der DDR betrifft, sehr heikel ist. Wissen Sie, ich verfertige Mitteilungen über Relationen, Nouvellen und Avisen zu Zeitereignissen, Land und Leuten, ich halte remarquables und importantes in Worten fest, und eben jetzt will ich ein kurzes über die allgemeine Constitution des Landes Portugal zu Papiere bringen; ein Spaß, Sie verstehen, Franz Hermann Ortgies mein Name.«
Sein Nachbar hörte ihm zu mit etwas blödem Blick und entschied sich dann für das Studium des portugiesischen Abendhimmels, und David schrieb: »Wie ich von diesem Lande Nachricht habe, soll es unter die Herrschaft gestellet seyn von deren Mächten dreien, welche sind die generales, die Besitzer von Finantz und die kirchlichen Fürsten.
Wie aber vernimblich, haben dieselben vor vierzig Jahren einen regenten installiret, welcher Antonio de Oliveira Salazar benennet wird und ist wohl wie ein Koenig.
Man hat aus diesem Ort, an welchem ich mich befinde, Zeitung ausgeben, daß es fürtrefflich zugegangen sey im Lande Portugiesien und seine allgemeine constitution ihm wohl Grund gebe, sich heikel zu verhalten in respect auf andere Ländereyen.
So hat man confirmation, daß im Portugiesischen die Zahl der Säuglinge, welche noch im Kindtbette den Todt sterben müssen, ist die stattlichste in allem Europa.
Es geht aber ein Geschrei, daß auf die hunderdt Kinder, welche lebendig von ihrer Geburth davonkommen, deren achtzig auf die Schule dürfen für vier Jahre, welches fürtrefflich geeignet erachtet, die Zahl der Bewohner, welche nicht können lesen und schreiben und werden analphabetes genant, zu mindern, so daß es nicht ewiglich, wie jetzo, vierzig per hunderdt seyn.
Da wird auch gewiß vernommen, daß die Unterthanen von jenem sicheren Salazar es bey einigem Fleyße auf eine monathliche Einkunfft gebracht, die bey hundert Mark steht, und ist solches der Durchschnitt in den hiesigen Ländereyen.
Wie ich Wissenschaft habe, ist dieses letztgenannte territorium nur der vierundzwanzigste Theil vom gantzen Imperium, das sich vorzüglich über Afrika hinstrecket.
Es geht darum die Sag, weil die schwartzen Menscher diese Verfassung nicht lieben, wie sie wohl sollten, ist der portugiesische Staat unter dem Zwange, von immer hunderdt Mark vierzig zum armieren und fouragieren der Herren Soldaten zu verwenden, so daß kein Rechenmeister Ries hermuß, um es zu erklären, wenn dem gemeinen Manne am Beuthel einiges ermangelt.
So ist aber dennoch allhier am besten erschollen und man sagt und man hat ausgeben und will man spargiren und verlautet in dieser Stunde und wird avisiert und hat man Schreiben und hat man Schreiben andere und wird bestätigt, daß dieses Land Portugal mit der höchsten qualification versehen ist, heikel zu sein vor Reisenden aus Ländereyen, wo sich die allgemeinen Zustände in so gäntzlich anderer ordre befinden.
Bei Zumachung dieses kommt noch ein …«
Weiter kam David nicht mit seinem wütenden Schreibspiel, denn der Agent erschien und teilte mit, die nächste Maschine seiner Gesellschaft sei startklar, und sie könnten sich nun wieder auf den Weg nach London machen. Freilich sei da noch etwas, und die Verpflichtung, ihnen dieses mitzuteilen, mache ihn wieder betroffen, jetzt aber am ganzen Leibe, doch handle es sich um eine Bestimmung der hiesigen Behörden, von der sie nicht abzubringen gewesen seien, und daher treffe es zwar zu, daß David und Karl mit dieser nächsten Maschine wieder auf den Weg nach London kämen, aber es sei nicht der allerkürzeste Weg, man könne nicht sagen, es führe dieser Weg direkt nach London, er tue dies lediglich indirekt, man müsse die Route bei aller Sachlichkeit schon einen Umweg nennen, aber die bereitstehende Maschine sei nun einmal die nächste im Sinne der Bestimmungen der hiesigen Behörden, und wohin sie auch fliege, so dürften sich David und Karl weiterhin in der Obhut seiner Fluggesellschaft wissen.
»Fliegt sie zum Fudschijama?« fragte David.
Das war für Böwe Karl ein guter Spaß und für den Agenten ein fabelhafter Scherz und eine köstliche Übertreibung, denn es hätte dies ja einen Flug sozusagen um den Erdball herum bedeutet, eine bizarre Vorstellung, die einen freundlich betroffen machen konnte am ganzen Leibe, aber nein, so üppig sei der Umweg nun doch nicht geraten, wenn auch der kürzeste genannt zu werden er nicht verdiene, aber das wichtigste sei am Ende immer noch dies: sie seien wieder auf dem Wege nach London.
So verließen sie den Ort, an dem sie in einem gewissen Betracht nie gewesen waren, stiegen gen Himmel auf in einem viermotorigen Ungeheuer und sanken erschöpft in die Sessel, aber was sie so müd gemacht, war weniger der Aufenthalt im heiklen Portugiesien, war nicht so sehr die Erfahrung wie vielmehr die Erwartung, und vor der Retrospektive schauderte ihnen minder denn vor ihrer Perspektive. Weil nämlich diese nächste Maschine nach San Juan ging, welches auf Puerto Rico gelegen ist und dieses in der Karibischen See quer über dem Atlantik, kleinste Insel der Großen Antillen, von Kolumbus entdeckt und von Präsident MacKinley dem Besitz der Vereinigten Staaten einverleibt.
»Hier hört sich nu aber der Spaß auf«, stöhnte Karl Böwe, »wie soll ich ’n das meiner Alten erklären?«
»Das klopft mich auseinander«, sagte David, »jetzt kommen wir doch noch zu den Indianern, und zu den Amerikanern kommen wir auch, aber wenn sich die Portugiesen schon so hatten, wie werden sich die Puertoricaner erst haben?«
Doch die hatten sich gar nicht so. Zwar mußte Karl Böwe wieder sein Zertifikat schwenken, und schön war es da, daß es die Sache mit dem vitalen Teil auch auf spanisch erklärte, aber die Konstitution der DDR wünschten sie nicht zu erörtern, nicht zum wenigsten wohl, weil Kunde von der letzteren Existenz noch nicht so recht bis zu ihnen gedrungen schien.
Immerhin hatten sie Spaß an der eigenwilligen Reiseroute Berlin–Prag–Zürich–Lissabon–Puerto Rico und begleiteten die beiden Gäste in den Transitraum, wo der dortige Fluggesellschaftsagent Rum für alle spendierte und Böwe Karl einem größeren Publikum die Vorzüge des thüringischen Drillings pries.
»Wenn mir schon hier sind, können mir bei allem Spaß auch gleich ans Geschäftliche denken«, sagte er, verteilte Visitenkarten und sprach in einem Englisch mit kräftigen Suhler Untertönen von den Büchsenmacherkünsten der DDR.
Der Abschied war bewegt, um so kühler der Empfang in New York-Idlewild.
Hier waren die Irrläufer den Behörden schon avisiert; knapp wurde das Zertifikat gemustert, knapp wurden sie in den Transitraum gewiesen; die Pässe wollten sie nicht sehen, um Himmels willen nicht, und von deren Inhabern sowenig wie möglich.
Aber der Transitraum war groß, und die Gäste wechselten ständig, und Böwe Karl, das Gewehr geschultert, zog ständig seine Bahn, und unter den Wartenden war immer wieder ein Jäger, und so erklärte Karl Böwe vier Stunden lang immer wieder die Feinheiten seiner Maßanfertigung für einen linkshändigen englischen Peer, und wer wollte ihm verübeln, daß er ausführlich auch Rede stand auf die Fragen nach wohin und woher, und wie ließ es sich vermeiden, daß immer wieder auch die Sprache auf ein Land kam, das es offiziell an diesem Platze gar nicht gab und das es somehow doch geben mußte, der Augenschein zumindest sprach dafür, denn der Augenschein zeigte eine beautyful shotgun und marvellous handicraft, und wem die Augen allein nicht genügten, dem half Böwe Karl mit patriotischen Worten nach.
David machte Bilder, die ihrem abwegigen Charakter nach wie für Gabelbachs Wand bestimmt schienen, und die halbe Strecke zurück über den Atlantik, diesmal direkt auf London zu, schrieb er an seiner Reportage für die Neue Berliner Rundschau, und als er an Helga Gengks Vorliebe für wilde Titel dachte, entschied er sich für die Überschrift: Unser Mann mit dem Gewehr.
Darin steckte eine Ideenverbindung, die dem dritten Chefredakteur Unbehagen machte, aber Helga Gengk kämpfte diesmal hart und bestand auf dem Prinzip der begrenzten Eigenverantwortlichkeit der Abteilungen, und wenn sie schon »Pankow in Bangkok« nicht durchgebracht hatte, dies brachte sie durch, da ihre Kollegen sie nach Kräften unterstützten.
Begrenzte Eigenverantwortlichkeit der Abteilungen – unter dieser Fahne einten sich die Fürsten gegen den König, und die heilige Sache machte sie einfallsreich: Das wichtigste Wort des streitigen Titels sei »unser«, sagte Ökonom Güldenstern. »Unser Land, unser Staat, unser Werk, unser Aufbau, unser Betrieb, unser Eigentum; ›unser‹ ist ein Synonym für Sozialismus; das Wort ›unser‹ muß unbedingt in den Titel«, und im übrigen sei er für das Prinzip der Eigenverantwortung.
Redakteur Klotz hätte diesen schönen Ansatz beinahe wieder zunichte gemacht, weil er neben seiner Arbeit an den Winken für die Hausfrau immer noch zuviel las und unbedingt den Anklang an Graham Greene und dessen Mann in Havanna herausstreichen mußte, aber im übrigen war auch er für das Prinzip der Eigenverantwortung.
Die Außenpolitik glich Klotzens Lapsus wieder aus: Der Anklang an Havanna sei sehr zu begrüßen, und nicht nur, weil Puerto Rico in der Nachbarschaft Kubas läge, also nicht nur wegen der geographischen Nähe, sondern des außenpolitischen Zusammenhangs wegen, da nämlich der Begriff »unser«, wie Kollege Güldenstern ihn erläutert habe, nunmehr das verbindende Moment zwischen der DDR und einem wesentlichen Teil der Antillen darstelle, und im übrigen sei man für das Prinzip der Eigenverantwortung.
Für das war auch Hans Bammler, und er war für das Gewehr im Titel, denn ein Gewehr war eine Sportwaffe, und der Sport kam ohnehin immer zu kurz.
Johanna Müntzer begünstigte neuerdings ebenfalls das Prinzip der Eigenverantwortung der Abteilungen und war für eine Ordnung, die sie zu Zeiten ihrer unumschränkten Regentschaft als das letzte Stadium vor der Anarchie bezeichnet hatte, und für Davids Titel war sie, weil der an den sowjetischen Film »Der Mann mit dem Gewehr« gemahnte.
Der dritte Nachfolger fing sie nervös ab, ehe Penthesilea den Übergang von der Filmkunst zur allgemeinen, insonderheit aber bildenden Kunst gefunden hatte, und erklärte sich mit dem für sein Empfinden etwas komplexen Titel einverstanden, nicht einverstanden jedoch mit der Übung der Abteilungsvertreter, immer nur von Eigenverantwortung zu sprechen, nicht aber, wie es sich gehört hätte, von begrenzter Eigenverantwortung.
Die Fürsten nickten freundlich – der König hatte eine Bataille verloren, da mochte er getrost eine Thronrede halten.
Nachfolger III hatte ein Gespür für Stimmungen; so suchte er Verbündete: »Können wir von Ihnen, Kollege Gabelbach, hören, wie Sie die Aufnahmen, die der Kollege Groth für seine Reportage anbietet, einschätzen?«
»Einschätzen«, sagte Gabelbach, »diese Formulierung gibt mir die Möglichkeit, mich ausführlicher zu äußern; hätten Sie gefragt, ob ich die Bilder schätze, hätte ich mich knapper fassen können und gesagt: teils, teils. Es finden sich hier Bilder, die belegen, daß hartnäckige Bemühungen bei der Unterweisung von jungen Leuten bis zu einem gewissen Grade Klärung herbeiführen können. Aber dann gibt es hier auch wieder Fotos, die den Namen nicht verdienen, weil auf ihnen noch der Nebel des Chaos wallt. Wie oft etwa habe ich die Tiefenschärfe als die Voraussetzung aller Voraussetzungen markiert, aber nein, was ich mit diesem Ding von Unglücksbild zum Beispiel als Innenansicht eines portugiesischen Transitraumes serviert bekomme, das hat Schärfe allenfalls noch auf dem Antlitz dieses Herrn aus Suhl, Ihres famosen Mannes mit dem Gewehr, aber der Hintergrund ist eine einzige Olla podrida, indistinktiver Mischmasch. Der Behauptung des jungen Mannes nach handelt es sich um einen portugiesischen Transitraum; ebensogut aber könnte es sich um einen türkischen Markt handeln, brasilianischen Karneval, Schlachtefest in Wanne-Eickel, Ermordung des Erzherzogs Ferdinand, Eröffnung der Olympischen Spiele, Professor Piccard auf dem Grunde des Philippinen-Grabens oder um ein Ideogramm der Redaktionssitzungen in der Neuen Berliner Rundschau. Und das schlimmste ist: Ich sehe kein System! Auf diesem Bild sehe ich grauenhaftes Gewölk, und das nächste wieder hat eine Tiefenschärfe, die ich beinahe einwandfrei nennen würde. Von der Person, welche diese wechselhaften Bilder aufgenommen hat, steht ein Geisteszustand zu vermuten, den der bekannte Korrespondent Ortgies bereits am König von Polen beobachtet hat, nämlich ›daß sie per intervalla an der Vernunft etwas irrig sein‹ müsse. Ansonsten aber nehme ich die Bilder auf die Verantwortung, wenn Sie so wollen: Eigenverantwortung meiner Abteilung.«
Der dritte Hauskönig nahm den neuerlichen Hinweis auf das unbequeme Prinzip fast gelassen hin, da David den Hauptteil der Gabelbachschen Hiebe empfangen hatte; es schien ihn ermutigt zu haben, nun auch selber diesen Assistenten kritisch anzugehen. »Da Sie diesen Herrn Ortgies erwähnt haben, lieber Kollege Gabelbach«, sagte er, »fällt mir ein Komplex in deinem Bericht ein, Genosse Groth, den wir noch etwas anleuchten müssen: Wenn du da die barbarischen Zustände in diesem Nato-Staat Portugal herausstellst, dann frage ich mich: Muß das in dieser altertümelnden Sprache sein? Ich meine, die soziale Anklage verliert durch so eine Spielerei an Schärfe. Auch vermisse ich an dieser Stelle die klaren Umrisse einer Gegenposition. Ich könnte mir gut vorstellen, daß hier die bewährte ›Während-Methode‹ am Platze wäre: ›Während die Säuglingssterblichkeitsziffer vom Nato-Staat Portugal zu den höchsten in Europa gehört, ist es dank der sozialistischen sozialen Fürsorge für die Familie und besonders für Kind und Mutter in der DDR gelungen …‹, du verstehst, die bewährte, ›Während-Methode‹!«
»Ich verstehe schon«, sagte David, »aber dies ist ja eine Reportage, weißt du, da erlaube ich mir mal per intervalla einen Stilwechsel. Wenn das ganze Ding so geschrieben wäre, könnte es keiner aushalten, aber diese Während-Methode kann auf die Dauer auch keiner aushalten. Ich finde, wenn die Dinge, die man beschreiben will, sich wie Schwarz zu Weiß zueinander verhalten, dann kann man stilistisch auf Schwarz-Weiß-Malerei verzichten. Und außerdem, sieh mal, steckt da auch noch eine Ideenverbindung drin: Ein überholter Zustand wird in einer überholten Sprache beschrieben. Das ist der Veranderungs-Effekt.«
»Du meinst den Veränderungs-Effekt?«
»Nicht Veränderung, Veranderung, der Vaua-Effekt. Es ist eine Methode zum Stutzenmachen. Es geht ungefähr so: Zwei Marionetten reden miteinander, und die eine sagt zur anderen: ›Hast du aber einen großen Kopf!‹ Nun sieht das Publikum sich diesen Kopf natürlich genauer an und stellt fest, in Wirklichkeit hat die Marionette keinen großen Kopf, sondern einen kleinen, und hier setzt der Veranderungs-Effekt ein: Das Publikum stutzt und fragt sich: Warum war die Rede von einem großen Kopf, wo er doch so klein ist? Und dann sieht sich das Publikum den Kopf noch einmal an und fragt sich: Warum hat die eine Marionette den Kopf der anderen Marionette anders beschrieben, als wir es tun würden – du verstehst: die Veranderung! –, und fortan denkt das Publikum ganz anders mit. So ähnlich geht es mit dem Vaua-Effekt.«
»Das ist mir etwas komplex«, seufzte der dritte Nachfolger, aber er machte sich eine Notiz.
»Und mir ist es schnuppe«, sagte der Hauptbuchhalter, »von mir aus kann der Kollege Groth seine portugiesischen Abenteuer auch in Hieroglyphen berichten; mich interessiert der Finanzplan. Soll ich die Unsumme von englischen Pfunden nun mit dem Vermerk verbuchen: Ausgegeben für eine Darbietung von David Groth, in der nachgelesen werden kann, wie es war, als sich der kleine David nach Westindien verlaufen hatte? Ist das alles für das enorme Geld? War nicht damals, als ihr es unter Rot in den Plan gesetzt habt, von einer Waffenausstellung in London die Rede?«
Solche Einwürfe des Finanzministers hatten eine ähnliche Wirkung wie die Machtsprüche des dritten Königs: Sie einten die Abteilungsfürsten.
Aber nein, beteuerten sie, aber nicht doch, die Waffenschau der Gunsmith Association und die Beteiligung der DDR-Industrie an dieser, dies für das Ansehen des Landes so wichtige Ereignis, werde in den nächsten Nummern mit großer Aufmachung kommen, und nie seien Devisen für einen besseren Zweck ausgegeben worden. Nahezu alle Ressorts des Hauses hätten aus dem Projekt Londonreise Gewinn gemacht, die Finanz solle doch nur sehen: Allein alle diese herrlichen Bilder, die meisten von vorzüglicher Tiefenschärfe, ersparten den Anschaffungspreis vom zentralen Bilddienst, und wie kostensenkend war es doch, einen Spezialisten für Waffenkunde und Weltreisen zugleich im Hause zu haben, so daß Lilo, Leserbriefe wegen, die sich auf Musketen oder Puerto Rico bezogen, nicht mehr auf spesenfressende Reisen zu Fachleuten mußte, sondern sich gleich hier unterm Dache prägen lassen konnte, und wenn sie wollte, doppelt, haha. Gar nicht zu reden von den beiden eigenartigen englischen Kochrezepten für Redakteur Klotz und den beiden neuen Schottenwitzen für die Humorseite; so billig hatte man so etwas noch nie bekommen! Und dann der außenpolitische Aspekt, immer noch fürs selbe Geld, und für die gleiche Summe auch noch die ökonomischen Erwägungen, und da der Sport eine Doppelseite über das Tontaubenschießen während der Ausstellung erhalten werde, könne man beinahe schon von finanziellem Eigenaufkommen sprechen. Nein, der Kollege Hauptbuchhalter könne ganz ruhig den lächerlichen Pfundbetrag eintragen und vertreten; hier war nun wirklich mal viel Zeitung fürs Geld.
»Und dann auch die menschliche Seite«, sagt Johanna Müntzer, »das ist hier jetzt doch sehr wichtig. Da haben wir einmal die Beiträge zum allgemeinen Menschenbild, von den portugiesischen Zöllnern bis zu diesem feudalen Linkshänder in London, und da haben wir speziell den wunderbaren Mann aus Suhl, der schon die Züge des Neuen trägt, was mit irgendwelchen kapitalistischen Pennies gar nicht aufgewogen werden kann. Aber über das alles hinaus, liebe Genossen und Kollegen, haben wir einen unschätzbaren Gewinn gemacht: Wir haben eine Lehre empfangen!«
»Nun, Genossin Müntzer«, sagte Chef III, »wir sollten diesen Ideenkomplex zwar nicht allzuweit ausdehnen, aber wenn es eine Lehre ist, dafür haben wir noch die Zeit, denn ich sage mir immer: Lernen können wir alle noch. Was ist es denn diesmal?«
»Gleich«, sagte Penthesilea, »gleich sage ich es. Aber erst noch ein anderes: Es freut mich, solche Worte von dir zu hören; es freut mich, wenn du sagst: Lernen können wir alle noch. Gerade wenn du das sagst, freut es mich besonders. Es stimmt ja so sehr! – Aber die Lehre! Wir haben gelernt, wie wichtig doch der Punkt Verschiedenes sein kann. Beinahe wäre uns die kleine Meldung aus dem ADN-Wirtschaftsdienst entgangen, wenn nicht – aber das ist es eben, da verrät sich die gute Schule –, wenn nicht der David sein Auge noch einmal drauf geworfen hätte. David, ich muß es dir sagen: Du hast einen Blick fürs Potentielle. Wenn es mir nicht gegen die Natur und wenn es nicht überhaupt gegen die Natur ginge, würde ich sagen: Du hast einen Zukunftsfühler.«
»Gut«, sagte der dritte Nachfolger, »da danken wir bestens, Genossin Müntzer, und ich will das gleich einmal verbinden. Ich hätte sowieso noch das Wort ergriffen zum Punkt Verschiedenes, und hier läßt sich das gut verbinden. Auf einen gemeinsamen Beschluß der entsprechenden Abteilung der Obersten Abteilung und der VVB wird im Impressum der Neuen Berliner Rundschau eine gewisse Veränderung vorgenommen, das heißt natürlich: in der Struktur unseres Betriebes. Um die Effektivität unserer Zeitung zu erhöhen, ihre Arbeiten besser zu koordinieren, das Zusammenwirken der verschiedenen Abteilungen mehr zu gewährleisten, die Operativität zu steigern und die Leitungstätigkeit zu vertiefen, wird die verantwortungsvolle Position des Chefredakteurs durch die Ernennung eines Stellvertreters abgesichert, der auch namentlich und als solcher künftig im Impressum der Neuen Berliner Rundschau verzeichnet sein wird. In eingehenden Beratungen wurde der Beschluß gefaßt, zum stellvertretenden Chefredakteur den langjährigen Mitarbeiter unseres sozialistischen Presseorgans Kollegen David Groth zu ernennen. Ich spreche meinen herzlichen Glückwunsch aus und hoffe auf weitere gute Zusammenarbeit!«
Man klatschte Beifall und sparte nicht mit lockeren Sprüchen je nach Temperament. Johanna gab David einen Kuß auf die Wange, was ihn sehr erschreckte, und er sah, daß Carola Krell eine große Papierrose faltete.
Gabelbach bot den raren Anblick eines gerührten Gabelbach, und als er dies merkte, faßte er sich rasch und zitierte den vom Korrespondenten Franz Hermann Ortgies überlieferten Schmerzensruf des Königs von Schweden beim Anblick der feindlichen Befestigungen vor Peenemünde: »Ist denn kein Gott mehr vor mich?« und drückte David gemessen die Hand.
Und David sagte nur: »Dieses zerreißt mich nun!«