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Die positive Intrige, gedacht, das Eheglück der Carola Krell ebenso zu fördern wie die geistige Bildung des VEAB-Dispatchers Arthur Krell, ließ sich einfach an: Der persönliche Referent des Ministers rief zurück, für das erbetene Gespräch gäbe es zwei mögliche Termine, entweder in vierzehn Tagen um dreizehn Uhr oder gleich, heute, jetzt.

»Ich habe gesagt, Sie kommen heute nachmittag«, sagte Christa, »wenn Sie jetzt zum Friedhof fahren, und Sie reden da nicht so lange, schaffen Sie es bequem. Jochen Güldenstern wollte Sie auch sprechen; er hat Sorgen mit dem Großkraftwerk Nord. Ich habe ihm vorgeschlagen, er soll mit Ihnen zum Friedhof fahren, da stört keiner.«

»Und wann überlege ich meine Rede?« fragte David, aber Christa war schon am Telefon.

Sie hatte recht: Es gab nichts mehr zu überlegen, denn dies war eine weitere Stufe der Beisetzungsfeierlichkeiten für den Hauptpförtner der Neuen Berliner Rundschau, und man würde sich bei der heutigen Steinaufrichtung mit einer Kurzfassung der Rede begnügen können, die anläßlich der eigentlichen Trauerfeier gehalten worden war, denn seit Schäfers’ Tod hatte es nichts Neues mehr über ihn gegeben, und solange er gelebt hatte, war er so vielschichtig auch nicht gewesen.

Im Gegenteil: Ein einfacher Mensch in einem Sinne, der nicht der allerbeste war. Ein Mann, der immer nur eines nach dem anderen tun konnte, niemals zweierlei zur gleichen Zeit.

Vor dem Krieg war er Elektriker in der Druckerei gewesen, einfach, unpolitisch, steuerbar, gesteuert, gesteuert schließlich bis in die Schlacht am Kursker Bogen. Dort hatte es ihm den rechten Arm abgerissen. Als die Rote Armee nach Berlin kam, machte Schäfers Hilfsarbeiten in seiner alten Druckerei, und eine einzige kurze Ansprache eines einzigen sowjetischen Soldaten brachte ihn in die Partei: »Dein Arm kaputt in Krieg, da? Du verstehen: Kommunist sprechen: Hitler machen Krieg. Du nix hören. Hitler machen Krieg, Krieg machen deine Arm kaputt. Du besser hören Kommunist!«

Über diesen Faustregel-Marxismus kam Schäfers nie hinaus. Der Spruch des Soldaten war unwiderlegbar und schien der revolutionären Weisheit letzter Schluß zu sein; ein leuchtendes Beispiel für die Verbindung von Theorie und Praxis, deutlicher ging’s gar nicht. So jedenfalls meinte Schäfers, und wo immer er sich an die Überzeugungsarbeit machte, war ihm sein Stigma Ausgangspunkt einer Einführung in die wissenschaftliche Weltanschauung.

An ihn mußte sich David wenden, als er sich entschieden hatte, in die Partei einzutreten.

Schäfers korrigierte diesen Ausdruck sofort. »So nicht. Es geht nicht darum, ob du dich entschieden hast einzutreten; es geht darum, ob wir uns entscheiden, dich aufzunehmen. Hier erklärt man nicht seinen Beitritt, hier beantragt man seine Aufnahme.«

»Ist in Ordnung«, sagte David, »dann beantrage ich hiermit meine Aufnahme.«

»So auch nicht«, sagte Schäfers. »Du brauchst zwei Bürgen, Kollege.«

»Die habe ich: Genossin Müntzer und Genossen Meyer«, sagte David und überreichte Schäfers zwei Schriftstücke, einen Zettel und ein Bündel Papier. Auf dem Zettel stand: »Ich befürworte die Aufnahme des Kollegen Groth in die Partei und bürge für ihn. Heinrich Meyer«, und in dem Bündel Papier stand ungefähr das gleiche, nur hatte Johanna Müntzer es nicht an Begründungen, historischen Betrachtungen, gesellschaftlichen Ausblicken, differenzierten Erwägungen und politischen Empfehlungen fehlen lassen; und wo von Davids Fehlern die Rede war, nahm David sich aus wie ein Weißgardist, und wo Johanna ihren Assistenten lobte, mußte man sich fragen, wie die Partei bis dahin ohne diesen David Groth hatte bestehen können.

»Dann werde ich dir jetzt einen Fragebogen aushändigen. Der muß wahrheitsgemäß ausgefüllt werden und in Druckbuchstaben, denn was nützt einem die Wahrheit, wenn man sie nicht lesen kann. Der nächste Schritt in dem Vorgang ist das Aufnahmegespräch; dafür erteile ich dir einen Rat: Man wird dich nach deinen persönlichen Erfahrungen fragen, aber du mußt in deinen Antworten das Persönliche mit dem Allgemeinen verbinden. Und noch etwas: Es wird in der kommenden Periode sehr viel Wert gelegt auf fachliches Wissen, weil es die Periode des Aufbaus ist. Es kommt darauf an, daß du fachliches Wissen dialektisch-politisch in einen Zusammenhang bringst. – Also dann bis Donnerstag, Kollege.«

Am Donnerstag aber wollte man zunächst von David wissen, warum er erst jetzt, anderthalb Jahre nach seinem Eintritt in die Rundschau und also nach anderthalb Jahren der Zusammenarbeit mit bewährten Parteikadern, diesen Antrag gestellt hatte.

Die Antwort war nicht einfach. Das Zögern hatte verschiedene Gründe gehabt, die sich nur schwer benennen ließen. Wenn man sie in Worte faßte, nahmen sie sich nicht sehr vernünftig aus.

Die Genossen in der Rundschau waren alle ältere Leute, und so hatte sich in Davids Kopf eine Deckung hergestellt zwischen Parteimitgliedschaft und alt oder doch wenigstens sehr erwachsen. David hatte gewußt: Partei war eine Vereinigung von Gleichen, aber wie hätte er ein Gleicher werden sollen von Respektspersonen wie Johanna Müntzer, Heinrich Meyer oder gar dem Genossen Xaver Frank, den seine Funktion und die Freundschaft mit Johanna Müntzer hin und wieder in die Redaktion führten?

Zum anderen, und wirklich zum ganz anderen, war es so, daß er mit einem Begriff von Partei aufgewachsen war, der nichts Anziehendes, nur Abstoßendes hatte. In der Übersetzung, die den weitaus längeren Teil seines Lebens gegolten hatte, hieß Partei: Stadtverordneter und Abdecker und SA-Mann Wolter, Lehrermensch und SA-Mann Kasten, Mord im Küchenbach und Mord im Kaufhaus Ascher und Vaters lange Abwesenheit und Vaters Tod. Da wehrte sich viel in David, und dem war eben mit Vernunft nur langsam beizukommen, weil es selber nicht in allen Teilen vernünftig war.

Es gab einen weiteren Grund, und der ließ sich schon deshalb nicht gut anführen, weil er inzwischen nicht mehr vorhanden war; hätte man es getan, so hätte es wie verspäteter Vorwurf geklungen.

Also druckste David herum, und das machte einen ungewohnten David. Da ließ Penthesileas Zorn nicht auf sich warten. »Was ist los, du Ratzeburger, weißt du keine Antwort auf eine Frage? Von allen Gelegenheiten, den Mund zu halten, ist dies die ungünstigste, und warum ergreifst du sie? Will Genosse werden und sitzt da wie ein Karpfen; wer soll das billigen?«

»Nee«, sagte Kutschen-Meyer, »das Wort mußte ergreifen, sonst wird nischt. Um dir mal zu erläutern, warum du hier nach dein langes Ausbleiben gefragt wirst: Den Fedor Gabelbach, den würde ich nicht in hundert Jahren fragen, wieso er nicht in der Partei ist; das wäre in allen Hinsichten unpassend. Aber dann gibt es Menschen, bei denen sieht es unnatürlich aus, wenn sie parteilos sind. Bei denen möchte man schon Gründe erfahren. Hast du welche?«

»Hatte ich«, sagte David, »aber sie sind jetzt hinfällig. Als ich zur Zeitung kam, gab es noch zwei Parteien, in die ich hineingepaßt hätte. Ich hab nicht recht gewußt, in welche besser, und da dachte ich: Dann kommen wohl beide ohne mich aus. Dann kam die Vereinigung, und ich dachte: Ob das wohl geht mit den beiden? Jetzt sehe ich, es geht sehr gut, und ich komme mir komisch vor, so parteilos.«

»Meine Rede«, sagte Kutschen-Meyer, und Schäfers erklärte die Frage für historisch konkret beantwortet. Ebensogut hätte er auch gleich die Frage für beantwortet gelten lassen können, ob Einverständnis bestehe über die Aufnahme Davids, denn Eignung oder nicht, das wurde nicht erst an diesem Tisch entschieden.

Aber Schäfers glaubte sich wohl zu scharfem Examen verpflichtet; er hatte eine Liste parat, und David mußte sich zu Grundbegriffen der Theorie und Hauptproblemen der Praxis äußern, und da er meinte, er müsse in dieser besonderen Situation auch mit besonderem Wissen glänzen, zog er die Beispiele, mit denen er seine Thesen stützen wollte, aus einem Gebiet heran, das ihm durch ersten Beruf und frühe Leidenschaft vertraut geworden war, und zu Johannas sichtbarem Grimm und Kutschen-Meyers hörbarem Vergnügen gewann das Aufnahmegespräch allmählich den Charakter eines militärhistorischen Kolloquiums.

Erst als David nach Schäfers Aufforderung, er möge den Sinn des Kollektivs historisch-konkret erläutern, das heillose Nebeneinanderher bei der Entwicklung des Hammerless-Gewehrs als tragischen Fall mangelnder Kollektivität vorgeführt hatte und den Widerstand feudaler Militärs gegen den Hinterlader als Beleg für die Rolle des Bewußtseins bei der Entwicklung der Produktivkräfte verstanden wissen wollte, erst da griff Johanna Müntzer ein und forderte die Rückkehr in zivilere Bereiche, und richtig zornig wurde sie erst, als David sich noch nicht gleich bremsen wollte und seinen künftigen Genossen eröffnete, Militärisches und Ziviles seien oftmals von Leuten befördert worden, die sich auf beiden Gebieten gleich erfindungsreich gezeigt, zum Beispiel danke man Spencer nicht nur das nach ihm benannte Schießeisen, sondern auch eine automatische Drehbank, und White, dessen Gewehrmagazin das erste kriegsmäßig eingesetzte gewesen, habe auch so etwas Friedliches wie eine Nähmaschine konstruiert.

Da schlug Penthesilea mit ihrer Handtasche auf den Tisch und forderte David auf, hier jetzt nicht wie ein schießwütiger Teufel zu reden, es gehe schließlich um sein neues Leben und nicht um alte Mordwerkzeuge.

»Stimmt«, sagte Kutschen-Meyer, »obwohl es fürs neue Leben nicht schadet, wenn man sich mit solche Werkzeuge auskennt. Nun leg mal deine Liste beiseite, Schäfers, und du, David, vergiß mal dein Arsenal, du bist nämlich im Begriff, einen mächtig langen Schritt zu machen. Ich sage nicht, nun verwandelt sich dein Leben völlig und wird ganz anders, aber ich sage dir, jetzt mußt du noch mehr ran, sonst wird nischt. Von nun an fängt jeder, der was von dir will, mit folgende Einleitung an: ›Du als Genosse …‹ Du kannst det natürlich immer als eine Ehre auffassen, aber vor allem ist das eine Aufforderung, noch einen Schlag zuzulegen. Vielleicht sagst du det hier noch mal eindeutig: Daß dir das klar ist und daß du dich daran halten willst.«

»Das ist mir klar«, sagte David, »und daran will ich mich immer halten.«

»Denn is jut«, sagte Kutschen-Meyer, »dann stelle ich einen Antrag: Nun ist Sense mit der Debatte! – Oder willst du ihn nicht, Johanna?«

»Bist du verrückt?« sagte Johanna Müntzer. »Wer hat ihn denn vorgeschlagen, ich oder du?«

»Wir beede«, war Kutschen-Meyers Antwort, und Schäfers erfaßte die Lage: »Also führen wir einen Beschluß herbei. Der Parteileitung und der Mitgliederversammlung wird die Empfehlung zugeleitet, den Kollegen David Groth in die Reihen aufzunehmen. Begründung: Abgesehen von der bekannten Tätigkeit des Kollegen Groth als Assistent der Herausgeberin hat ein umfassendes Gespräch ergeben, daß alles in Ordnung ist, schulungsmäßig und dialektisch und auch persönlich, ist es nicht so?«

»Ja«, sagte Kutschen-Meyer, »und denn kannste in dein Protokoll reinschreiben: Wenn wir mal infolge der Zuspitzung des Klassenkampfes einen General brauchen …«

»Wehe dir, Schäfers«, rief Penthesilea, »wenn du so was erwähnst! Ein Wort, und morgen holt ihn Xaver Frank zur Polizei, aber, Genossen, ich brauche diesen Menschen jetzt hier!«

Und David hatte sich besonders kräftig bei Johanna Müntzer und Kutschen-Meyer bedankt, und gedacht hatte er: Das trifft sich, denn ich glaube, ich brauche euch auch.

Schäfers aber hatte sich an Johannas Weisung gehalten, und so hatte David weder ins Kriminalistische noch ins Militärische gemußt und sich umtun können im neuen Fach Pressewesen, und als dann doch noch einmal, ein Dutzend Jahre später, die Sprache auf Davids spezielle Beschlagenheit gekommen war, da hatte der Genosse Schäfers damit nichts zu tun gehabt. Er saß in seiner Pförtnerbude, als David auf die Reise nach London ging, und er saß in seiner Pförtnerbude, als David von seiner Reise wiederkam. Natürlich war die Reisegeschichte schon vor David her durch das Haus gelaufen, und der Pförtner ließ seinen Kollegen und Genossen nicht eher passieren, bis der einige Einzelheiten vom Flug über die Meere berichtet und seinen Betriebsausweis vorgewiesen hatte. So gleich zweimal zufriedengestellt sagte Schäfers: »Wenn man bedenkt, wie wir beide hier angefangen haben, und nun fliegen wir nach Amerika! Aber ich habe das damals schon ausgeführt: Es hat alles Entwicklungscharakter, ist doch in Ordnung. Man muß es einmal so sehen: Damals die paar Leute hier durch die Kontrolle, und heute hat man extrem durchlaufend zu tun. Jetzt ist die Abteilung Dokumentation gebildet; vollständig neue Kollegen. Man kommt aus dem Einprägen der Gesichter gar nicht mehr heraus; es ist ein Ausdruck der Entwicklung; alles fließt, Genosse Groth, und wie ich es sehe, fließen wir alle mit, ist es nicht so?«

Und nun war des Genossen Schäfers Flußfahrt zu Ende; auf dem Wege zum Dienst, drei Schritt vor dem Tor der NBR, war er zusammengesunken, »Managerkrankheit«, sagten seine Pförtnerkollegen, »eindeutiger Fall von Managerkrankheit: zuviel Verantwortung, zuwenig Bewegung und zu starker Kaffee, früher oder später jeht uns det alle so!«

»Früher oder später geht’s dir wie Schäfers«, sagte David zu Jochen Güldenstern, als er sah, daß der sich gleich nach dem Einsteigen in den Wagen den Hosenbund lockerte. »Hinterm Gürtel hast du einen Ansatz zum Manager, aber dir halte ich keinen Nekrolog. Eine Unsitte ist das, dies Gerede am Grabe. Ich versteh’s ja, das sind so Scheinbewegungen, wo der Verstand einem noch stillesteht im Schrecken, Übungen sind das für die Übergangsphase zwischen Tod und weiterem Leben, aber ich sage dir: Wenn wir an so eine frische Grube treten, verwandeln wir uns alle in alte Germanen.«

Jochen Güldenstern, erfahren im Umgang mit dem Chefredakteur David Groth, dem Eiferer in Sachen überholte Gewohnheiten, fragte gleichmütig: »Was machst’n so was mit, wenn es dir so germanisch ist? Und hast du schon mal geprüft, ob du selber sang- und klanglos in die Kuhle geschippt werden möchtest?«

»Es muß nicht sang- und klanglos sein, nur diese Absprachen, die keiner mehr versteht, und jeder hält sie ein, und so sieht es dann auch aus, das biegt dich doch auseinander! Nimm nur dieses Schlangestehn, damit sie dem Teuren die drei Handvoll Erde auf den Kasten werfen können, das wäre eine Nummer für Marceau. Mußt mal zusehen bei Gelegenheit, du glaubst nicht, wieviel Arten es gibt, in eine Schippe voll Sand zu greifen, und wieviel Möglichkeiten, mit Kies zu schmeißen, zwischen sachte durch die Finger rieseln lassen und mit Wucht von oben nach unten feuern entdeckst du eine lange Skala von Sandbewegung, wenn du erst einmal darauf achtest. Und dann anschließend die Klemme: Wie kriegen sie ihre Finger wieder sauber? Die hellen und kindlichen Charaktere erkennst du gleich, die wischen sich dreimal über die Hose, Problem gelöst, aber du kannst auch welche sehen, die polken eine Viertelstunde verstohlen Krümel für Krümel ab, und einen hab ich mal beobachtet, der ist damit überhaupt nicht zu Rande gekommen, der hat die schmutzige Hand hängen lassen, als wäre sie gelähmt, bis auf die Straße. Und auch die Nummer: Ich bin jetzt ergriffen! wird in vielen Varianten angeboten, Stanislawski-Etüden, sage ich, Theater, sage ich dir!«

»Ich sehe«, sagte Jochen Güldenstern, »wer dich als Trauergast hat, kann sich über mangelnde Anteilnahme nicht beklagen.«

»Nein, an mir allein kann das nicht liegen. Vielleicht macht es die Häufigkeit, die Gewohnheit, die abstumpfende; es sterben einfach zu viele Leute. Ich habe den Eindruck, immerfort stirbt einer, aber vielleicht liegt es daran, daß man älter wird. Wenn du jung bist, sind auch deine Freunde jung, da ist der Tod noch eine Seltenheit, und so wird dir eben klar: Wenn sie um dich herum sterben, bist du auch bald reif.«

»Ja, du«, sagte Jochen Güldenstern, »wie alt bist du gleich, achtzig oder bald neunzig? – Das hängt auch mit deiner Stellung zusammen: Als Chef dieser Zeitung bist du eine öffentliche Anstalt. Mit wie vielen Leuten hast du zu tun gehabt, als du bei uns angefangen hast, so, daß du auf den Friedhof gemußt hättest, wenn es bei denen soweit gewesen wäre? Und jetzt? Ich seh’s doch schon an mir, ich mache nur die Ökonomie, aber kenn ich da tausend Leute oder zehntausend? Manchmal denke ich, zehntausend, und wenn’s dann ein Problem gibt, ist es immer noch einer zuwenig. – Kann ich mal zur Sache kommen? Ich bin nämlich eigentlich schon dabei.«

»Natürlich«, sagte David. »Ich höre zu.«

Er hörte zu, und manchmal war ihm, als hörte er sich selber reden. Jochen Güldensterns Problem war auch seines, und er wußte: nicht nur seines.

»Mit dem Kraftwerk Nord fing es an«, sagte Güldenstern, »oder sagen wir: Da wurde es deutlich. Es hat mich schon öfter beschlichen, aber da habe ich mir gesagt: Unsinn, jetzt fängst du an, ein Intellektueller zu werden; mach hier deine Arbeit, dann stimmt die Richtung. Nun weiß ich nicht. Kurz: die Sache mit dem Schreibtischgeneral und seinem schlechten Gewissen.

Oder ich fang mal anders an: Du weißt, ich kenne den Bienhofer gut; wir haben zusammen in Spremberg Stühle geleimt bei Plötz K. G., und jetzt schreibt er Bücher, aber wir sehn uns noch, und ich staune nur, was der unter der Mütze hat. Wir Spremberger, Mensch! Neulich kommt er und schäumt. Sie hatten Versammlung gehabt im Schriftstellerverband, Parteiversammlung, und der Frauwein hat ein Referat gehalten, der Direktor von TKL; wir hatten mal ein Interview mit ihm im Blatt. Der ist ja nicht dämlich, aber sein Referat hat er wohl nicht vorbereitet gehabt.

Da sind die Meister der Kultur unruhig geworden; sie waren sauer, und darauf hat unser Frauwein wieder sauer reagiert, hat plötzlich angefangen, über die Literatur zu schimpfen: ›Nur alle drei Jahre ein Buch schreiben – was ist das für eine Arbeitsproduktivität? … Wenn man das so liest, denkt man: Alle unsere Menschen sind Sittenstrolche … Alles wird aus dem Zusammenhang gerissen …‹ An dieser Stelle, sagt Bienhofer, hat er sich erkundigt, wen Frauwein eigentlich meint, aber das hat dem nicht gepaßt. Er hat den Genossen Schreibern verkündet, solche Zwischenrufe seien nicht parteimäßig, so was sei überhaupt nicht üblich, jedenfalls dort nicht, wo er herkäme. Prompt haben sie ihn gefragt, wo das ist, wo er herkommt, und seine Antwort war: ›Aus einer Parteiorganisation, wo die Arbeiterklasse herrscht!‹

Na, der Abend war hin, weil die Schriftsteller sich auf solche Unterscheidungen nicht einlassen wollten; das wäre ja auch übel, wenn sich plötzlich jeder seine eigene und besondere Partei in der Partei erfinden wollte.

Aber dies nur als Ausgangspunkt; die Frage ist natürlich: Wie ist das nun mit der Arbeiterklasse und unsereins? Ich hab doch nicht deshalb studiert, damit es eines Tages heißt: Du gehörst nicht mehr zur Arbeiterklasse. Natürlich hat sich etwas geändert, aber so, daß einer einen Gegensatz daraus konstruieren kann? Nee, bin ich nicht der Meinung.

Ich mache keinen Fetisch daraus, aber wenn ich höre: Voran, du Arbeitsvolk!, meine ich mich selber immer noch mit, verstehst du?«

»Das ist ja nicht schwer«, sagte David, »aber das Problem ist schwierig genug. Weil wir doch tatsächlich keine Arbeiter mehr sind, Handarbeiter nicht und Proletarier schon gar nicht. Proletarier im klassischen Sinne gibt’s sowieso nicht mehr bei uns, aber Arbeiter gibt es natürlich, und so zu tun, als wären wir und sie noch in allen Punkten ein Pott, ein Stülp, das wäre unwissenschaftlich, aber, und das scheint mir der springende Punkt zu sein: Wer nun daraus etwas anderes machen will, aus dem Unterschied einen Gegensatz, dem gehört eins auf die Nase.«

Jochen Güldenstern winkte ab. »Bleiben wir bei mir: Ich war jetzt oben auf der Baustelle Kraftwerk Nord. Du weißt, wie so was aussieht: Eine Gegend, in der der Gipfelpunkt an Technik bisher die Eisenbahn gewesen ist. Sand und Kiefer, Heidekraut und Kreuzottern. In ein paar Jahren steht da ein Kernkraftwerk, und niemand zweifelt daran. Wenn du nach Bewußtseinsfortschritt suchst, da steckt er: Die Schwarzen Pumpen haben diese Art Zweifel erledigt.

Aber es wird natürlich wieder eine Schinderei; per aspera ad astra, fein, aber jetzt kommt erst einmal eine lange Zeit aspera, kannst du auch mit Rabotta übersetzen: Schlick und Schlamm und Gummistiefel, Hau ruck und Gib ihm.

Dann kommst du da hin, Zeitungsfritze, der tausendste ungefähr, und der freundlichste Blick sagt: Na ja, muß es auch geben.

Das ist aber der freundlichste. Du steigst aus dem Auto und störst. So heilig ist denen die Arbeit nicht, daß eine Unterbrechung sie umbrächte, aber jetzt störst du sie.

Gabelbach ist da noch fein raus; der hat seinen Fotokram mit, dem sieht man an, daß er eine Art Arbeit macht, aber was ist mit mir? Ich weiß noch, in Schwedt hab ich mal einen gefragt, ich Idiot: ›Nun, Kollege, wie entwickeln sich die Dinge?‹, und die Antwort war: ›Nun, Kollege, die Dinge entwickeln sich folgendermaßen: Ich nehme dieses Gerät hier, man nennt es einen Spaten, wenn Sie sich das einmal notieren möchten, und den richte ich im rechten Winkel gegen den Boden, unter uns gesagt: Es ist nie ein exakter rechter Winkel, es ist eher ein leicht stumpfer, hundert Grad etwa, das erleichtert die Entwicklung des Spatens in das Erdreich hinein. Um diese Entwicklung zu erreichen, setze ich meinen rechten Fuß, das ist dieser hier, auf die rechte obere Spatenkante – wenn Sie das festhalten wollen: rechter Fuß auf rechte Kante, das wird so leicht verwechselt und hemmt dann die Entwicklung der Arbeitsproduktivität –, und nun kommt etwas sehr Wichtiges: Es kommt in meinem Körper zu einer gewissen Kraftentwicklung, die aber nur stattfindet, wenn alles zusammengeht: Sehnen, Muskeln, Knochen und vor allem das Bewußtsein, nicht nur das Bewußtsein: Es muß jetzt diese Kraftentwicklung eintreten, damit mein Spaten durch die Grassoden in die Erde dringt, sondern auch das Bewußtsein von der gesellschaftlichen Bedeutung meines Handelns – so einfach drauftreten, das wäre, entwicklungsmäßig gesehen, nicht die richtige Haltung, da entwickeln sich die Dinge nicht …‹

Seine Kumpel wären zuerst beinahe am unterdrückten Lachen erstickt, und mir hat es fast die Trommelfelle zerrissen, als sie dann doch loslegten. Zum Glück bin ich nicht weggelaufen; ich hab mich für die dämliche Frage entschuldigt, aber auch gesagt, daß ich mich ganz gut alleine verarschen könnte, o weh!«

»Ich weiß nicht, was ihr habt«, sagte Davids Fahrer plötzlich, »was soll denn daran nun knifflig sein? Wenn du keine dämliche Frage gestellt hättest, hättest du keine dämliche Antwort gekriegt. Dasselbe Ding hätte dir doch mit einem Arzt auch passieren können oder mit einem Schauspieler. Wieso erfindest du dir Sorgen mit Arbeiterklasse und Gegensatz? So blöde ist keiner, daß er nicht weiß, daß man überall ran muß, wenn es laufen soll, oder?«

Jochen Güldenstern winkte wieder ab. »So einfach ist das nicht, Erich. Damals in Schwedt, das war klar, meine Ungeschicklichkeit, das hab ich mir gemerkt, das ist mir so schlimm nicht wieder passiert, aber daß ich kein Arbeiter mehr bin, merke ich immerfort.«

Erich, der Fahrer, war erst seit einem guten Jahr bei der Rundschau. Vorher war er bei einem Institut für Pflanzenfette gewesen, und seinen Wechsel zur Zeitung hatte er bei Carola Krell so begründet: »Du kriegst einen Zettel: Morgen fünf Uhr dreißig da und da Boß Sowieso abholen. Halb sechse stehe ich vor der Türe. Dann steigt einer ein und sagt: ›Halle!‹ Ich los nach Halle. Bis Michendorf studiert er sein Zentralorgan, den Rest pennt er. In Halle sage ich: ›Wie lange wird’s denn etwa dauern?‹ – ›Das weiß ich doch nicht‹, sagt er. Weg ist er. Wenn ich denke: Jetzt könntest du dir eine Tasse Kaffee holen, dann kommt er, garantiert. Wenn sie ihn nicht zu sehr geärgert haben, sagt er sogar noch, daß wir jetzt wieder nach Hause fahren. Auf jeden Fall pennt er wieder. Vor seiner Tür wird er volkstümlich und sagt: ›Wiedersehen!‹, das klingt zwar meist wie Wien, Wie’n, aber immerhin. – Nee, Kollegin Kader, da fahre ich doch lieber Persönlichkeiten!«

David hatte sich bei den ersten Fahrten mit ihm bei dem Versuch ertappt, eine Persönlichkeit abzugeben, aber sie waren auch ohne Mühe gut zu Rande gekommen.

Nun schüttelte Erich über seinem Lenkrad den Kopf und sagte: »Das ist mir zu hoch, Jochen. Vermißt du abends, daß dir die Knochen weh tun, oder fehlt dir der Kaltleim an den Fingern? Jetzt mache ich mal eine Probe, einverstanden? Geh doch wieder in die Möbelfabrik; überleg mal, möchste?«

David lachte. »Kann er sofort haben, unter drei Bedingungen: Er muß einen Nachfolger stellen, der genausoviel von Ökonomie und Illustriertenarbeit versteht; er muß dem Staat die Auslagen für das Studium zurückzahlen, zwanzigtausend wären wohl reell; und er darf nie wieder eine Zeile schreiben, Öffentliches jedenfalls nicht.«

»Ich könnte ja als schreibender Arbeiter gehen«, sagte Güldenstern.

»Nee, nee, dann haben wir dich früher oder später wieder auf dem Hals! – Was taxierst du, was würden deine Kollegen sagen, die bei Plötz K. G. in Spremberg, wenn du da wieder ankämest: Freunde, ich wollte wieder einer der euren sein!?«

»Der hat ’n Hammer, würden die sagen«, sagte Erich, »und glaube bloß nicht, die würden sich freuen. Die machen vielleicht jetzt ihre kleinen Witze über dich, wenn du sie besuchst, als ihr Studierter, aber richtig angenommen, du wirst wieder Holzarbeiter, dann hast du verspielt. Weil es nicht normal ist und, meine Vermutung: deine Kumpel würden zwei Sachen denken: Du hast es nicht geschafft, als Persönlichkeit, und das hebt dich nicht, als Persönlichkeit, und du hast es nicht geschafft als einer von ihnen. Das wäre eine Beleidigung für sie. – Meine Meinung: Als studierter Redakteur bist du mit ihnen zehnmal mehr verbunden, als wenn du ein Abgebrochener wärest, ein Wolltemalundkonntenicht. Meine Meinung.«

»Das kann schon sein«, sagte Jochen Güldenstern, »nur geht es darum gar nicht. Niemand redet von zurück zu Plötz K. G. – Noch einmal Kraftwerk Nord, damit hat es angefangen. Einen Artikel über seine volkswirtschaftliche Bedeutung schreibe ich euch allemal. Über die Technologie des Aufbaus dort, neue Methoden, Hemmnisse, Rückschläge, Überwindung der Schwierigkeiten bringe ich meine Aufsätze zuwege, ein paar Gespräche mit den Baustäben, ein paar Anrufe, Zuhören bei Beratungen, Fachaufsätze lesen – da kommt zusammen, was ich brauche. Nur ist das alles doch fast noch die Theorie eines solchen Unternehmens, und die Praxis besteht aus tausend Teilen, winzigen manchmal nur, aber so wichtig. Gut, ich bin Journalist, ich soll das Werk nicht bauen, ich soll einen Eindruck davon vermitteln, und wenn es hoch kommt, kann ich einmal helfen, indem ich etwas öffentlich mache.

Aber diese Art Journalismus, meine, führt zu einer spezifischen Ungerechtigkeit: Von irgendwann an beginne ich in Parametern zu denken, Großabschnitten der Strecke, von Plantermin zu Plantermin, ich lasse mich verführen, ich verführe mich selbst, die Grundbedingung von alledem zu vergessen oder doch zu vernachlässigen: das Leben, die ganz konkrete Arbeit, die Neigungen und Abneigungen, die Ansichten und die Schwierigkeiten derer, ohne die alle geplanten Parameter und also die ganze Strecke ein Scheißdreck wären.«

»Aber das tun wir doch nicht«, warf David ein, »beim Fernsehturmfundament haben wir alle Brigaden vorgestellt, und nicht nur da. Was willst du, hinter jedem einzelnen Bauarbeiter herlaufen?«

Es schien, als wollte Jochen Güldenstern das Gespräch aufgeben, es als hoffnungslos abbrechen. Er sah finster zum Fenster hinaus und betastete seinen Bauch und pustete vor sich hin wie nach einem scharfen Lauf.

David war es unbehaglich, weil er wußte, was im Zentrum der verwackelten Redespirale Güldensterns steckte, und weil er sich eigener Gedankenkreise um denselben Kern entsann. Da ist ohnehin nichts zu reden, dachte er, da mache ich mir lieber einen Text für das Urnengrab vom Genossen Schäfers, aber da meldete sich Erich. »Du bist gut, Jochen: Ich höre hier zu und gebe mir Mühe, euch zu folgen, und nun ist nichts mehr. Ich möchte die Leute aber verstehn, die ich fahre, sonst könnte ich ja auch Pflanzenfette fahren, aber dich verstehe ich noch nicht.«

»Ach, das ist alles ungenau, was ich gesagt habe. Im Grunde genommen geht es auch nicht um die Zeitung oder um Journalismus, sondern darum, ob man sich das Gefühl bewahrt für das, wo man herkommt und für wen man da ist. Ich weiß eben nicht, wie das wäre, wenn der Genosse Frauwein mir gegenüber mit seiner Arbeiterklasse aufgetrumpft hätte, immerhin ist er noch ein Mann aus der Produktion, und ich bin bestenfalls ein Produktionsbeschreiber.«

»Dein Freund Bienhofer ist auch nur ein Beschreiber«, sagte David ungeduldig, »hat der auch solche Hemmungen? Ich hatte nicht den Eindruck.«

Aber Güldenstern wehrte sich. »Der ist eben kein Beschreiber. Der baut. Der macht Wirkliches. Wenn der was geschrieben hat, kannst du es später anfassen, nicht nur das Buch, nein, die Leute, die drin vorkommen. Er hat sie sich ausgedacht, aber jetzt laufen sie hier rum.«

»Ich äußere einen Verdacht«, sagte David. »Du willst Schriftsteller werden!«

Güldenstern nickte. »Alle wollen Schriftsteller werden, Bienhofer sagt, er hat kaum eine Lesung mit anschließender Diskussion gehabt, wo nicht einer aufgestanden wäre und hätte gesagt, wenn er nur Zeit dazu hätte, er wüßte was zu erzählen, er hätte Sachen auf Lager, die saftigsten – wenn er nur die Zeit dazu hätte. Bienhofer sagt, nach seinen Erfahrungen unterscheidet sich ein Schriftsteller von anderen Menschen nur dadurch, daß er sich die Zeit genommen hat, es zu werden. – Nein, ich will keiner werden, und ich will auch nicht wieder Holzarbeiter sein. Ich überlege nur, ob ich nicht für die Zeit des Aufbaus zum Kraftwerk Nord übersiedle und dort jeden Schritt mitmache, deshalb hab ich dich sprechen wollen, und deshalb komme ich nun gleich in den Genuß deiner Trauerrede für den Genossen Schäfers, und ich weiß schon selber nicht mehr.«

»Wunderbar«, sagte David, »du gehst für drei Jahre an den Greifswalder Bodden und rettest dein proletarisches Seelenheil, machst eine Pilgerreise ins vorpommersche Mekka, und deine gelegentlichen Berichte zeichnen wir: Von unserem Korrespondenten Bruder Jochen. Gabelbach delegieren wir bis zum zwanzigsten Jahrestag, lumpige zwanzig Monate, an den Fernsehturm; Hans Bammler heftet sich auf die Fersen der Nachwuchsschwimmerin Ramona Schikowski und läßt sie bis Olympia zweiundsiebzig nicht aus den Augen – damit er den Kontakt mit der Jugend nicht verliert, geht er in die Schule mit ihr und wird Thälmann-Pionier ehrenhalber; Gerd Korn installieren wir in, sagen wir, Damaskus, wo er die weiteren Schritte der DDR-Weltgeltung mitstiefelt; die Kulturmenschen, am besten gleich alle drei, hetzen wir auf deinen Freund Bienhofer, damit sie der Geburt eines künstlerischen Gedankens beiwohnen – alle drei, damit sie sich ablösen können: diese Künstler produzieren ihre Ideen zu den unmöglichsten Zeiten …«

Erich bewies Gefallen an der Vorstellung. »Dann müßt ihr aber eure sagenhafte Johanna Müntzer aus der Rente holen, damit sie den Laden wieder schmeißt; den Geschichten nach hat sie das früher ja auch gemacht. – Hier ist aber erst mal der Friedhof; ich warte, für tote Persönlichkeiten kann ich mich nicht erwärmen.«

Sie stiegen aus, und David vergaß nicht, den Fahrer aufzufordern, in der Trauerkneipe gegenüber einen Kaffee zu trinken; er hatte Carola Krells warnende Nacherzählung nicht vergessen, aber das Ergebnis war immer das gleiche: Erich winkte ab und sank auf seinem Bock zum Schlummer zusammen.

Jochen Güldenstern nahm die Blumen und sagte: »Du brauchst schon nicht weiterzureden; ich habe es verstanden, und ich habe es auch vorher selber gewußt.«

»Ich rede aber weiter«, sagte David, »du kannst mich nicht erst zur Leitungstätigkeit provozieren, und dann darf ich nicht. – Hast du von Che Guevara gehört?«

»Hab ich von Napoleon gehört oder von Gagarin?«

»Entschuldige, ich wußte nur nicht, weil du doch bei der Zeitung bist … Ich bin sicher, der ist ein großartiger Mann, ein Revolutionär durch und durch, Spartakus, John Ball, was du willst. Er hat Fidel seinen Ministerposten zurückgegeben, und es ist ziemlich sicher, daß er in Südamerika ist, für die Revolution natürlich. Ich habe mit zwei bolivianischen Genossen gesprochen; die sind nicht die ganze Partei, aber was sie sagen, leuchtet mir ein: Wäre jetzt die Lage für eine Revolution, dann gäbe es sie auch. Dann wäre jeder erfahrene Mann willkommen, aber ohne die Lage muß alle Klugheit, alle Erfahrung und alle Begeisterung verdampfen. Was zur Zeit getan werden kann, kann die Partei auch ohne Che, aber in Kuba fehlt er indessen. Sie meinten, die Befreiung Lateinamerikas käme in dem Maße näher, in dem Kuba über den Akt seiner Befreiung hinaus vorwärtskomme. Der Umsturz sei die erste Antwort auf die Fragen des Kontinents gewesen, und Ruhm und Ehre denen, die die Antwort gaben, aber weiter geht es nur über einen Weg von tausend weiteren Fragen. Kann man leben ohne die Latifundistas und ohne die Americanos, gegen sie, sind nur zwei davon, kann man besser leben, wäre die dritte – und so fort. Die Überzeugung der Überzeugten, daß man kann, ist das eine – die Beweise aber, ohne die man in dieser Welt nicht mehr auskommt, sind das andere.

Sie haben mir viel erzählt, die beiden Genossen, auch über Kuba, grandiose Geschichten und schreckliche; sie waren voller Sympathie für Guevara, aber sie billigten nicht, daß er fortgegangen ist. Sie sagten: Revolutionär sein, das heißt auch: den Platz suchen, finden und behaupten, von dem aus man ein Maximum an Änderung durchsetzen kann.«

»Ist schon gut, David«, sagte Jochen Güldenstern, »deine Fabel ist zwar einige Nummern zu groß ausgefallen, aber deine bolivianische Formel für das, was ein Revolutionär ist, die ist nicht so schlecht, zumal sie auch aus Leuna stammen könnte oder aus Berlin, Marx-Engels-Platz.«

»Oder von der Baustelle am Greifswalder Bodden«, sagte David.

»Oder von da«, sagte Güldenstern, »aber weißt du: Ich kann den Che Guevara sehr gut begreifen.«

»Meinst du, ich nicht?« fragte David, und er dachte: Meinst du etwa, ich nicht, Mensch? Meinst du, ich jauchze immerfort: Erfüllung!, wenn ich an mein Tagwerk denke? Jetzt wohl gar, wo ich als besserer Herr verkleidet über einen Friedhof schreite – ein Chef, der einem verdienten Mitarbeiter etwas Gedämpftes nachrufen muß? An einem Tag wie diesem womöglich noch, an dem ich nichts weiter tue, als die Gewohnheiten in Gang zu halten? Meinst du, ich bin begeistert von mir, wenn ich mir melden kann: Nun ja, es läuft, keine besonderen Vorkommnisse, auf Posten nichts Neues? Das soll Glück sein, mein Glück: Die Maschine arbeitet, das Fließband fließt, keine Stockungen und keine Katastrophen?

Ich bin’s zufrieden, wenn es so geht, denn es ging nicht immer so, und kein Höhenflug ohne Ordnung am Boden, aber Glück ist wohl anders.

Sehr fragwürdig, Meister Groth, sehr fragwürdig, deine Ansicht! Du kommst dir da selbst ins Gehege. Wohin siedelst du dann deinen Glücksbegriff?

Du hast an diesem Apparat gebaut, damit er funktioniere. Jetzt funktioniert er – hinreichend. Du warst auf die Übereinstimmung zwischen Erfordernis und Anstrengung aus – die Lücke zwischen beiden ist schon kleiner geworden. Die Route deines Lebens stimmt: Mensch, juble!

Nun ja, jubeln – das wäre affig; aber nörgeln, weil zu den Pflichten, in die man sich selbst gebracht hat, auch die Wiederholung gehört, das ist wohl lächerlicher noch.

Ein bißchen Wehmut ist erlaubt. Wenn sie dir die Artikel über Vietnam bringen, darfst du dich ins Reporterkhaki zurückträumen. Wenn sie mit den Kranbauern aus Eberswalde auf die Reise nach Bangkok gehen, darfst du wünschen, du könntest mit ihnen tauschen. Über den Bildern vom Contergan-Prozeß darfst du denken: Man müßte dem Weg des Geldes nach: aus dem Portemonnaie der jungen Frau, die nicht schlafen kann – warum eigentlich nicht? –, bis in den persönlichen Etat des Fabrikanten, der wie schlafen kann? Und wenn schlecht, was nimmt er da? Und wenn gut, wie verträgt sich das? Wie ist ihm, wenn er die Fotos von den Kindern sieht? Wie ist er mit seinen Kindern? Was macht das Geld aus ihm, solches Geld? Hat er das Beste gewollt? Fehlt ihm, auch ihm, das Unrechtsbewußtsein? Ist er der Pharmazeut Eichmann oder Hinz und Kunz als Pharmazeut? Hat er eine Philosophie, eine Theorie, einen Glauben, braucht er so was? Und, übrigens, was meint er denn wohl: Was ist ihm Glück?

Das steht dir frei, Chefredakteur Groth, dies: Man müßte mal … Man müßte vier Wochen in Fritz Cremers Atelier hocken. Man müßte in ein Dorf ziehn, das umziehen wird vor der Kohle her. Man müßte auf lange bei Anna Krause bleiben, zweiundsiebzig, Rentnerin, Witwe seit dem Volkssturm; müßte mit ihr auf die Post der Rente wegen und wegen des Päckchens aus Heidelberg, mit zum Spritzendoktor und zum Klempner von der Wohnungsverwaltung und auf Ausflug nach Lanke mit der Volkssolidarität und auf Konfirmation von Edeltrauts Jüngstem und zurück in ein Zimmer, in dem sich nichts mehr ändern wird.

Nach Dubna müßte man und nach Jena, nach Biafra und nach Plate bei Schwerin; Bormann müßte man aufspüren, einen Erfinder entdecken, einer Kiste Aal auf der Spur bleiben, Klaus Fuchs die Memoiren abluchsen; man müßte herausfinden, warum Jäcki Meißner, »Feile« genannt, klaut, müßte sich im Strafvollzug umtun und in den Bücherschränken der staatlichen Filmeinkäufer, müßte seine Runden drehen in den klassischen Reporterbahnen: ums Kriminalgericht, über die Schlachtfelder, um die Erde als Tramp; den Schicksalen müßte man nach, die Sonntag für Sonntag aus der Lottotrommel springen; endlich die ganze Geschichte der »Roten Kapelle« müßte man schreiben und die der grünen Revolution auf den Äckern zwischen Saßnitz und Greiz und überhaupt alles noch einmal besser, wahrhaftiger, aufregender, besser, besser, besser, und am besten wäre es, man könnte dies alles selber versuchen.

Doch adieu, Konjunktiv – der Indikativ lautet: Leiten, leiten, leiten. Einmal wöchentlich ist David Groth dem Selbermachen am nächsten. Da ist Konferenz: Auswertung der vorletzten Nummer anhand der Briefe; Auswertung der letzten Nummer anhand der eigenen Meinung; Stand der nächsten Ausgabe unmittelbar vor Andruck: »In der Glosse über Mitbestimmung steht zweimal ›PS-Vorstand‹ statt ›SP-Vorstand‹, ausgerechnet PS!« Zwischenrufe: »Ist eben ’ne Glosse!« und: »Wenn wir bei ›SPD‹ geblieben wären, passierte das nicht.«

Und schon rückt es David ein wenig fort vom Zeitungmachen, denn er sieht: Die politische Direktive ist noch nicht klar durchgekommen, aber er ist hier Chef, damit die Direktiven durchkommen: also nochmals Erläuterung.

Anfrage von Christa mit dem Stenoblock: »Wieso sind wir schon bei Drittens? Sie geben die Tagesordnung bekannt, und schon sind wir bei Drittens? Entfallen denn heute Eins und Zwei?«

»Ist in Ordnung, Christa, danke! Nein, wir machen jetzt Eins und Zwei, dann die Leserbriefe zur Vorletzten und nachher, Christa, wie immer das Künftige unter viertens und fünftens. Die Leserbriefe, Lilo!«

Lilo berichtet, besonderes Lob sei nicht eingegangen und besondere Schimpfe auch nicht, bis auf eine. Die Kleinigkeiten hat sie schon weitergegeben, zum Beispiel vier Briefe zu »Aus dem Leben eines Schöffen« und dem Satz des Kollegen Reh: »Und wieder einmal stand Peter S. auf der Anklagebank.«

Konferenzfreude und Kollege Reh ist wütend. Dann wieder Lilo: Große Schimpfe kam von einundzwanzig Lesern. Tenor: Unzulässige Disproportionen in der Berichterstattung über Weltraumforschung. Kernpunkt: Das sowjetische Programm ist hervorragend, aber tut doch nicht so, als schmissen die Amerikaner mit Murmeln! Sechsmal kommt wörtlich oder fast wörtlich die Frage: »Haben wir das nötig?« Ein Brief, sagt Lilo, ist von einem Lehrer aus Eisenhüttenstadt, der ist glänzend geschrieben, sehr prägnant; man sollte sehen, ob man ihn nicht zur ständigen Mitarbeit gewinnen kann.

»Ein Jammer«, seufzt Helga Gengk, »die Meckerköppe können meistens am besten schreiben.«

Protest gegen den Ausdruck »Meckerköppe«. David darf das schlichten. »Stimmt, Helga, kritische Stimmung fördert den Einfallsreichtum, aber dem Blatt bekommt es ganz gut, wenn wir auf das ›Gemeckere‹ hören, oder nicht? – Sagen Sie mal was zu den Raumfahrtproportionen, Doktor!«

Doktor Ensigkeit sagt was. Rein fachlich gesehen, rein politisch gesehen, parteilich gesehen, menschlich gesehen, ganz allgemein gesehen – Doktor Ensigkeit betrachtet das kosmonautische Geschehen aus den verschiedensten irdischen Blickwinkeln und spricht sich für angemessene Relationen in der Berichterstattung aus; er ist bereits von der Akademie der Wissenschaften gescholten worden, aber so überenthusiastisch sind die Amerikaner auch nicht, wenn was Russisches fliegt. »Will mal jemand ›Life‹ sehen?«

Mehrere wollen es, und David muß das unterbinden. »Jetzt nicht! Sie geben dann Lilo was an die Hand für die Antworten, Doktor Ensigkeit, und du kümmre dich mal um diesen prägnanten Lehrer, Lilo; er soll uns mal was über seinen Unterricht schreiben …«

»Schon wieder Schule«, murrt es aus der Sportecke, »wir sollten uns ›Neue Pädagogische Rundschau‹ nennen.«

Dünnes Lachen, schmerzerfüllte Aufschreie, und der Hauptbuchhalter streckt die offene Hand in Richtung Sportecke: Dieser Kalauer kostet eine Mark, und da er schon einmal gemacht worden ist, kostet er zwei.

Der Chefredakteur Groth äußert sich zur Bedeutung der Schule, und wenn auch hier Wiederholung gebührenpflichtig wäre, hätte er zwanzig Mark zu zahlen, mindestens. Dann tanzt er auch noch aus der Tagesordnung. »Helga, wie weit seid ihr eigentlich mit den Nachforschungen über die Magdeburger Volksschulklasse, Jahrgang sechsundzwanzig?«

Helga Gengk setzt zur Antwort an, aber Christa stoppt sie mit der Frage: »Also sind wir nun doch schon bei Punkt fünf?«

Nein, man ist jetzt bei der Zwei, Auswertung der letzten Nummer. Heute hat Jochen Güldenstern die Analyse zu liefern, ihre Summe lautet: Leidlich.

Diese Einschätzungen laufen meistens auf »leidlich« hinaus; man wird von außen ohnehin noch genug auf den Deckel kriegen – wozu das vorwegnehmen?

Aber da meldet sich Annegret aus der Dokumentation; eine Hübsche ist das, noch neu hier und ein bißchen zu sehr studiert, kann auch nicht bei ihren Dokumenten bleiben, hat immer so Fragen. Jetzt will sie wissen, warum auf allen Bildern zu »Sind unsere Interhotels ›inter‹ genug?« die gleichen gelblichen Lampen zu sehen sind.

»Sie sind auf allen Bildern zu sehen«, sagt Gabelbach, »weil sie überall in all diesen Hotels zu sehen sind. Ich bin versucht, eine Erklärung dafür zu geben: Vielleicht sind sie als Mittel gegen Verwirrung gedacht, als Orientierungshilfe, etwa des Sinnes, daß der vielreisende Reisende, schlägt er des Morgens die Augen auf und fragt er sich da, wo nun eigentlich seines Aufenthaltes sei, nach einem ersten Blinzeln auf die Lampe und deren Farbe sogleich erfaßt: Er befindet sich in einem Interhotel. Es ist aber auch denkbar, einem höherstehenden Herrn aus dem Hotelfach haben diese Leuchter gefallen. Ein dahingehendes Wort dürfte genügt haben, um die Frage der Linie für die Installation von Lichtwerfern in Interhotels zu klären. Der Korrespondent Franz Hermann Ortgies berichtet einen verwandten Fall: Friedrich Wilhelm von Preußen hat einen Grafen von Dohna besucht und gesehen, der Kerl brennt in allen Räumen weiße Wachslichter, wo er selber immer nur gelbe benutzt, welchselbes zu folgendem von Ortgies vermeldetem Dialog führte: ›Hat er gesagt: Herr Graff, worümb nicht an stat der weißen wachslichter gelbe anzustecken? worauf der Graff geantwortet: Die gelben dampffen zu starck, und solches thun die weißen nicht, worauf der König repliciret: So, daß habe ich nicht gewußt.‹ – Da können Sie einmal sehen, liebe Kollegin, wie sich Zeiten und Zeitungen doch ändern, oder haben Sie in unserem Blatte schon einmal die Äußerung eines Königs gefunden, die da gegangen wäre: ›Das habe ich nicht gewußt‹?«

»Der Grund wird sein«, sagte David, »wir berichten so selten von Königen«, und er weiß nicht, was es da zu grinsen gibt, und er fragt, ob man nun zum Planungsteil kommen kann.

Kann man noch nicht, denn Edith Schober, Frauen-Edith, hat sich wieder einmal die Anzeigen angesehen und verlangt, man müsse mit der DEWAG-Annoncen-Abteilung endlich energisch reden, die Geschmacklosigkeiten nähmen überhand; und sie zeigt zwei Stück Geschmacklosigkeiten vor: »Hier beginnt ein Heiratswunsch halbfett mit ›Fortschrittliche Witwe mit Wassergrundstück und Rente‹ – das ist doch lächerlich, Kollegen, und ich verwahre mich gegen diese inflatorische Verwendung des Fortschrittsbegriffs. Zweitens verlese ich den vollständigen Text einer, ja, was denn, Heirats-oder-was-Annonce: ›Temperamentvolle Klavierspielerin sucht flotten Geiger zwecks Hausmusik‹, und ich gestatte mir, mich zu fragen, von welcher Art diese Hausmusik wohl sein mag. Es stand übrigens unter ›Verschiedenes‹.«

Hans Bammler kommt aus seinem Dämmer. »Erkläre dich mal, Edith, warum soll es nicht unter ›Verschiedenes‹ stehen? Da stehen doch diese musikalischen Sachen nun einmal, ›Wer spielt uns zur Jugendweihe auf? Akkordeon vorhanden‹ und so.«

»Musikalische Sachen!« sagt Edith Schober. »Jugendweihe! Nach meiner Vorstellung handelt es sich hier um ein obszönes Angebot; soll ich das etwa noch erläutern?«

Die Mehrheit der Konferenz hält dies nun wieder für ein schönes Angebot, aber der Hauptbuchhalter rettet die Lage. »Da am Ende ich mich mit den DEWAG-Leuten auseinandersetzen muß, schlage ich vor, Edith, du machst deine Erläuterungen schriftlich, damit ich denen gegenüber einen festen Stand habe; ich kenne mich mit Musik nicht so aus.«

Er zwinkert, Edith winkt ab, und David tötet den Antrag, Ediths Papier möge als Hausmitteilung durch die Abteilungen geschickt werden; alles klar für den Andruck. Die nächsten beiden Nummern sind redaktionell auch unterm Dach; zwar flammt der Streit um den Fischland-Schmuck noch einmal auf, und es ist noch einmal erstaunlich, wie viele Konferenzteilnehmer Bernstein nicht ausstehen können, aber das war im Prinzip neulich schon geklärt worden: Die NBR wird nicht nur für die Konferenzteilnehmer gemacht; der Fischland-Artikel hat sein Imprimatur, basta.

Und dann bringt die Tagesordnung David Groth dahin, wo er der Erfüllung seiner Träume noch am nächsten ist: Planung, Vorausplanung, Weitvorausplanung: Man müßte mal …

Jetzt sind Leute mit Zukunftsfühlern willkommen:

»Wie wäre es mit einem fiktiven Spaziergang durch das künftige Stadtzentrum? Kollege Gabelbach meint, mit Retuschen der Modelle kann man es lebendig illustrieren, und vielleicht finden wir durch Phantasie heraus, wo noch etwas fehlt.« (Einwurf: »Kneipen!!!«)

»Unser Bezirkskorrespondent schreibt, neunundsechzig beginnen sie in der Lewitz mit einer riesigen Rinderaufzucht; das war bislang noch halbe Urwelt, allenfalls Heuwiesen, aber meistens Sumpf, Moor und Bruch, siebzig Quadratkilometer Vogelschutzgebiet.«

(Frage: »Und was geschieht mit den Vögeln? Das ist doch bei Ludwigslust; ich glaube, da gibt es ganz seltene Vögel.« – Antwort: »Das müßte mit untersucht werden. Lilo, kennst du einen Ornithologen?« – Lilo kennt.)

»Darf ich noch einmal an die Olympiade erinnern?« (Bescheid: Er darf nicht, er braucht es nicht, er erinnert seit drei Jahren daran, alles läuft.)

»Ich hätte noch was für den zwanzigsten Jahrestag!« (Leises Stöhnen irgendwo.) »Analog zum NBR-Weltatlas auf der letzten Seite könnten wir doch neunundsechzig da einen DDR-Atlas hinstellen, oder sind bis dahin die dämlichen Rassehunde immer noch nicht alle?« (Empörung des Rassehunde-Fotografen wird niedergezischt.)

»Die Karten müßten aber gestern in Auftrag; der Jahrestag ist morgen!« (Geknurrt: »Wem sagst du das?«)

»Mit dem nächsten Roman steht es immer noch wackelig; aber Volk und Welt übersetzt gerade einen polnischen Krimi; der soll gut sein.« (»Wer sagt das?«) »Der Übersetzer.« (»Aha!«) – »Kriegen wir jemand in die Dominikanische Republik rein, den Australier vielleicht? Ich finde, man muß jetzt mal zeigen, was rauskommt, wenn die Amis ein Regime retten.« – »Im nächsten Jahr wird Johanna Müntzer siebzig; da bin ich für eine Doppelseite!« (»Bravo!«) – »Ich habe etwas mit Ruhla angesponnen; die machen einen elektrischen Wecker, Weltniveau, und ihre Kennziffern haben diesmal auch real den Inlandsbedarf gleich mit vorgesehen.« (»Oho!«) – »Was macht eigentlich so ’n Schirach, wenn er aus dem Knast ist; wie paßt der sich in den gesellschaftlichen Organismus da drüben?« (»Willst du seine Memoiren kaufen?«) »Nee, aber die Leute an das erinnern, was er ausläßt!« – »Das Autobahn-Anhalter-Problem haben wir ganz fallenlassen; greifen wir das zum Sommer wieder auf?« – »Ich möchte vierzehn Tage nach Akademgorodok.« – »Wir dürfen die Schrittmacher nicht vergessen!«

Und die Planer und Leiter nicht und nicht die Schriftsteller und die Netzwerker und auch nicht die Handwerker und beileibe nicht die Komische Oper und die Arbeiterfestspiele oder Rügen Radio samt Handels- und auch Fischfangflotte und den Volleyball und die Grünfuttersilos in Ferdinandshof und die Messe der Meister von morgen und die Farbigen in USA, Rhodesien und am Kap und die Zahnflankenschleifmaschinen vom 7. Oktober in Weißensee oder die Babelsberger Humanitas-Western, den Kreuzchor, die gesunde Lebensweise und, oh, das neue Menschenbild.

Sie alle wollen nicht vergessen sein, und alle zuständigen Abteilungen wollen gehört sein, und alle Mitarbeiter wollen gelobet sein, und alle Arbeit will geplanet sein, und manche Kollegen haben Grabben im Kopf, Flausen, die müssen raus, und manche Freunde haben Blei an den Füßen, das muß ab, und manche Genossen haben Bedenken, Gott schenke ihnen ein Einsehen, doch der ist knauserig, da müssen Argumente her, und ein neuer Zeichner muß her, verfluchte Sauferei, und der Verlag rückt die Devisen nicht raus für ein Fischaugen-Objektiv, und den Layoutern muß man die Tendenz zu diesen Jugendstil-Schriften austreiben, Scheißpopperei, und dann diese Naturkatastrophen: Sekretärinnen werden weggeheiratet, und der Mann möchte das nun nicht mehr; Schwangerschaftsurlaub, im Archiv einmal, am Fernschreiber einmal und in der Außenpolitik gleich zweimal – was ist los in der Außenpolitik? Die Filmdame erbt ein Haus in Plauen, da sitzt noch eine Oma drin, und nun muß die Filmdame da hin, Wohnortswechsel, Wechsel in der Redaktion, die Filmdame gegen wen? Krenek und Busch gehen vier Wochen auf Kursus, Zwischenschaltung ins Fernstudium, Hunde, wollt ihr ewig lernen?

Der anschlägige Bengel aus Technik II geht zur Armee, und Technik II geht zum Teufel, allein schafft der olle Dornhoff das nie, der immer mit seinem Hans Dominik! Meißner muß zum Kampfgruppenlehrgang, der einzige Indonesienkenner, und hoffentlich passiert nichts in Indonesien, solange Meißner die Kalaschnikow studiert! Sara Weiß ist krank. Der dumme Laborant ist auch krank. Wiesemann ist krank. Die Dings, die mit dem Busen, die ist auch krank. Der Rest hat Urlaub.

Warum bin ich nicht krank? – Warum hab ich keinen Urlaub, warum darf ich nicht auf Kampfgruppenlehrgang oder auf Kursus oder zur Armee? Ich erbe nie ein Haus! Manchmal wünsch ich, ich wäre tot!

Manchmal wünscht sich David Groth, er wäre tot, und immer wünscht er sich, er wäre noch sehr jung, könnte schnüren und umschnallen und ab nach Bolivien zu den Guerillas, fort vom Kommandotisch in Kuba, fort aus dem Chefsessel in der Neuen Berliner Rundschau! Aber sie haben es ihm beigebracht: Hic Bolivia, hic salta! – Hier ist dein Platz, Guerillero, hier wirst du gebraucht.

Und wirst du uns romantisch, holt dich der Teufel! Dein Name ganz oben im Impressum besagt: Du bist der Untermann in der Pyramide der Neuen Berliner Rundschau; begreife: Ohne dich fielen die lustigen Turner in den Sand. Und Vorsicht bei der Übersetzung des Anrufs: Hic salta! Du bist nicht Flieger am Trapez, bist nicht einmal mehr Fänger dort unter der Kuppel; du bist der Mann am Boden, verantwortlich für das ganze Programm, nicht nur für die eine Nummer. Niemand kommt mehr in den Zirkus deinetwegen, aber tröste dich: Das Publikum hätte weniger Lust zu einem Besuch in deinem Hause, sorgtest du nicht für Kunst dort, indem du dort für Ordnung sorgst. Ja, Freund, du bist der Direktor vom Unternehmen, aber bei wem führst du Klage darum? Dich hat niemand überrumpelt oder mit der Pistole in deinen Sessel dirigiert. Der Posten ist weniger auf dich zugekommen als du auf den Posten. Achtzehn Jahre lang bist du auf ihn los marschiert, mit unterschiedlicher Beschleunigung zwar, gelegentlich mit der phantastischsten aller Geschwindigkeiten, mit NBR-Botengeschwindigkeit also, und manchmal nur im Bummelgang des Stundenzeigers, aber du hättest wissen können, wohin die Reise ging. Nein, du hast nicht nach diesem Amt gegiert, und auch die Wette mit dem Botenmeister ist selten mehr als ein kitzelnder sportlicher Spaß gewesen, aber die Entwicklungsgesetze, nicht wahr, die Entwicklungsgesetze des Landes, die hast du gekannt, und so hast du wissen können, als du dem Pfeifton des Leitstrahls gehorsam folgtest: Wenn du so weitermachst, nimmt es noch einmal ein gutes Ende mit dir. Ein bißchen kokett, findest du nicht, dies Ende nun plötzlich zu beseufzen und so zu tun, als wär’s kein Stück von dir.

Und was den Jammer angeht, den dir die angebliche Entrückung vom einfachen Leben abdrückt, die Entsagung von den journalistischen Salti Mortali, den Verzicht auf das glamouröse Reportersolo, die Beschränkung auf Manmüßtemal, die große Cheffrustration, was das angeht, so ist Schärferes dazu zu sagen und im selben Atemzug auch etwas zu jenem famosen Problem, das ihr nur deshalb nicht Entfremdung von der Arbeiterklasse nennt, weil ihr die Prügel fürchtet, die sich rasch zuzieht, wer an der falschen Stelle von Entfremdung spricht.

Dies ist zu sagen: Wir nehmen das Freundlichste an, setzen voraus, es ginge dir, wo es dich zurückverlangt an die vielen Tatorte dieser Welt, zurück in die persönliche Aktion an des Geschehens Ort und Stelle, zurück zum Korrespondentendienst in den Höhlen und auf den Bühnen unserer Zeit, wir denken uns zu deinen Gunsten, es ginge dir da zwar auch und nicht zum geringsten um den Ruhm des findigen Faktenjägers, des Entdeckers von Gemeinheit und Größe, des Spurensuchers auf der Fährte des Verbrechens oder des Fortschritts, es triebe dich schon der Ehrgeiz, Enthüller der großen Vorgänge zu sein, der Mann, der Livingstone fand, der Mann, der dem Oberst Redl die Gloriole stahl, der Mann, der dabei war, als zehn Tage die Welt erschütterten; es sei dir um dies wohl heftig zu tun, vermuten wir, und wir billigen dein Verlangen ausdrücklich, weil wir die weiten Entwürfe lieben und wissen, daß Bescheidenheit uns umbringen kann, aber – aber wir hoffen doch, glauben zu dürfen, und dies ist unsere Freundlichkeit, von der wir eingangs sprachen, wir glauben uns zu der Hoffnung berechtigt, daß dir die journalistische Sache wichtiger ist als der Journalist David Groth, wir erwarten die Ansicht von dir, daß zwar Livingstone gefunden werden muß, aber nicht unbedingt von David Groth-Stanley, daß Oberst Redl entlarvt werden sollte, aber nicht partout von David Groth-Kisch, daß die zehn Tage beschrieben werden müssen, aber nicht um jeden Preis von David Groth-Reed; dies ist unsere Meinung von dir – hätten wir sie nicht gehabt, säßest du nicht auf deinem Posten.

Nun aber sitzt du auf diesem Posten, und da darfst du unter anderem folgendes tun: Du darfst denken: Man müßte mal!, und dann darfst du denken: Wer könnte es?, und dann darfst du umhergehen unter deinem Volke und darfst dir deinen Stanley suchen. Und solltest du einen finden, dann bist du besser als Stanley, der Livingstone fand, denn dann bist du David Groth, der einen neuen Stanley fand. Auch darfst du denken: Jetzt bräuchte man einen Kisch!, und dann darfst du dir einen machen. Suche dir den Jungen mit dem Ansatz, er muß zu finden sein, suche ihn, finde ihn, laß dir Zeit und laß ihm Zeit und hetze ihn. Zwinge ihn durch tausend Bücher, fürs erste, jage ihn über tausend Straßen fürs erste und presse ihm fürs erste tausend mal tausend Zeilen ab über, sagen wir, die Badetricks eines Schornsteinfegers, den Speisezettel im Seebach-Stift, die Vorstandswahl einer Hutmacher-PGH, das Einkaufsproblem, das Wohnungsproblem, das Problem Straßenbahn und das Problem Adlershof. Streite mit ihm, bis ihm nichts anderes bleibt als seine eigene Meinung. Zeige ihm, wieviel andere Meinung möglich ist außer seiner. Bringe ihn so durcheinander, daß er sich Systeme baut. Lehre ihn das Gruseln vorm Schema. Schlag auf ihn ein, wenn er verachtet, was er nicht versteht; streichle ihn, wenn er dir sagt, er versteht dich nicht. Fauche ihn an, wenn er ein zweites Mal Bahre sagt, wo es Trage heißen müßte, und rauche eine Zigarette mit ihm, wenn er das Wort Vervollgenossenschaftlichung stinkdämlich findet. Schicke ihn zum Interview mit dem eitelsten Menschen der Republik. Presse ihn in einen Abendkurs für Spanisch. Sorge, daß er die Bibel liest. Gib ihm auf, das Spezielle in der Logik eines Versicherungsagenten zu skizzieren, Skatbruder eines Autowäschereibesitzers zu werden und etwas Neues zum Internationalen Frauentag zu sagen. Versuche, einen Menschen aus ihm zu machen, der freundlich ist, aber nicht feige; skeptisch, aber nicht pessimistisch; ironisch, aber nicht zynisch; der die Arbeit liebt und seine freie Zeit genießt; seine Freiheit schätzt und ohne Disziplin nicht leben kann; Ignoranz als einen Ansatz zur Barbarei begreift; Dogmen nicht achtet und Prinzipientreue nicht mit Dogmatismus verwechselt; ein Genosse ist den Genossen und ein unversöhnlicher Feind den Feinden der Genossen.

Die Chance besteht, Chefredakteur Groth: Vielleicht bekommen wir so einen neuen Kisch, vielleicht einen neuen John Reed, vielleicht zweie von beiden oder fünfe gar – die Chancen sind an dich gebunden, und wenn du so fürs Träumen bist und für den träumerischen Satz: Man müßte mal!, dann sagen wir: So mach doch, Mensch!

Für den Fall, du hast es noch nicht bemerkt: Hier war schon die Rede von deiner Verbindung zur Arbeiterklasse, immerfort war die Rede davon. Denn was will deine Arbeiterklasse von dir? Daß du ihr beweist, du kannst auch heute noch einen Hammer halten, daß du ihr in der Frühstücksbude persönlich aufs Maul schaust, daß du im Drainagegraben ebenso schmutzig werden kannst wie sie? Will sie dich immer mal wieder im blauen Kittel sehen oder im Fleischerhemd, auf dem Fahrrad zur Frühschicht mit ihr, an der eingefrorenen Kohlenweiche in Klettwitz, geschwärzt unter Tage, fluchend auf hoher See? Will sie, daß du machst, was sie selber besser kann? Oder will sie vielleicht doch, du mögest bei deinem Leisten bleiben, damit du morgen noch besser kannst, was sie schon heute von dir erwartet?

Was erwartet sie von dir, deine Arbeiterklasse? Die Antwort ist einfach: Sie erwartet von dir, gerade nun einmal von dir, eine Zeitung, eine illustrierte Wochenschrift, die Neue Berliner Rundschau.

Die will sie aufschlagen zwischen Feierabend und Fernsehen, und mindestens dreimal pro Nummer will sie Lust verspüren, wenigstens die Lust verspüren, zur Frau ins andere Zimmer hinüberzurufen oder gar hinüberzugehen und zu sagen: »Hast du dies Ding hier gesehen? Mann, ist das ein Ding! Die machen Dinger!« – Ehen sind lang, und manchmal fällt einem nichts mehr zu sagen ein, auch wenn man möchte, und da ist es keine Kleinigkeit, wenn eine Zeitung einem Grund gibt, aufzustehen, nach nebenan zu gehen und zu sagen: »Mann, machen die Dinger!« – Und Gottes Segen dem Bilderblatte, das einem im Bett kurz vor dem letzthin allzu häufigen Sieg der Müdigkeit eingibt, von jenem vorhin gesehenen Korallenriff zu sprechen und: »Weißt du, wenn der FDGB auf Draht wäre, da Urlaub, und nischt wie im Wasser liegen täte ich und dann zu Goldbroiler rösten lassen, und du mit so ’m weißen Bikini, wieso denn nicht, du unterschätzt dich da, doch ich schätze, du unterschätzt dich da, hast du gar nicht nötig, beileibe nicht, Ulla, ick möchte fast sagen: Bei deinem Leibe nicht, Ulla – wie fin’st du den: Bei deinem Leibe nicht? Ich finde es einwandfrei«, und Ulla findet es auch einwandfrei, und sie mag das, wenn er albern ist, und wieso Müdigkeit? Sie mag das.

Deine Arbeiterklasse, Genosse Groth – um auch von ihren anderen Bedürfnissen zu sprechen –, die ist mit dir zufrieden, wenn deine Zeitung ihr hin und wieder einen Pfiff entlockt: »Die Franzosen haben aber ganz hübsch noch Kolonien, wie ich das hier so sehe! – Mit dem Kahn um die Welt, na, Mahlzeit! – So sah der Thyssen aus? Auch gut: Zwanzig Jahre hab ich für die Pfeife gearbeitet, und ich würde ihn nicht kennen, wenn ich ihn auf der Treppe träfe! – Ja, das nenn ich eine Kantine! Schmeiß die Zeitung nicht weg, die schenk ich der BGL, und zwar morgen, und zwar in unserer Kantine! – Tatsächlich, die Erde ist blau! – Mein Fall wär’s ja nicht: eine ganze Stadt auf ewigem Eis, aber wenn du es so siehst, legst du doch die Ohren an! – Guck an, eben denk ich: Was zeigen mir die hier für einen langhaarigen Flaps?, und nun steht da, das ist ein Mathematik-As – kannst also auch nicht immer nach gehn!«

Wenn du wahrhaftig um deine Verbindung zur Arbeiterklasse bangst, David Groth, dann halte dich an deine NBR; mach sie so, daß die Deinen merken, du machst sie für sie. Mach sie so, daß jeder deiner Leser ein bißchen klüger aus deiner Zeitung kommt, als er hineingegangen ist. Zeige ihnen ihre Leistung, aber rede sie nicht immerfort mit »Helden« an. Und immer dran denken: Deine Leser haben den ganzen Tag gearbeitet; nun kommt ihnen Produktion sehr bekannt vor. Sie sind auf das Unbekannte aus und auch auf das lieb Vertraute. Da zeig ihnen zumindest das Verborgene im scheinbar Vertrauten. Reiß ihnen die Welt auf, beteilige sie an deren Rätseln, sprich ihnen immer wieder von ihrem Teil an deren Lösungen, füg einen Buchstaben mehr in ihr Alphabet, führ sie auf Augenweiden, verklapse sie nie, bescheiße sie nie, sei ihr vorgeschobener Posten und ihr Kurier, höre auf ihre Führer und gib die Verbiesterten nicht auf, zeig das lustige Leben und sorg für ein lustiges Leben und tu deinen Teil, daß wir alle am Leben bleiben.

Mach deine Sache, wie sie ihre Sache machen. Mach deine Sache auf deinem Platz, der jetzt, jetzt wenigstens, im Chefzimmer der Neuen Berliner Rundschau ist. Da hast du deine bolivianischen Berge, dein Kuba, dein Kraftwerk Nord, da hast du Barrikade und Baikonur, Vietnams Savanne, Geschützturm der Aurora, Liebknechts Balkon am Preußenschloß, den Tisch vorm Haus der Ministerien, das Reißbrett für Halle-West, die Spitze des Studentenzuges, das Rednerpult im UNO-Plenum, die Partisanenschule in Angola und das Zyklotron von Dubna – da hast du deinen Kampfplatz, Büchsenmacher, da schreibe und leite, plane und lehre, träume und kämpfe du nur.

Ende der Unterweisung, Ende des Zuspruchs; geh an die Arbeit, Genosse Redakteur!

Soviel angestrengter Beredsamkeit kann der Büchsenmacher und Redakteur David Groth einfach nicht mit promptem Widerspruch begegnen, obwohl die Herausforderung zu Promptem hier fast unabweisbar ist: Arbeit! – der Fall ist exemplarisch!

Wäre nicht eben erst mühevolle Belehrung verklungen, müßte man diese Gelegenheit packen und schreien: Arbeit! – was ihr hier Arbeit nennt, verdient die Bezeichnung allenfalls, weil es innerhalb meiner bezahlten Arbeitszeit geschieht – ich darf erinnern: Ich werde hier gleich einen Grabsteinspruch loslassen; das ist meine Arbeit jetzt. Darf ich da um einen Blick auf die Definitionen bitten? Arbeit, allgemein und bürgerlich beschrieben: eine Kraftbetätigung zur Überwindung eines Hindernisses bei der Verfolgung eines Zwecks, oder: Bei der menschlichen Arbeit, die eine körperliche oder geistige Kraftbetätigung sein kann, wird ein die Arbeitszeit überdauerndes Ergebnis bezweckt, oder, in unseren Worten: Arbeit ist im weitesten Sinne die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft als zweckmäßige, bewußte Tätigkeit des Menschen, in der er mit Hilfe von Arbeitsmitteln Naturstoffe verändert und sie seinen Zwecken nutzbar macht. Nur die Umstände hier hindern mich, laut und gehässig Haha! zu schreien; die Umweltbedingungen, Friedhofsruhe, Grabesstille, Totenacker, Gräberfeld; auf jedem zweiten Stein steht hier geschrieben: Ruhe sanft! oder: Ruhe in Frieden! – da muß ich unterdrücken, was eigentlich zu sagen wäre, und nur leise schnauf ich: Arbeit, ha!

Und so gingen David Groth und Jochen Güldenstern fast wortlos über die sandigen Wege zu des Genossen Schäfers neuem Stein, und nur dort, wo ein Dichter aus Friedrichshagen begraben liegt, standen sie einen Augenblick, und David sagte: »Den hab ich ganz gut gekannt und sehr gemocht. Du brauchst Mühe, wenn du liest, was er geschrieben hat, aber wenn du es verstanden hast, magst du die Welt mehr als vorher. Ein Christenmensch und ein großer Geschichtenerzähler, und so ein lustiger. Ein Jammer.«

Viel länger war Davids Spruch für den Genossen Schäfers auch nicht, aber die Witwe drückte ihm die Hand und nickte, und der Sohn sagte: Danke!, und Jochen Güldenstern sagte: Siehste!, und eine Nachbarin der Familie Schäfers starrte nach Davids Worten mit neuem Respekt auf den neuen Grabstein des hingeewigten Rundschau-Pförtners, und David dachte: Ein die Arbeitszeit überdauerndes Ergebnis?, und er schüttelte den Kopf, aber als er auf dem Rückweg wieder am Dichtergrab vorbeikam und als er merkte, daß es ihn wieder ins nörgelnde Selbstmitleid drängte, da ließ er den Anrainer des Genossen Schäfers brummen: Menschenskind, du plemperst was mit deiner schönen Zeit – möchtest du vielleicht tauschen?

Das mochte David aber nicht, und er beendete die Grübelphase und den Jammer auf die Weise, die er Fedor Gabelbach in den vielen Jahren abgesehen hatte: Er stieg mit Güldenstern zu Erich in den Wagen und besprach das Projekt Kraftwerk Nord, und sie einigten sich, daß hier der kleine Taubert mal zeigen konnte, ob noch mehr in ihm steckte als die vielsilbigen Flausen aus der Leipziger Journalisten-Fakultät, und die andere Neue, die Rita Heise mit dem lustigen Hintern, die sollte sich vorbereiten fürs Erdgas-Projekt, und Jochen Güldenstern, das war dann abgemacht, der fuhr zur RGW-Tagung nach Rumänien; das war noch nichts für junge Springer.

Zielsetzung, Zeitraum, Umfang, Dokumentationsaufwand, Geldmittel, technische Mittel, politische Besonderheiten, Kaderbedingungen, Platz im Gesamtprogramm – sie hatten den Katalog im Kopf, geübt gingen sie seine Rubriken durch; sachlich waren sie jetzt und schnell, fast mühelos, so schien es, machten sie einen ersten Entwurf; hier, sah man, war Erfahrung am Werke, und wenn man wollte, konnte man sich auf das Wort einlassen, das allzu oft und allzu beflissen zu Diensten sich drängte, und konnte den Vorgang hier Routine nennen, aber man hätte wohl eher recht gehabt, hätte man da von Arbeit gesprochen.

Und auch das Gespräch mit dem Minister Andermann, das Intrigantengespräch zum Ehewohle der Carola Krell, war bündig und versprach Positives: So ist die Situation – jenes droht – dies wär die Rettung, möglicherweise – also, was sagst du; könntest du helfen?

Der Minister hatte keine Bedenken, war sogar dankbar: Ein Getreidedispatcher, der noch nie auf Schulung war, wo gab es denn so was? Das gab es in seinem Bereich? Kaum zu glauben und nicht länger zu dulden. Das kommt ins Lot; den will ich lehren zu lernen! Der Minister lachte bei der Vorstellung, sein Dispatcher werde sich auf die Schulbank pressen lassen müssen, weil sein Bild in der Zeitung gestanden war, sein Foto in Bunt mit einem Text darunter, verlautend, daß es nunmehr auch den Kollegen Krell, bewährten Praktiker der Schrot-und-Korn-Verwahrung, zur Theorie und in die Wissenschaft dränge.

Der Minister verlor sich für eine kurze Weile in Anregungen, meinte, vielleicht könnte ein gerissener Interviewer den Körnerlenker Krell zu dem öffentlichen Bekenntnis verleiten, nach seiner Überzeugung sei höhere Gelehrsamkeit auch persönlichkeitsbildend, komme nicht nur dem Speise-und-Futtermittel-Funktionär Krell, sondern auch dem Menschen Krell als solchem zugute und den zwischenmenschlichen Beziehungen auch, in die er eingeflochten sei in Betrieb, Gesellschaft und privatem Bereich, zum Beispiel in der Ehe …

Dann nahm sich der Minister aber zusammen; er sei eiliger, als sein Referent heute morgen habe ahnen können, müsse früher zum Chef hinüber, als ursprünglich vorgesehen gewesen, wahrscheinlich seien die Vorschläge von der Obersten Abteilung schon eingegangen, zwei neue Ministerien sollten gebildet werden – »bleibt aber unter uns, ist wohl auch noch nicht spruchreif, unsere Kaderdecke ist immer noch zu kurz, da muß eine Menge geredet und geregelt werden, dank deinem Schöpfer, daß du mit so was nichts zu tun hast, da könntest du ein Geziere erleben, da war das aber bei uns noch anders: Komm mal rüber, Fritze, setz dich hin, Fritze, bist du gesund, Fritze, gut, Fritze, ab Montag machst du hier den Minister!«

Er versprach noch einmal, seinen Teil an der positiven Intrige zu leisten; dann rief er seinen persönlichen Referenten, und David hatte zu sagen verpaßt, was er sehr beiläufig hatte sagen wollen: Ach, sag mal du, wie ist das eigentlich, ich meine: so als Minister?

Da fuhr er eben wieder zurück in die Neue Berliner Rundschau, und Christa sorgte dafür, daß er merkte, wie es war, wenn man dort der Chefredakteur war.