So ein Verlag ist auch nur ein Betrieb. Fünftagewoche, eine kämpferische BGL, schreibgewandte Pförtner, schmackhafte Kantinenkost, der Fahrstuhl so geschwind wie eine Speicherwinde, Hauptbuchhalter, Frauenruheraum, die Vogel hat’s jetzt mit dem Niekisch, die Wandzeitung immer der Zeit auf der Spur, letztere ist schon etwas kalt, ein Brandschutzverantwortlicher, ein Sicherheitsbeauftragter, alle halbe Jahre Kampagne gegen Tauchsieder, bei der FDJ geht’s fröhlich zu, Parteilehrjahr, der Fahrdienstleiter heißt Cassius Clay und ist der Größte, Planziffern, Planrückstände, Planvorsprünge, Plandisziplin, Plandiskussion, Diskussion zum neuesten Plenum und neuerliche Diskussion über den Kollegen Kurz bezüglich seiner Neigung zu einer Methode der Hervorhebung der negativen Seiten der Widersprüche, Prämiendiskussion, Brigade »Völkerfreundschaft«, kolposkopische Untersuchungen, Kampfgruppe, Betriebsfest, Wettbewerb, Versammlung zum Thema »Reizpeitsche oder Naherholungszentrum«, Blutspendeaktion, Volleyballspieler gesucht, Montag früh ist der Betrieb ein überladener Nachen, Freitag um fünf Raketenstartplatz, Dienstag hat Elli ein Kind gekriegt, Umlage, Mittwoch wird der kleine Jobst fünfundsechzig, Umlage, Donnerstag Beisetzung des Kollegen Zeimert, Umlage, und alle haben ihn gern gehabt, fünf Tage Routine und an jedem dritten eine mittlere Sensation: Der Erich ist wieder da und sieht aus wie ’s blühende Leben, der Zippold haben sie im Haus des Kindes das Portemonnaie geklaut, die Laborantin trägt jetzt auch den Kittel mini, Baldaufs haben sich in aller Stille einen Trabant angeschafft, Neuberts Tochter war im Fernsehen, Jonuschkeit hat gesagt, noch einmal so ein Ding, und er ist bei Kaul, fünf Tage Produktion und Klatsch, fünf Tage Fortschritt, und keiner merkt es, fünf Tage, einer wie der andere und keiner wie der andere, fünf Teilstriche Ewigkeit, so ein Verlag ist auch nur ein Betrieb.
So ein Verlag ist ein Betrieb besonderer Art, und der Verlag der Neuen Berliner Rundschau ist noch viel mehr besonders. Sagt David Groth.
Denn für das Produkt dieses Hauses, so sagt David Groth, gibt es potentiell so viele Verbraucher, wie es Menschen auf der Erde hat. Also rund dreieinhalb Milliarden Verbraucher.
Haha, sagen die anderen und haben verschiedene Gründe.
David geht darauf nicht ein. Im Jahre zweitausend, sagt er, werden es sechs Milliarden Verbraucher sein, potentiell.
Er weiß auch nicht, was es zu lachen geben soll, wenn man von der Chefin des Frohen Magazins berichtet, sie habe in der Redaktionssitzung einen verpfuschten Farbdruck vorgezeigt und gefragt: »Was sollen unsere Leser in Australien dazu sagen?«
Recht hat sie, sagt David, und es stört ihn nicht, daß auf der Postliste des Frohen Magazins bislang nur zwei australische Leser stehen. Australien hat achtzehn Millionen Einwohner. Da läßt sich noch was machen.
Die Zielmarke heißt Möglichkeit. Auch Träumen ist Bewegung. Verwegener Plan, gediegene Arbeit, das sind zwei Erbsen aus derselben Schote. Und die Eigenschaft der Neuen Berliner Rundschau, auch nur ein Betrieb zu sein, hebt ihre Eigenschaft nicht auf, gedacht zu sein zur Weltherrschaft. Gedacht von David Groth. Wenn ich nicht bereit bin, Australien zu erobern, sagt er, bringe ich den Mut nicht auf für Glauchau. Niemand lacht über den Schwimmtrainer, der heute Jagd auf Schulanfänger macht und dabei an olympische Startblöcke von neunzehnsechsundsiebzig denkt, sehr verwegen und ganz kühl. Der weiß, sagt David, die einzige Verbindung zwischen hier und dort heißt Arbeit; es ist die kürzeste zwischen diesen beiden Punkten, und er weiß auch: Unendlich lang wird sie ihm werden.
Oder die Schule überhaupt, so eifert David fort, die wäre nichts ohne den Blick auf die Ewigkeit. Die ist auch nur ein Betrieb, Klatsch und Arbeit hier noch sechs Tage lang, im Lehrerzimmer reden sie von Außenbordmotoren und Vitamintabletten. Frau Manthey kommt nicht von der Karriere ihres Schwagers im Westen los, und Herr Stier meint, er bekommt sein Gehalt für die vier Grießköppe in der Klasse, Fortschritt ist eine Zumutung, der Dienst geht wie ein Mühlrad, das Rentenalter ist ein ferner Strand, aloahe – aber im Lehrerzimmer in der Pause sitzt auch Wanzka und späht nach einem neuen Gauß, träumt von ihm und findet ihn, weil er von ihm träumte.
Lest mal dieses Buch von diesem Lehrer, sagt David, und ihr werdet sehen: Die Schule ist für die Ewigkeit. Auch sie hechelt immer wieder dem Tag hinterher, aber zugleich ist sie dem heutigen schon um zehntausend Tage voraus. Ihr Anspruch ist maßlos; laßt uns maßlos sein wie sie. So redet David Groth und wäre komisch, redete er nur so. Aber er hat auch den Mut und den Blick für Glauchau, weil er nach Australien will. Und wenn Kühnheit ohne Gründe nicht geht, so hat er ja Gründe.
Er ist eine maßlose Wette eingegangen mit einem verrückten Botenmeister und hat gewonnen, er hat Troja erobert, Australien war schon einmal vielfach ferner. Und andere Träumer haben sich immer zum Bund mit ihm gefunden, Johanna die Eiserne vorneweg, die wilde Menschenbildnerin, aber auch Fedor Gabelbach, der Mann der wüsten Prophezeiungen, der Arbeitswüterich, der stets von Chaos sprach und immer für Ordnung sorgte und David vorwärts stieß auf seinem Weg zum Spitzenplatz im Impressum der Rundschau.
Den hatte Johanna David mitgegeben, als es galt, Antworten einzuholen auf die erste Umfrage der Neuen Berliner Rundschau: »Und 1946? Was wird?«
Im traurigen Monat November war’s, da gab es große Panik in der Redaktion, denn es ging um die Weihnachtsnummer, und das Schreckenswort kam auf, das noch viele Male erschallen sollte, der Ruf: »Es fehlt noch was!« Und die Umfrage war hier, wie viele weitere Male noch, die Lösung, Erlösung vom journalistischen Übel, das gefaßt wird in den Klageschrei: »Es fehlt noch was!«
Gabelbach meinte ohnehin, der geplante Heftinhalt sei nichts als ein Sammelsurium ohne den Hauch eines Leitgedankens.
Johanna antwortete, was von ihr bei solcher Gelegenheit zu erwarten war: »Unser Leitgedanke ist der Mensch!«, aber daß dem Heft etwas fehle, fand auch sie.
Lediglich Klotz, der neben der Mode und den Winken für die Hausfrau auch die Literatur verwaltete, war mit dem Programm der Weihnachtsnummer zufrieden. »Wieso, wieso, wo soll denn hier was fehlen? Ein einziger Schlager die Nummer! Der Bildbeitrag ›Endlich wieder Kochtöpfe!‹ allein trägt das ganze Heft. Aber wir legen ja noch was dazu! Frau Charlotte gibt Auskunft auf die Frage: ›Was machen wir aus Vaters Uniform?‹ Dann das Rezept ›Haltbare Marmelade aus grünen Tomaten‹. Dann der praktische Wink: ›Holzstiel + Flaschenkappe = Fischschuppenentferner‹, dieses wieder mit Bild. Dann eine instruktive Angelegenheit über ein neues Heilmittel, das Penicillin heißt, zündender Titel darüber: ›Man wird sich diesen Namen merken müssen!‹, und dazu, Herren, Damen, eine Überfülle an Kultur: der Roman ›Wiedersehn im Nebel‹ sowieso, der reicht noch bis zum nächsten Christkind, dazwischen ein Gedicht von Werfel und eines von Becher und als besonderer künstlerischer Leckerbissen ein Bericht aus dem Theater am Schiffbauerdamm: Rudolf Platte in ›Bezauberndes Fräulein‹, da fehlt nichts, Damen, Herren, das ist schon Überfülle.«
»Überfülle ist ein Schönwort für knäueliges Kuddelmuddel«, sagte Fedor Gabelbach, »und wenn ich einmal eine kleine Vorhersage wagen darf, kündige ich Ihnen folgende Leserbriefe an: ›Wo gibt’s denn die grünen Tomaten? … bitte ich Sie, mir mitzuteilen, wie ich in Besitz eines Nagels gelange, damit ich Ihre Flaschenkappe an Ihren Holzstiel kriege, vom Fische ganz zu schweigen! … Kochtopp gut, wat is mit Fleisch? … Sie haben Sorgen! Was machen wir aus Vaters Uniform? Haha!!! Die wird Vater wohl tragen müssen, wenn er nicht nackt rumlaufen will! Aber erst, werter Herr Redakteur, beantworten Sie mir mal was anderes: Wo ist Vater?‹«
Doch Klotz winkte das beiseite; Leserbriefe waren nicht sein Schalter, die gehörten zu Lilo, und Lilo würde sich schon zu helfen wissen. Sie war unschuldig und furchtlos, und ihre Überzeugung war eine Variante des Glaubens an den Horror vacui: So wie die Natur keinen leeren Raum dulde, so dulde sie auch keine Frage, auf die eine Antwort nicht zu finden wäre, freilich müsse man suchen. Die Leserbriefe waren ihr Kummer und ihr Glück, denn sie merkte schon, daß nicht jede Erkundigung ein Ausdruck reiner Wißbegierde war, aber auch Glück war ihr Teil in der Abteilung Lesermeinung. Denn um die rechte Antwort geben zu können, war sie immerfort unterwegs zu Fachleuten, die waren ja so prägend. Und Lilo war so prägbar, daß man von ihrem Gesicht, ihrer Sprechweise und ihrer Körperhaltung auf ihren jeweiligen Umgang schließen konnte. War sie mit einer Leserfrage zum Verbleib der Palucca-Schule befaßt, durfte man sicher sein, sie lief, als habe sie eine Haselnuß im Hintern, und ihre Augen waren zwei Tropfen Schwanensee, und um auf einen fast läppischen Lesereinwurf in Sachen Gerhart Hauptmann treffend antworten zu können, trieb sie so heftigen geistigen Verkehr mit mehreren Germanisten, daß sie für Tage Goethen schrecklich ähnlich sah.
Johanna Müntzer hielt große Stücke auf Lilo und deren Amt, weil sie in Lilos fast süchtiger Lernbegier eine wesentliche Voraussetzung des neuen Menschenbildes erkannte und weil Leserbriefe einer gelegentlichen Äußerung Lenins zufolge günstigste Gelegenheit zur Erforschung von Volkesmeinung boten.
Deshalb trat Johanna der Unke Gabelbach sofort entgegen und sprach: »Wer sich vor den Fragen des Volkes fürchtet, muß vor den Fragen Gottes zittern!«
Sie liebte es, Gabelbach aus dieser Ecke zu kommen, aber der ließ sich selbst von ihr nicht in eine Religionsdebatte locken.
»Zittern«, sagte er, »sollten wir lediglich vor jenem Moment, da auch unsere Leser bemerken, was wir bereits ahnen: daß noch etwas fehlt. Wir könnten uns zwar behelfen wie jener Korrespondent Franz Hermann Ortgies, der seinem friesischen Publikum am siebzehnten siebten siebzehnhundertsiebzehn – das Datum ist nicht erfunden – aus Berlin mitteilte, es habe die ›Sterilität der Nouvellen verursacht, daß bey voriger Ordinairen nichts berichten können‹, aber nun weiß ich weder, ob das unserem heutigen Publikum genügen wird, noch, ob es sich mit unserer politischen Verantwortung verträgt. Da diese aber, wenn ich die im allgemeinen undurchdringlichen Verhältnisse in unserem Hause wenigstens da annähernd durchschaue, vornehmlich Sache von Herrn Meyer ist, sollte der sich wohl dazu äußern.«
Das war ein wenig viel verlangt, und Fedor Gabelbach wußte das auch, aber der Aufgabenbereich von Heinrich Meyer, Kutschen-Meyer genannt, war in der Tat so ungenau umrissen, daß Kutschen-Meyer geradezu ein Abonnement auf Gabelbachs Sticheleien hatte.
Kutschen-Meyer stand im Impressum der Neuen Berliner Rundschau, und zwar stand da: »Heinrich Meyer, verantwortl. Redakteur«. Außer seinem Platz im Impressum und dem am Redaktionstisch hatte Meyer keinen in der Rundschau. Meyer war eine Art historischen Irrtums. Er war der Sitzredakteur, der Strohredakteur des Blattes, der Mann mit dem griffbereiten Bündel, den man in vergangenen Zeiten ins Gefängnis delegierte, wenn die Justiz nach Sühne eines Preßvergehens schrie. Aber weniger solcher Sorge wegen hatte man Kutschen-Meyer jetzt in der Rundschau installiert als vielmehr aus dem Bedenken, die Leser könnten ein Blatt nicht ernst nehmen, dem Johanna Müntzer, eine Frau also, vorstünde. Dazu ist die Zeit noch nicht reif, hatte es geheißen, und Johanna hatte sich beugen müssen; es hatten ihr die Beweise nichts geholfen, mit denen sie belegt, wie reif die Frauen gerade in dieser Zeit geworden waren und gut für jeden Posten; ein Mann mußte her für das Impressum und die Verantwortung nach außen hin, ein treuer, gestählter, harter Mann.
Kutschen-Meyer war treu, hart und gestählt, aber den wahren Grund für seine Berufung hätte man ihm nicht nennen dürfen. Daß es galt, die Obrigkeit und deren juristische Handlanger zu bescheißen, leuchtete ihm ein, weil es ihm sein Leben lang eingeleuchtet hatte, aber wenn ihm gesagt worden wäre, er bekomme seine Funktion eines angenommenen Bewußtseinsrückstandes der Bevölkerung wegen, da hätte er nicht mitgemacht.
Denn das hätte Zurückweichen bedeutet, und das lag ihm nicht. Er war Bierkutscher, war noch sechsspännig gefahren für Schultheiß und hatte später einen Henschel-Laster gelenkt für die Kindl-Brauerei: »Det mußte immer rollen, sonst wurde nischt!«
Und er war Schwergewichtsringer im Arbeiter-Sportverein gewesen, zweimaliger Berliner Meister: »Det mußte immer krachen, sonst wurde nischt!«
Und er hatte der Partei als Fahrer und Leibesschützer gedient. »Am schlimmsten wart mit Karl. Der war ja nicht groß, und ick mußtn uffn Sandkasten stemmen, als er reden wollte. Und wie er in Fahrt kam, hab ick ihn anne Hosenbeene jezogen, er soll sich beeilen mit seine Schlußfolgerungen, weil die Blauen kommen. Denn det mußte doch immer flutschen, sonst wurde nischt!«
Kutschen-Meyer saß stets am Redaktionstisch und folgte den Debatten der fortschrittlichen Intelligenzler mit Wohlwollen, aber ohne tiefere Teilnahme; er horchte vielmehr auf den schweren Tritt der Blauen, und es irritierte seine Wachsamkeit nicht, daß er mit dem neuen Polizeipräsidenten im gleichen Lager die Furcht vor den Schwarzen geteilt und den Widerstand gegen sie verdoppelt hatte.
Auch Gabelbachs Frotzelei störte ihn nicht; der Bildfritze war ein Intelligenzler, und Kutschen-Meyers Gleichmut war schon von ganz anderen Intelligenzlern auf die Probe gestellt worden. »Der Wladimir, det war wat Wildes! Dem fielen die Gedichte noch mitten auf de Straße ein, und denn hatter losjeorjelt auf russisch und hat die Bourgeoisie erschrocken, weil es doch in der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus war. Nee, an den Majakowskij kommt ihr alle nich ran mit eure schmalen Witze!«
Aber David störte Gabelbachs Stichelei, und nicht nur, weil er selbst schon einige Male Opfer des Fotografen gewesen war; er war für Kutschen-Meyer, denn der war, was er gerne gewesen wäre: kompromißlos und treu und mit einem Ziel versehen von lange her.
Deshalb sagte David, und hatte zwar Furcht bei seinen Worten, sprach sie aber doch: »Herr Gabelbach hat nun auch noch festgestellt, daß etwas fehlt, und dann hat er seinen Spaß mit der politischen Verantwortung und Kollegen Meyer gemacht, aber nun möchte ich Sie doch fragen, Herr Gabelbach, wenn jetzt Sie die politische Verantwortung hätten, was würden Sie dann tun, damit nichts mehr fehlt, das möchte ich doch mal wissen.«
»Wissen möchten Sie was? Das ist ja schön, daß Sie was wissen möchten, Jüngling«, sagte der Bildchef, »da scheinen Sie immerhin eine Ahnung zu haben von dem, was Ihnen fehlt. Und bei der Gelegenheit, Frau Müntzer, wollen Sie mir gütigst Klarheit verschaffen über die Position, auf der ich diesen Zwerg zu denken habe, wenn ich mich bemühe, eine wenigstens gedachte Ordnung in diesen redaktionellen Betrieb zu bringen?«
»Der ist mein Assistent«, sagte Johanna Müntzer, »und Sie werden gleich sehen, wie das zu verstehen ist. Wenn ich etwa nicht weiter weiß, nur weiß, was jeder hier weiß, Lilo, Kollege Klotz, Sie, Kollege Gabelbach, und der verantwortliche Redakteur, Genosse Meyer, dann sage ich zu meinem Assistenten: David, etwas fehlt, was schlägst du vor?, und dann denkt mein Assistent scharf nach, dazu ist er da, und er macht einen Vorschlag. Wir wollen es gleich einmal zeigen, David, damit Kollege Gabelbach ein Bild von dir und deiner Tätigkeit bekommt.«
Das ist gemein von dir, Frau Penthesilea, das ist aber saugemein von dir, dachte David, das zersägt mich! Ich bin doch neu hier, Frau! Und der Gabelbach kann mich nicht leiden, Chefin, und der Genosse Meyer kann mir nicht helfen, und Klotz und Lilo geht das nichts an, die haben ihres schon abgeliefert, ich bin hier ja allein, Frau Müntzer, was fragen Sie nun mich? Die hat mir versprochen, ich soll bei ihr lernen, und auch wenn es wie eine Drohung geklungen hat, war es ein Versprechen. Und nun schubst sie mich in dieses Loch. Wie soll ich denn da rauskommen, du Ungeheuer mit deinen blauen Strümpfen? Das ist, das ist Ausbeutung, ist das, genau wie Meister Treder macht die das und wie der General: Nu mal los, Daffi, nu mach mal was, und wie du’s machst, will ich gar nicht wissen, aber mach! Immer Daffi, immer David! Ich hab hier Bote werden wollen und doch nicht Assistent! Ich weiß ja nicht mal genau, was das ist: Assistent.
»Ja«, sagte David, und Penthesilea strahlte ihn an, als habe er etwas sehr Menschliches gesagt.
»Ja«, sagte er, »wenn alle meinen, etwas fehlt, dann muß man erst einmal herausfinden, was. Man könnte reihum fragen: Was fehlt?, aber es hätte kaum Sinn, denn niemand hat gesagt, das und das fehlt, jeder, außer Herrn Klotz, hat gesagt: Etwas, etwas fehlt. Wenn man das so sagen kann: Es fehlt uns ein Wissen über das, was uns fehlt.«
»Man kann es nicht nur so sagen«, rief Johanna Müntzer, »man muß es so sagen. Du hast einen Grundzug unserer Zeit formuliert. Vielen Menschen geht es heute so: Es fehlt ihnen ein Wissen von dem, was ihnen fehlt. Weiter so, David!«
Ja, du trojanisches Mordsweib, dachte David, weiter so ist nun sehr schön, das ist genau die Meister-Treder-Art: Wenn aber nu der Schickedanz von Borsig partout eine Silberbüchse haben will, wie Winnetoun seine, und wir haben im Keller noch das Ballerding von Dreyse und eine kleine Rolle Silberdraht haben wir auch noch, was denn da wohl weiter, Daffi? Der Meister Treder war genauso ein Ausbeuter wie Sie, Frau Müntzer, bloß ohne blaue Strümpfe, und der Gabelbach grinst schon wieder.
»Deshalb«, sagte David, »deshalb hätte es keinen Sinn, hier im Kreis herumzufragen: Herrn Klotz fehlt nichts, Fräulein Lilo müßte erst einen Fachmann fragen, was ihr fehlt, Genosse Meyer ist nicht verpflichtet, so was zu wissen, Herrn Gabelbach ist es sowieso zu unübersichtlich, und die Chefin ist die Chefin. Dann bliebe noch ich, aber ich bin neu, und wenn ich gefragt würde, was fehlt, möchte ich sagen: alles, aber das ist Quatsch, weil alles gar nicht reingeht in so ein Heft. Außerdem wird die Zeitung nicht für mich gemacht. Vielleicht könnte man die mal fragen, für die die Zeitung gemacht wird?«
»Ausgezeichnet«, sagte der Redakteur Klotz, denn er wußte seine Tätigkeit im Einklang mit den Leserwünschen und war sicher: Eine solche Erkundung würde nur bestätigen, was seine Meinung von Anbeginn gewesen war: Es fehlte nichts, höchstens mehr von dem, was aus seinen Ressorts in die Rundschau kam.
»Ausgezeichnet, sagen Sie?« warf Gabelbach ein. »Ausgerechnet, kann ich da nur sagen! Die Zeitung, die Sie nach den Wünschen der Leser herstellen, wird ein Lunapark ohne Sinn und Verstand, ein Tivoli aus wüstem Tand, Disneyland für Hirngeschädigte, ein Prater für Wiener wird das, Gips und Sägespäne auf Papier, das haben die Amerikaner schon lange, und nun sehen Sie sich diese Amerikaner an!«
»Nein«, sagte Johanna Müntzer, »wir sehen uns diese Amerikaner nicht an, jetzt nicht, denn mein Assistent hat seinen Gedanken noch nicht zu Ende entwickelt. Entwickle deinen Gedanken zu Ende, David!«
Kannst du denn nicht Ruhe geben, Mörderin, dachte David, das hätte sich jetzt so schön aufgelöst, Gabelbach hätte über Amerika erzählt, der war in Amerika, Kutschen-Meyer hätte ihm die Negerfrage gestellt, Fräulein Lilo hätte von ihrem prägenden Gespräch mit Afrikaforscher Schomburgk berichtet und dabei gesprochen, als hätte sie einen Ring durch die Nase, alle hätten sie zu tun gehabt und mich vergessen, aber nein: Entwickle deinen Gedanken zu Ende, David! – Denk dir mal was aus, Daffi, wat wir mit die Armbrust machen! – Was ist denn bloß mit mir, daß ihr das mit mir machen könnt? Und der Gabelbach reibt sich die Hände!
»Weil«, sagte David, »weil es aber vielleicht wirklich noch zu früh ist, die Leute zu fragen, was ihnen in der Zeitung fehlt, müßten wir sie mal fragen, was ihnen überhaupt fehlt, so allgemein, und weil man keinen Menschen fragen soll, was ihm fehlt, weil er sonst ins Jammern kommt, sollten wir lieber fragen, was sie sich wünschen, und weil jetzt bald ein neues Jahr kommt, wäre das auch ganz unauffällig. Wenn wir die Wünsche von den Leuten aufschreiben, kriegen wir was in die Zeitung, und weil es Wünsche sind, ist es irgendwie etwas mit der Zukunft, und ich glaube, ohne die kommt man nicht mehr aus.«
»Klar«, sagte Kutschen-Meyer, »vorwärts mußte donnern, sonst wird nischt!«
Und obwohl Klotz meinte, Leserumfragen seien der älteste Hut, und Lilo behauptete, die Briefe an ihre Adresse gäben genügend Auskunft über die Wünsche der Leser, und Gabelbach einen Haufen Unflat statt vernünftiger Antworten auf die Neue Berliner Rundschau zukommen sah, hatte Johanna Müntzer schon entschieden: »David hat das Wort gesprochen, an dem wir uns aus dem Sumpf ziehen können, in dem das Land und seine Menschen jetzt hier stecken, das Wort Zukunft. Die Zukunft aber beginnt mit Fragen, allgemein und konkret. Konkret beginnt deine Zukunft in der Neuen Berliner Rundschau, hör zu, David, ich spreche mit und von dir, indem du die Fragen stellst. Du machst die Umfrage. Die Sitzung ist geschlossen.«
»Geschlossen oder nicht«, sagte Fedor Gabelbach, »ich schlage vor, ich begleite diesen Gnom und mache ein paar Bilder.«
Er trug David auf, in genau zwei Stunden auf dem Verlagshof zu sein; bis dahin seien noch einige organisatorische Maßnahmen zu treffen. David brauchte einen Großteil der Zeit, um dem Buchhalter, der auch das Redaktionsmaterial verwaltete, zwei neue Bleistifte und einen Notizblock abzuschwatzen, aß seinen Schlag Eifo-Suppe, die aus geschroteter Gerste und geschrotetem Kürbis bestand, und ging auf den Hof. Gabelbach erschien pünktlich, die Rollei umgehängt, an jeder Hand ein Fahrrad führend und auf Brust und Rücken je ein weißes Tuch geknotet, auf dem in deutschen und russischen Buchstaben »Presse« geschrieben stand.
Er versah auch David mit solchen Zeichen, hieß ihn eines der Räder besteigen und radelte los. Erst auf der Leipziger Straße begann er zu sprechen, aber als sich David an seine Seite setzen wollte, winkte er ihn energisch zurück nach hinten. »Das ist gegen die Vorschrift. Reporter müssen sich strikt an die Vorschriften halten, wo dies ihre Arbeit nicht beeinträchtigt. Haben Sie schon einen Plan?«
»Was für einen Plan? Wir sollen fragen, was sich die Leute für das nächste Jahr wünschen; wozu da noch einen Plan?«
»Wie Sie meinen«, sagte Gabelbach und gab sich dabei nicht die geringste Mühe, den Kopf zu wenden oder lauter als gewöhnlich zu sprechen.
»Aber eine Frage habe ich«, rief David, »wozu haben wir die Tücher um? Ich finde, das sieht ein bißchen eigenartig aus.«
»Es sähe noch eigenartiger aus, wenn wir ohne die Räder zurückkämen«, sprach Gabelbach in die Fahrtrichtung, »die Räder sind geliehen, Herr. – Sie haben also keinen Plan?«
»Nein, ich dachte mir, wir fangen irgendwo an und fragen den erstbesten.«
»Wie Sie meinen«, sagte Gabelbach, »aber Sie fragen, ich bin lediglich der Fotograf, und da ist schon der erstbeste.« Er zeigte mit dem rechten Arm seine Halteabsicht an, hielt, stellte etwas umständlich sein Fahrrad gegen die Bordsteinkante, öffnete seine Rolleitasche und ging auf einen älteren Mann zu, der verloren auf dem leeren Dönhoffplatz auf einem verrosteten Kradbeiwagen saß.
David blieb nichts anderes, als hier und mit diesem Mann seine Umfrage zu beginnen.
»Guten Tag«, sagte er, »wir sind …«
»Seh ich ja«, sagte der Mann und zeigte auf Davids Pressetuch, »was möchten Sie wissen?«
»Ja, also, wir machen eine Umfrage …«
»Glaub ich ja«, sagte der Mann und zeigte auf Davids Notizbuch, »was möchten Sie wissen?«
»Was Sie sich vom neuen Jahr erhoffen; ich meine, was Sie sich da wünschen.«
»Erhoffen nichts, wünschen schon«, sagte der Mann.
»Und was wäre das, das, was Sie sich wünschen?«
Der Mann sah über die Trümmerhalden hinüber zum Roten Rathaus und sagte: »Sie können das niederschreiben: Ich wünsche mir die Wiedereinführung der Mensendieck-Gymnastik, Mensendieck mit i, e, c, k am Ende, nach der Begründerin, Bess Mensendieck, New York. Die einzige Turnmethode, die bei der Gestaltung der Körper- und Bewegungsformung den anatomisch-physiologischen Gesetzen des Frauenkörpers gerecht wird. Die einzige Art Gymnastik, die den Einfluß des Männerturnens bewußt ausscheidet. Die einzige Muskelübung, die in gesunder Verbindung mit dem Alltagsleben eine gründliche gesundheitliche und schönheitliche Körperdurchbildung ermöglicht.«
Er erhob sich, wackelte auf einem Bein herum und erklärte, während er die Arme über der Brust verschränkt und den Blick fest auf das Rote Rathaus gerichtet hielt: »Eine Musterübung aus der Hamburger Schule für reine Mensendieck-Gymnastik: Rhythmisches Durchpendeln des linken Winkelbeins mit Heben und Senken des Standfußes; Ausgleich dieser Bewegung im Kniegelenk; Oberkörper bleibt unbewegt.« Sein Oberkörper blieb zwar mitnichten unbewegt, dafür aber seine Miene, nur ein wenig Verachtung saß in seinen Augen, als er wieder auf dem Beiwagen hockte und leicht schnaufend weitersprach: »Alle anderen Methoden sind widernatürlich, bei aller Apologie; Schule Hellerau-Laxenburg, Elli-Björksten-Schule, Dora Menzler, Hedwig Hagemann, Rhythmische Schulgemeinde Hilda Senff, Düsseldorf, das sind alles nur knochenbrecherische Abirrungen, bei aller Apologie; es muß wieder gemensendieckt werden.« Und dann saß er stumm da und sah zum Roten Rathaus hinüber, als horsteten dort die Apologeten der Pseudogymnastik, und David fragte schüchtern: »Das wäre alles an Wunsch fürs neue Jahr?«
»Alles«, sagte der Mann, und David ging verwirrt zu seinem Rad zurück. »Nun«, sagte Gabelbach, der, wie David jetzt auffiel, nach der Mensendieck-Methode radzufahren schien, mit unbewegtem Oberkörper und starr nach vorn gerichtetem Blick, »was sagt Ihr Volk über die Zukunft? Hätten Sie etwas gegen einen kleinen Hinweis?«
»Nein«, rief David, »ich hätte überhaupt nichts gegen einen kleinen Hinweis, Herr Gabelbach, ich hätte auch nichts gegen einen großen. Ich bin ja noch neu hier.«
»Dann wollen wir einmal etwas Ordnung in die Sache bringen«, begann der Fotograf, während sie über den Molkenmarkt rollten. »Sie wollen eine Umfrage machen, da brauchen Sie einen Plan. Wenn Sie sich den erstbesten greifen, geraten Sie unweigerlich an solche Mensendieck-Menschen. Das hätten Sie sich übrigens selber sagen können: Wer bei dem Wetter allein auf so einem öden Platz sitzt und auf so ein ödes Bauwerk starrt, ist fast immer irgendeine Art Sektierer. Sie machen eine Umfrage unterm Volk, da stören Sektierer. Ein zweiter Vorwurf: Wenn Sie nun schon auf so einen treffen, dann müssen Sie quetschen und wringen, bis alles aus ihm raus ist. Brauchen Sie es nicht heute, so können Sie es morgen gebrauchen. Morgen sollen Sie vielleicht Sonderlinge sammeln, wie schön paßte Ihnen da der Mensendieckianer! Erst mal sammeln, ordnen können Sie später. Das beiseite, zurück zur Umfrage: Sie können nicht alle Welt fragen, brauchen Sie auch nicht, wenn Sie Allerweltsleute haben, Repräsentanten, Sprecher für viele. Also lautet der Plan: Menschen greifen, von denen anzunehmen ist, daß sie viel hören und sehen und danach ihre Meinung bilden, die dann meistens die Meinung von vielen ist. Und trotzdem schön mischen: alt, jung, männlich, weiblich, arm und reich und so weiter. Ist das klar?«
»Das ist klar, Herr Gabelbach«, sagte David.
»Wen fragen Sie da als nächsten?«
David sah sich angestrengt um, sah zwei Straßenbahnerinnen beim Plausch in der Jüdenstraße und rief: »Vielleicht eine Straßenbahnerin?«
»Bestimmt sogar, sehr gut«, sagte Herr Gabelbach und stieg vom Rad. Eine der beiden Frauen las kurzsichtig Davids Transparent und entfernte sich. »Von mir kein Wort«, sagte sie dabei, »ick will nich inne Praffda.«
Die andere blieb stehen und fragte Gabelbach: »Krieg ich ein Bild von ab?«
Der wies auf David. »Da müssen Sie sich gut mit meinem Kollegen stellen; der ist hier der Bestimmer.«
»So ’n Jungscher?« sagte sie, aber dann sah sie David sehr freundlich an. »Ich hoffe, ich werde nicht immer bei der Straßenbahn bleiben. Eigentlich bin ich Zuschneiderin, Damenoberbekleidung; einmal wird es das wieder geben, und dann ist eine Erinnerung schön.«
Schlesien, dachte David und: Hier ist schon was mit Zukunft, und er fragte: »Ist das Ihr Wunsch fürs nächste Jahr? Wir wollen das nämlich rauskriegen für unsere Zeitung. Die Wünsche so.«
»Die Wünsche so? Dazu braucht ihr doch nicht lange zu fragen! Ich kann euch die Wünsche an den Fingern herzählen: Daß der Mann nach Hause kommt, heil und gesund, und wenn nicht heil und gesund, wenigstens kommen soll er. Oder wenigstens erst mal schreiben, damit man weiß. Wer sich die Strafe ausgedacht hat: daß die Frau nicht weiß, ob es den Mann noch gibt und wo und wie, der hat sich eine richtige Strafe ausgedacht. Manchmal denkt man sogar darüber nach, ob man sie verdient hat. Aber ihr wollt Wünsche hören. Paar Briketts hätte man gern im Keller und wenigstens ein Pfund weiße Bohnen. Ich hab zwei Kinder, die jetzt eigentlich wachsen müßten. Tun sie aber nicht. Wenn das so bleibt, laufen hier in zwanzig Jahren lauter Zwerge rum. Gott, in zwanzig Jahren, wer weiß? Sie, das ist wichtig: Die Menschen müssen besser werden! Manchmal denk ich: Wo kommt das her? So viel Gemeinheit. Ich fahre sonst die lange Strecke, ich hab hier heute nur Aushilfe, sonst fahr ich die lange. Von Johannisthal bis Lichterfelde. Einmal hin und zurück bist du achtzig Kilometer unterwegs gewesen, und alles kaputt, die Stadt und die Menschen. Und nun weiß sich keiner anders zu helfen als mit Schimpfen. Sie, wenn mal einer freundlich zu Ihnen ist auf der ganzen langen Strecke, dann denken Sie, es ist Weihnachten. Das kommt nun auch noch bald. Wenn ich zu sagen hätte, würde ich sagen, diesmal kein Weihnachten. So ohne Freundlichkeit, was soll das? Als noch Krieg war, hab ich oft gedacht, wenn der nur vorbei wäre, aber er ist wohl zu spät vorbei gewesen; nun machen wir weiter mit Kratzen und Beißen. Die Kinder, wissen Sie, wenn die nicht wachsen, das ist schon schlimm, aber wenn sie so die Erwachsenen hören und denken, der Mensch muß so sein, was werden das für Menschen, die Kinder? Das können Sie wohl alles gar nicht brauchen für Ihre Zeitung, dann schreiben Sie mal unter mein Bild: Ich wünsche mir, daß mein Mann bald kommt und daß die Leute in der Bahn wenigstens die Rucksäcke abnehmen.«
»Ja«, sagte David, »das schreiben wir, und dann brauche ich Ihre Adresse für das Bild. Und vielen Dank!«
Viel mehr erfuhren sie kaum und Besseres nicht. Es war eben der November nach dem Krieg, und die Leute hatten jetzt die Zeit für ihren Schmerz, die ihnen der Krieg nicht gelassen hatte. Oder die sie sich nicht genommen hatten, dachte David.
Die meisten waren auf eine mürrische Weise gesprächig und selten nachdenklich. Sie beklagten die Gegenwart, aber wo die angefangen hatte, schienen sie nicht zu wissen. Mit der Wunschfreiheit taten sie sich schwer wie törichte Märchenhelden. Zwar, das Verlangen, den Mann wiederzubekommen oder den Sohn, das war verständlich, aber was danach kam, waren so etwas wie Wünsche von der Hand in den Mund, und Politisches geriet ihnen allen gerade bis zum Wunsch: Nie wieder Krieg.
»Ich höre hier nicht viel von dem Wort Zukunft, an dem wir uns, mit der verehrten Frau Herausgeberin zu reden, aus dem Sumpf ziehen könnten«, sagte Gabelbach, »die Zukunft von denen reicht bis morgen, aber wenn ich denke, Sie fragten mich – ich wüßte auch nicht viel mehr. Genau besehen war der Mensendieck-Gymnastiker der einzige Idealist weit und breit, und der paßt nicht in die Umfrage. Darf es noch ein kleiner Hinweis sein?«
»Aber ja, Herr Gabelbach, ich freue mich, wenn Sie mir was sagen!«
»Erstaunlich, aber bitte: Sie werden das Zeug aufschreiben müssen, und, falls Sie das noch nicht bei Frau Müntzer bemerkt haben, irgendwo muß ein Ansatz zum guten Menschenbild drinstecken, sonst können Sie den Stecken nehmen. Ich würde die Sache auf die Straßenbahnerin stellen; haben Sie behalten, wie die von Freundlichkeit gesprochen hat?«
»Ja«, sagte David, »aber vor dem Schreiben graut mir; ich hab noch nie etwas anderes als Werkstattwochenberichte und Briefe geschrieben.«
»Was meinen Sie, warum ich Fotograf geworden bin?« sagte Gabelbach und nahm seine Kamera zur Hand. »Da kommt ein Polizist, den könnten wir noch mitnehmen, und dann reicht es.«
»Guten Tag, Herr Wachtmeister«, sagte David, »ich hätte eine Frage!«
»Beruflich?« sagte der Polizist.
»Ja.«
»Name?«
»David Groth.«
»Name der Zeitung?«
»Neue Berliner Rundschau.«
»Frage?«
»Wie? Ach so, die Frage. Die Frage lautet: Welche persönlichen Wünsche haben Sie an das kommende Jahr?«
Der Polizist schien nach seinem Notizbuch greifen zu wollen, besann sich dann aber und sagte: »Das wäre neunzehnhundertsechsundvierzig? Also für das Jahr neunzehnhundertsechsundvierzig habe ich folgende persönlichen Wünsche: Erstens möchte ich nicht mehr Polizist sein, weil ich nämlich Maurer bin und Polizist nur bin, weil ich sonst hätte Bürgermeister werden müssen, weil ich in Esterwege war, und dann möchte ich, daß die Berliner Bevölkerung zur Verkehrsdisziplin zurückfindet, weil es so nicht mehr weitergeht. Dieses sind meine Wünsche für das Jahr neunzehnhundertsechsundvierzig.«
David sah auf den Verkehr am Alexanderplatz: ein Opel Blitz mit Holzgasgenerator, zwei Ziehwagen und ein Dutzend Radfahrer, das war alles, und vorher war es auch nicht viel mehr gewesen.
»Na und?« sagte der Wachtmeister. »Meinen Sie, das bleibt so? Sie müssen mal ein bißchen vorausdenken. Wir haben nämlich jetzt den Frieden! Jetzt kommt wieder Arbeit her, und da kommen auch wieder Autos her und Motorräder, und jeder Mensch wird ein Fahrrad haben. Und mehr Kinder kommen auch wieder auf die Straße. Und die haben auch mal wieder Bälle. Und die Leute schaffen sich wieder Hunde an. Und wenn sie erst mal satt sind, gehen sie wieder spazieren. Und die Scheißstraßenbahn, sechs Linien hier rüber, und dann kaufen die Leute ein und können nicht über die Pakete rübergucken. Und die Besoffenen kriegen wir auch zurück. Das ist der Frieden, Kollege, und ich bin sehr für ihn, aber ich sehe da Probleme, und wenn wir uns auf die heute nicht einrichten, fressen sie uns morgen auf. Ich bin mit einem in Esterwege gewesen, der war da einer von den Besten. Jeden Morgen hat er gesagt: Nun wollen wir mal wieder sehen, wer wen? Bringe ich den Tag rum, oder bringt mich der Tag um? Diesen Wettkampf hat er durchgehalten; den hat auch nicht der aasigste Tag geschafft. Aber jetzt? Jetzt kann er nur noch im Augenblick denken. Ich weiß nicht, ob wir im Kopf so eine Extraecke für Erwartungen und Pläne oder Hoffnungen haben, aber etwas Ähnliches wird es wohl sein, und im Kopf von dem Mann, von dem ich spreche, ist diese Ecke zugeschüttet. Bei dem ist der Zukunftsfühler kaputt wie bei anderen Leuten das Gehör. Das ist furchtbar. Und was sieht man daraus? Daß man sich nicht bloß auf den Augenblick einrichten darf, meine ich. Dann wird man mit dem vielleicht fertig, aber mit dem nächsten schon nicht mehr. Deshalb predige ich: auch jetzt Verkehrsdisziplin, weil wir nämlich einen Verkehr bestimmt wieder kriegen und weil wir alle auf dem Friedhof landen, wenn wir so weiterlottern. Und wenn ich Sie das nächste Mal sehe, lieber Kollege, möchte ich, daß die Handbremse an Ihrem Rad in Ordnung ist. Wiedersehn!«
Sie sahen sich noch öfter wieder, David und der Genosse Reitzig. Der wurde nicht wieder Maurer, und auch Bürgermeister wurde er nicht; der blieb in der Uniform der Polizei, und einmal in der Mitte der sechziger Jahre hielt er im Bezirksaktiv der Partei eine Rede, und in der ging es um die verkehrspolizeilichen Aspekte bei der Neugestaltung des Alexanderplatzes, und plötzlich sprang er heraus aus dem Redestil, der bei solchen Zusammenkünften fast verbindlich war, und sprach von Herzenswünschen, und einer dieser Wünsche war, die Berliner möchten zu höherer Verkehrsdisziplin sich endlich finden, denn sonst, sagte der Genosse Reitzig, landeten wir übermorgen alle auf dem Friedhof, weil nämlich in absehbarer Zeit jeder Mensch ein Auto haben werde, und Untertunnelung und Stadtautobahn und Hochstraßen, das sei ganz in Ordnung, das gehöre eben auch zum Sozialismus, und für den sei er sehr, aber er sähe da auch Probleme, und richteten wir uns nicht heute auf die ein, so fräßen sie uns morgen.
David war ein wenig enttäuscht, als der Genosse Reitzig nicht auch noch von jenem Sinnesorgan sprach, von dessen Vorhandensein in einer Extraecke des Kopfes er selbst fest überzeugt war seit der frühen Begegnung mit dem Wachtmeister am Alexanderplatz; er jedenfalls glaubte so sehr daran, daß er sich oft genug zu dem etwas lächerlichen und auch immer belächelten Appell an die Teilnehmer der Redaktionskonferenz hinreißen ließ: »Rührt gefälligst eure Zukunftsfühler!«
Der Ausdruck paßte selbst Penthesilea nicht; sie strich ihn aus Davids Rapport von der Umfrage, und ihr Argument war, es helfe dem Menschen nicht, wenn er sich für alle Nöte ein neues Organ erfinde, er müsse mit dem auskommen, was er habe, dies allerdings gelte es auszubilden zu höchster Vollkommenheit; aber Extraecken, nein, und Extrafühler, nein, von da sei es nicht weit bis zu Extranasen und den Extraaugen bei Picasso, und dieses Extrem auf der einen Seite fordere das Extrem auf der anderen nachgerade heraus und führe, um einmal bei der Kunst zu bleiben, über kurz oder lang zu Archipenko und dessen Entkörperung der Skulptur, zu Skulptomalerei und Bildmaschine und einem Menschenbild aus nur noch geometrischen Figuren, und Bertram Müntzer, ihr Mann, habe bitter dafür zahlen müssen, daß er den Verlockungen Archipenkos aufgesessen; nein, Zukunftsfühler und Extraecken seien keine zulässigen Ausdrücke für die Neue Berliner Rundschau, aber sonst sei Davids Bericht gar nicht schlecht geschrieben, nicht so übel, wenn man es vergleiche mit dem, was sonst so geschrieben werde, jetzt hier. So hatte sie David bald eingeschüchtert und zugleich bestochen, aber mit Fedor Gabelbach kam sie nicht so leicht zurecht; der hörte das Lob gar nicht, mit dem sie seine Bilder bedachte – vor allem das von der Straßenbahnerin, die so für Freundlichkeit eingetreten war, gefiel ihr sehr –; Gabelbach hörte nur, daß sie das Foto von Davids Gespräch mit dem Mensendieck-Turner nicht bringen wollte, und David hoffte, obwohl er Gabelbach dankbar war für kleine und größere Hinweise, der werde sich nicht durchsetzen im Streit mit Penthesilea. Denn das Bild zeigte ihn genau so, wie er innerlich beschaffen gewesen war bei der Vorführung der Musterübung aus der Hamburger Schule für reine Mensendieck-Gymnastik: starr vor blödem Staunen.
Natürlich siegte Johanna Müntzer. Das Bild kam nicht in die Zeitung, dafür kam es an die Wand in Gabelbachs Büro, und David durfte es betrachten, wann immer er dazu Lust hatte.
Im Laufe der Jahre bedeckten sich Gabelbachs Wände mit Hunderten solcher unveröffentlichten Kostbarkeiten, die meisten vom Sammler selbst gefertigt, einige aber auch von dessen Schülern und Mitarbeitern und unter diesen eines von Franziska, das farbigste und blutigste ihrer unerhörten Bilder, das denn doch zu blutfarben gewesen und deshalb nicht in die Rundschau gekommen war.
Gabelbachs Dokumente waren eigentümliche Belege zur Geschichte der Illustrierten; in ihnen steckte die Parahistorie der Rundschau, die Geschichten hinter der Geschichte; sie waren Zeugnisse von den ungelenken Übungen vor dem schnurrenden Auftritt, von verpfuschten Absprüngen und Grenzübertretungen, von Entdeckungen, die man für sich behalten mußte, und von Prüfungen, die niemand mehr beglaubigen mochte. Die Sammlung konnte leicht für eine zynische Chronik genommen werden und ihr Besitzer für einen Hundephilosophen, und Kutschen-Meyers Nachfolger, einer der rechtmäßigen Inhaber des Spitzenplatzes im Impressum der Neuen Berliner Rundschau, der Chefredakteur Herbert Bleck, hatte genau dies getan: die Bilder eine zynische Chronik genannt und den Redakteur Gabelbach einen Hundephilosophen, und nicht zuletzt deshalb gedieh die Zeitung nicht so recht, solange Herbert Bleck an der Spitze im Impressum stand.
Ohne Zweifel war Herbert Bleck ein gelehrter Mann, kannte sich aus mit frühen philosophischen Schulen und späten, kannte sich aus mit Ideen, den Reflexen des Lebens in scharfen Köpfen, war selber ein scharfer Kopf und liebte einen scharfen Ton, zumal, wenn er es war, der ihn von sich gab. Nur die Unzulänglichkeit der vorgefundenen Menschen – den Terminus »vorgefundene Menschen« schätzte er sehr –, nur deren Unzulänglichkeit hinderte ihn, die Welt zu wandeln mit einem Schlag, mit einem Schlag pro Woche, ausgeführt von der illustrierten Schrift Neue Berliner Rundschau.
Jahrelang war das Blatt ohne jemanden ausgekommen, der Chefredakteur hieß; Johanna hatte das Steuer gehalten und Kutschen-Meyer den Platz im Druckvermerk, aber dann ging, was so gegangen war, nicht mehr; man befand sich auf einer höheren Stufe der Entwicklung, die genauere Konturen der Leitungsbereiche verlangte, und irgend jemand hatte festgestellt, daß in der Führung der Rundschau äußerst verschwommene Verhältnisse herrschten.
Es kostete Johanna und ihren Assistenten, wie David immer noch genannt wurde, erhebliche Anstrengung, der Kommission der Obersten Abteilung die Ursachen dieses Zustandes einzuleuchten; deren Mitglieder wollten es nicht glauben, daß es Zeiten gegeben haben sollte, in denen man es für nicht opportun gehalten, einen Frauennamen an die Spitze eines Impressums zu setzen.
Zum Glück fand ein Kommissionsmitglied heraus, daß eben in dieser Ungläubigkeit ein Zeichen zu sehen sei für den Fortschritt, den man getan, und dafür, daß man sich jetzt auf höherer Stufe befinde; da konnte dann über Änderung nachgesonnen werden.
Die einfachste Lösung war keine; Johanna wollte nun nicht mehr namentlich werden, was sie in Taten immer gewesen war; sie wollte Herausgeberin bleiben. So entschied die Kommission nach Prüfung des Kaderbestandes, ein neuer Mann müsse ins Haus. Nein, in der Redaktion selbst fand sich niemand, der geeignet schien; die Mitarbeiter dort waren entweder zu alt oder zu jung, waren vor allem zu sehr Praktiker, und der Praktizismus stand zu jener Zeit weit oben im Katalog der die Entwicklung hemmenden Gefahren.
Ein theoretischer Kopf mußte her, ein Mensch mit Bewußtsein plus Geschichtsbewußtsein, ein nicht nur geschulter, sondern auch studierter Mann.
Der hieß dann Herbert Bleck und verfügte über ein Universitätsdiplom. Mit einer kleinen scharfen Antrittsrede machte er den Praktikern klar, daß er sie für vorgefundene Menschen ansehe, und es klang wie: notwendiges Übel, Übergangserscheinungen und zu überwindendes Durchgangsstadium.
Außer diesem machte er an seinem ersten Tag noch mindestens drei weitere Fehler: Er schnitt seinem nominellen Vorgänger Heinrich Meyer, genannt Kutschen-Meyer, das Wort ab, als der zum besten geben wollte, wie es mit Andersen Nexö in einer Kneipe am Rosenthaler Platz gewesen war, und rutschte damit aus der Kategorie fortschrittlicher Intelligenzler in die von Kutschen-Meyer ganz anders behandelte Kategorie Intellektueller ab, und wäre er ein Rundschau-Praktiker gewesen, hätte ihm dabei geschaudert.
Aber Herbert Bleck kannte sich eben mit Ideen besser aus als mit Menschen und schickte sich mit scharfem Tritt zu einem ersten Hausgang an. Da machte er den nächsten Fehler. Er geriet in Davids Zimmer, das neben dem Konferenzraum lag, sah dort ein Bändchen mit Kafka-Erzählungen, überflog die aufgeschlagene Seite, las laut den Titel der Geschichte »Die Verwandlung«, kannte sich aus mit ihr, studiert, wie er war, und befand in scharfem Ton: »Die Verwandlung eines Menschen in einen Käfer ist für uns keine annehmbare Lösung!«
Spätestens damit war er auch bei David raus, denn der überschlug sich zwar keineswegs Franz Kafkas wegen, bestaunte ihn aber sehr und wäre nur nie auf die Idee gekommen, der unglückliche Prager habe mit der Geschichte von Gregor Samsa irgend jemandem eine Lösung bringen wollen.
Doch er hatte vorerst keine Lust, mit dem neuen Chef über Annehmbares oder Unannehmbares oder auch nur einen beliebigen anderen Gegenstand zu streiten; der Mensch schien zu sehr mit sich und seiner Rolle als neuer Besen zufrieden; für Debatten war es zu früh.
Ihm war es zu früh; nicht früh genug aber könnte es, so dachte er, zum Meinungsaustausche zwischen dem neuen Besen und dem dienstältesten Hasen des Hauses kommen, dem Leiter der Bildabteilung Fedor Gabelbach, und deshalb führte er die beiden einander auf kürzestem Wege zu. Er hätte Bleck ebensogut auf der Schwelle zum Labor ein Bein stellen können; härter wäre der neue Chef dann auch nicht hingeschlagen. Gabelbach mochte verschiedene Motive haben, den neuen Mann nicht zu mögen, und er benahm sich, als habe er tausend finstere Gründe. Er machte stumm, nur mit raschem Zeichen, klar, daß er im Augenblick tief beschäftigt sei, suchte ein großformatiges Foto mit der Lupe ab, zog mit Bleistift und Lineal Striche über das Bild und schnitt es dann sorgfältig in gleichmäßige Streifen, und die warf er in den Papierkorb.
Bleck sah diesem Prozeß zunächst interessiert zu, merkte dann aber wohl, daß hier an seiner Autorität herumgeschnippelt wurde, und wandte sich mit scharfem Blick den verqueren Denkwürdigkeiten an Gabelbachs Zimmerwand zu.
Aufs erste Hinsehen waren das Pressefotos, wie man sie in dieser Abteilung erwarten durfte, aber sie waren an die Wand und nicht in die Zeitung gekommen, weil sie irritierende Nebenansichten boten und so der Sache nicht dienten.
Da war zum Beispiel ein Dokument, auf dem überhaupt nichts Besonderes gefunden werden konnte, und gerade dies Fehlen des Besonderen hatte es zu einem wertvollen Stück der Sammlung gemacht. Es zeigte lediglich mehrere ernste Menschen beim Betrachten von Gemälden, und darunter stand, was es eigentlich hatte zeigen wollen, nun aber nicht zeigte und warum nicht: »Kollege« (der Name war auf Drängen Johannas überklebt), »auf dem Foto nicht zu sehen, hat gerade vor einem anderen Bild verweilt.«
Der neue Chefredakteur studierte die Kollektion, und mählich schien ihm zu dämmern: Hier stimmt etwas nicht!
Ihm gruselte sichtlich vor Franziskas unerhört blutigem Bild, und das Andenken an die Begegnung Davids mit dem Mensendieck-Turner machte ihm auch zu schaffen; die Sache mit dem unsichtbaren Kollegen schien er nicht zu begreifen, dann aber fand er etwas, wo er zupacken konnte: David war da zu sehen, in einer Menschenmenge, die auf den Knien lag, David lag auch auf den Knien, unter ein mächtiges Doppelholz gebeugt, ein Kreuz, wenn nicht alles täuschte, und auch die anderen Menschen schleppten sich, wenn nicht doch Trug im Spiel war, mit christlichem Symbolholz.
Herbert Bleck deutete auf die Abbildung und fragte erstaunlich behutsam: »Aufbaueinsatz?«
David lachte, und er dachte dabei: Wenn die Frage ein Trick ist, dann hat der Neue doch was unter der Weste, und wenn sie ihm Ernst ist, dann sind wir ihn bald wieder los, und er sagte: »Nein, und in einem gewissen Sinne doch, ja, das hängt hier sehr vom Standpunkt ab, von unserem Standpunkt aus ist es mehr was Mittelalterliches; das ist eine Prozession, weißt du.«
»Schien mir doch gleich so«, sagte Bleck, »nur, wie kommst du dann da unter die Gläubigen, Genosse Groth; ich meine doch, du bist Parteimitglied, wie gerätst du da unter die Pilger?«
Gabelbach hatte seine Beschäftigungspantomime aufgegeben und hörte mit einem unfrommen Lächeln zu. Das brachte David in eine Klemme. Er war nicht für den forschen Neuling, aber der war sein Genosse und hatte seinen Auftrag von der Partei; da mußte man ihm helfen. Und Gabelbach brachte ihn oft in Rage, vor allem, wenn er sein Spruchbanner schwenkte, auf dem geschrieben stand: Ich bin parteilos! Zugleich aber wußte David, wieviel er dem ewig nörgelnden Fotografen zu danken hatte und daß er ohne ihn wahrscheinlich nicht weit hineingekommen wäre in die Neue Berliner Rundschau, die eben doch in manchem das vom Botenmeister Ratt beschriebene Troja gewesen war.
Aber er selbst hatte dies Renkontre mutwillig herbeigeführt; da mußte er nun durch. Er sagte, so leichthin ihm das vom Mund gehen wollte: »Wie gerät man unter die Pilger, wenn man Journalist ist? Weißt du, Genosse Bleck, das geht manchmal ganz schnell, zumal, wenn man sich noch nicht so auskennt. Du siehst dir so einen Umzug genau an, weil du ihn genau beschreiben willst, und du denkst dir: Mal hören, was die Leute sagen, die da mitmachen!, weil das zum genauen Beschreiben gehört; du mischst dich also in den Zug, und wenn dann die Straßen enger werden und die Reihen der Wallfahrer auch, dann merkst du plötzlich: Jetzt bist du unter die Pilger geraten.«
»Das ist mir schon verständlich«, sagte der Chefredakteur, »natürlich, die Ideen – hier einmal abgesehen von ihrem Gehalt –, diese treten in Erscheinungen zutage, und eine Analyse der Erscheinungen, das ist schon richtig, aber wir wissen: Man darf sich von den Erscheinungen nicht erdrücken lassen. Dies Bild da jedoch, welches man sozusagen als festgehaltene Erscheinung definieren könnte, scheint mir zu zeigen, daß du dich in diesem Falle von den Erscheinungen hast erdrücken lassen, was mir als bedenklich erscheint, zumal wenn ich das Kreuz als die Erscheinung einer uns fremden Idee definiere.«
»Jaja«, sagte David, »das Ding hat mich wirklich beinahe erdrückt, das war ein schöner Brocken. Aber weißt du, da hatte ich schon keine Wahl mehr. Ich sagte ja schon: Die Straßen wurden immer enger; je näher man an die Wallfahrtskirche herankam, um so mehr verwandelten sich die Straßen in Gassen, da war ich wirklich unter die Pilger geraten, der Ausdruck hat schon den richtigen Nebensinn. Wenn ich gewußt hätte, daß sie zwei Ecken weiter mit so einer Erscheinung der christlichen Idee auf mich warteten, hätte ich noch versucht herauszukommen, aber, wie du schon sagst: Es war erdrückend, und selbst wenn ich gewollt hätte, es wäre nichts geworden, und eine Ecke weiter mußte ich auf die Knie.«
»Siehst du«, sagte Bleck, »da haben wir es: Du mußtest auf die Knie! Wieso mußtest du? Ich meine, diesen Vorgang kann man in doppelter Hinsicht als erniedrigend definieren. Einmal von der Idee her und dann auch rein räumlich gesehen.«
»Ich habe es damals vor allem rein räumlich gesehen«, sagte David und fragte sich, ob es unbedingt vonnöten sei, diesen scharfen Denker nun auch noch zu foppen, »aber ich glaube, Erniedrigung oder nicht, da blieb mir gar nichts. Mitgegungen, mitgesungen!, weißt du. Wenn ich aufrecht geblieben wäre, um das einmal in doppelter Hinsicht zu definieren, da hätten die mich auseinandergenommen, nehme ich an. Weißt du: Oberbayern, Altötting, enge Gassen fromm belebt, lieber nicht. Als Idee ist das schon richtig, aber die Gasse war voller kräftiger Erscheinungen, da blieb nur: Reingerochen, mitgekrochen!«
»Das war auch noch im Westen?« fragte Bleck, ehrlich erschrocken und nun doppelt wachsam. »Und da hast du dich unter ein Kreuz zwingen und dabei fotografieren lassen? Ist das hier ausdiskutiert worden?«
»Ist es«, sagte David, »darin sind wir stark. Erfolge, Niederlagen, Erscheinungen, Ideen, wir diskutieren alles, sonst stumpfen einem die Zukunftsfühler ab. Nein, nein, meine Erniedrigung ist diskutiert worden, das ist rausdiskutiert worden, raus aus der Zeitung und ran an die Wand. An dieser Wand, mußt du wissen, hängen fast nur Sachen, die rausdiskutiert worden sind. Man könnte diese Bilder hier als festgehaltene Erscheinungen definieren, die einen auf falsche Ideen bringen könnten.«
»Dann werden wir diese Wand gleich mal ausdiskutieren«, sagte der neue Chef, »da scheint ja eine merkwürdige Konzeption ausgebreitet zu sein an dieser Wand, aber du wolltest gerade entwickeln, wie du unter das Kreuz gekommen bist, wie man in doppelter Hinsicht sagen könnte. Du hattest bisher entwickelt, wie du auf die Knie gezwungen wurdest, und wo trat nun das Kreuz in Erscheinung?«
Gabelbach hatte sich gerührt, als die Rede von der Konzeption seiner Wand gewesen war, aber jetzt saß er wieder still da, und David wußte: Er genoß den Spaß.
David sagte: »Das Kreuz trat an der nächsten Ecke in Erscheinung. Aber da man In-Erscheinung-Treten in doppelter Hinsicht definieren könnte, einmal als einen Begriff aus der Ideenwelt und einmal als einen aus dem optischen Bereich, muß ich sagen, beides trifft nicht recht. Für Ideen hatte ich den Kopf nicht frei, weil mir die Knie weh taten, ich hab ziemlich spitze Knie, weißt du, die sind nichts fürs Wallfahren, und meine Optik, Gott: Da war vor allem ein grüner Lodenrücken vor mir, und die Knie können einem so weh tun, daß es auf die Augen schlägt! Und dann hievte mir einer das Kreuz auf die Schulter. Die müssen die aus einem Fenster gereicht haben; ich weiß gar nicht, wo die sonst hergekommen sein sollen. Der Lodenrücken hatte auch eins, und seins bumste immer gegen meins, und so ging es rum um die Wallfahrtskirche von Altötting in Oberbayern. Ich sag dir: Religion ist auch nicht einfach.«
Den Chefredakteur Bleck hatte dieser Bericht sichtlich mitgenommen; er sagte, ohne alle Schärfe, fast resignierend vor dem so vorgefundenen Menschen David Groth: »Und das ist ausdiskutiert worden?«
»Ja, richtig aus.«
»Und das Bild da, das ist auch ausdiskutiert worden?«
»Ja, aus und raus.«
»Nun gut, das sind gewesene Sachverhalte«, sagte der neue Mann, »ich denke, es sind die richtigen Schlußfolgerungen daraus entwickelt worden, nur: Ist auch geklärt worden, wie es zu der Erscheinung des Bildes gekommen ist? Es muß doch in deiner unmittelbaren Nähe angefertigt worden sein, und die Frage ist: Mit welcher Absicht, auf der Grundlage welcher Idee? Ist das geklärt worden?«
»Da war nichts zu klären. Das Bild hat der Kollege Gabelbach gemacht, oder angefertigt. Das war eine Leistung, weißt du; der Kollege Gabelbach hatte zwar kein Kreuz zu schleppen, aber bei dem Gekrieche so ein Bild zu schießen, das war eine Leistung, finde ich.«
»Ich glaube zu verstehen«, sagte Bleck, und sein Ton gewann deutlich an Schärfe. »Sie waren mit! Darf ich erfahren, wie Sie so ein Bild anfertigen konnten?«
Endlich war Gabelbach von der Leine los. »Ich konnte so ein Bild anfertigen, Herr Kollege, weil ich das gelernt habe«, sagte er voll Galle, »Sie mögen es noch nicht bemerkt haben, denn es ist in diesem Hause alles ein wenig unübersichtlich, aber ich bin Fotograf, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sollten Sie aber glauben, es nicht zu verstehen, so fragen Sie nur. Es ist Usus im Hause.«
Bleck nahm ihn fast freudig an. »Da Sie von Usus reden: Wie paßt eine Bildersammlung wie diese in den Usus eines fortschrittlichen Publikationsorganes? Wenn es im Lateinischen heißt: Usus est tyrannus, so scheint es mir hier dahingehend übersetzbar zu sein, daß die schlechte Gewohnheit, in Ihrem Falle die Gewohnheit, schädliche Bilder zu sammeln, zu schlimmen Folgen führt, im Falle dieser Wand zu einer schädlichen Konzeption!«
»Konzeption«, sprach Gabelbach, auch er erfreut, »da wären Sie ja nun durch alle Wirrnis hindurch bei diesem nützlichen Begriff, da wollen Sie bitte so freundlich sein, mir die Konzeption dieser meiner Sammlung darzulegen, da hätte ich gar zu gerne Aufschluß.«
»Den bekommen Sie«, erwiderte der Chefredakteur, »den bekommen Sie in aller Offenheit: Ich halte Ihre Sammlung für eine Erscheinung, der eine zynische Idee zugrunde liegt. Wenn es der Anstand verlangte, die im Verlaufe der Entwicklung aufgetretenen Fehler als unvermeidliche Folge des Tatbestandes zu behandeln, daß die zu leistenden Arbeiten nur mit den in einem bestimmten Zustand vorgefundenen Menschen in Angriff genommen werden konnten, die Fehler also als Erscheinungen eines Übergangsstadiums aufzufassen und zu definieren wären, unternehmen Sie es, diese Fehler in einen Zusammenhang zu bringen, diesen zur Schau zu stellen und damit zu Schlußfolgerungen aufzufordern, welche in unvermeidlichem Gegensatz zum Entwicklungsgedanken stehen. Eine solche Konzeption nenne ich eine zynische, und die ihr zugrunde liegende Philosophie nenne ich eine Hundephilosophie, abgeleitet von griechisch Kyniker, der Hündische, oder von Kynosura, der Hundeschwanz. An dieser Wand ist sozusagen der Hundeschwanz unserer Entwicklung zur Erscheinung gebracht worden, aber, so stelle ich die Frage: Wo ist der Hund?«
Da David ahnte, daß Gabelbach bereit sei, einige den Hund betreffende unfeine Vorschläge zu machen, und da er fürchten mußte, dies alles werde mit einer Explosion enden, sagte er rasch: »Genosse Bleck, Kollege Gabelbach, darf ich einmal? Ich habe das Gefühl, es wird jetzt zu speziell, Hundeschwanz auf griechisch, da kann ich nicht mit. Das ist ein bißchen sehr zugespitzt, finde ich. Ich glaube, dieser Meinungsaustausch hat nicht die richtige Zielsetzung. Was ist unsere Aufgabe, Ihre, Kollege Gabelbach, deine, Genosse Bleck, meine? Was ist unsere gemeinsame Aufgabe? Kurz gefaßt: die Neue Berliner Rundschau. Was aber diskutieren wir? Die fast privaten Beiprodukte der Neuen Berliner Rundschau, die manchmal humoristischen, manchmal auch nicht so humoristischen Abfälle. Wir haben eine Großdreherei in Betrieb zu halten und diskutieren die Späne. Weißt du, Genosse Bleck, wir haben hier jetzt die siebzehnte Brechung einer Nebenerscheinung am Wickel und verlieren die Idee aus dem Auge. Wissen Sie, Kollege Gabelbach, ich kenne Leute, denen haben Sie mit diesen und jenen kleinen und großen Hinweisen aus mancher Wirrnis geholfen, und das ist dann der Zeitung zugute gekommen. Ich weiß gar nicht, warum wir davon abkommen sollten. Für die Rundschau wäre es jedenfalls nicht so gut.«
»Selbstverständlich bin ich bereit, die Auseinandersetzung auf prinzipieller Basis zu führen«, sagte Herbert Bleck, »das ist ein Erfordernis, um die Idee nicht auf den Hundeschwanz geraten zu lassen. Stellen wir also nicht die Frage, warum dieses Wallfahrtsfoto hier an der Wand hängt, stellen wir die Frage, warum es überhaupt angefertigt wurde. Mit einer solchen Fragestellung wird eine prinzipielle Klärung möglich, und die scheint mir erforderlich.«
»Erforderlich scheint sie mir auch«, antwortete Gabelbach, »ob sie möglich ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich versuche es: Der junge Mann hier, Assistent für viele Gelegenheiten, ist seit einigen Jahren bei dieser Zeitung; ich bin seit einigen Jahren bei dieser Zeitung. In diesem Haus entwickeln sich keine gelehrten Köpfe, aber ein Quantum Geschicklichkeit ist auf die Dauer unvermeidbar, und dieser oder jener Einsicht kann man sich nur auf Zeit versperren. Um aber nicht in unübersichtliche Gewässer zu geraten, wollen wir bei dem Fall bleiben, dessen nochmalige Klärung Ihnen so dringlich scheint. Es handelte sich um etwas, woran keine Zeitung auf immer vorbeikommt, um eine Reportage. Reportieren, Sie werden es wissen, erlaube ich mir zu denken, reportieren wird allgemein als berichten begriffen, zunächst aber heißt es nichts weiter als: zurückbringen. Ein Reporter muß, bevor er berichten kann, etwas zurückbringen: Eindrücke, Erfahrungen, Ansichten, Einsichten, Wahrnehmungen sinnlicher Natur, Bestimmungen gedanklicher Natur. Er ist ein Sammler, bevor er ein Ordner sein kann.
Zum Elementaren mag das genügen. Jetzt eine gegebene Situation: Zwei Mitarbeiter der Neuen Berliner Rundschau gehen auf eine Reise, dienstlich, Sie werden das verstehen, mit Passierpapieren versehen, mit dem nötigen Gelde und mit einem Auftrag. Dieser lautet: Macht einen Bericht über den anderen deutschen Staat, zeigt, was dort anders ist als hier, anders, weil ganz neu, oder anders, weil uralt; zeigt die Unterschiede! Die beiden Mitarbeiter gehen an die Arbeit – neben das Wort Arbeit möchte ich eine Markierungsboje setzen –, sie beginnen im Norden des westlichen Landes, reden, ich will es Ihnen ein wenig anschaulich machen, mit Marschbauern über Kohlpreise und erfahren so etwas über die Praxis der europäischen Marktwirtschaft; sie stoßen vor einer Jugendherberge hinterm Nordseedeich auf die Glocke des Reichsnährstands, einen monströsen Klangkörper mit monströsen Hakenkreuzen und monströsen Sprüchen, worüber sie später berichten werden, was dann zur Folge haben wird, daß trotzige Jungbauern, die in der Schule den ›Werwolf‹ von Hermann Löns gelesen haben, über Nacht die Glocke vergraben für spätere nationale Tage; die beiden Mitarbeiter der Neuen Berliner Rundschau gelangen dann in die Stadt Hamburg und wohnen dort einer Versammlung der Deutschen Reichspartei bei, wo ihnen Antwort wird auf die Rednerfrage: ›Was wünscht sich der Germane?‹; sie besichtigen eine Fliegerkaserne am selben Orte und werden für journalistische Wehrhelfer gehalten, was der Offenheit des Gesprächs durchaus förderlich ist und damit auch den Einsichten in das, was mit einem Schönwort Innere Führung heißt; sie – die Reporter, wie Sie sicherlich immer noch verstehen werden – erwerben zwei Sitzplätze im Evangelisationszirkus von Billy Graham, das ist schon im Ruhrgebiet, und werden Zeugen erstaunlicher Rhetorkunst und einer traurig erstaunlichen Lenkbarkeit von Leuten, die im Zentrum modernster Industrie zu Hause sind; die beiden Mitarbeiter lassen sich dann zu Köln am Rhein von einem freundlichen Bibliothekar der Ford-Werke mitteilen, warum der Herr Ford soviel Geld für freundliche Bücher ausgibt: weil sie, das sagte der Mann, den unfreundlichen Klassenkampf vergessen machen; und schon sind die beiden Mitarbeiter der Neuen Berliner Rundschau in Wiesbaden und erschleichen sich dort – den Ausdruck erfordert die Wahrhaftigkeit – Zutritt zum Kulturkongreß der SPD und müssen die Ohren offenhalten auch bei Carlo Schmid; dann mengen sie sich in Frankfurt unter die Traditionalisten vom Afrika-Korps und in München unter neofuturistische Maler, rasten in Garmisch auf der Partnach-Alm, wo einem von beiden ein optischer Fehler unterläuft, der ihm noch Kummer bereiten soll; und zum Ende ihrer Reise finden sich die beiden Mitarbeiter im oberbayrischen Altötting, sie sehen sich das Tilly-Grab an, und der eine hält dem anderen einen gewieften Vortrag über die Schlacht bei Breitenfeld, wo, wie der andere seither weiß, der alte Tilly einer neuen Gefechtstaktik des Königs Gustav Adolf von Schweden zum Opfer gefallen ist, aber, Taktik hin, Strategie her, die beiden, von denen die Rede ist, und Sie werden sicher noch wissen, von wem hier die Rede ist, die beiden Mitarbeiter der Neuen Berliner Rundschau, vorsichtshalber sei diese genauere Markierung doch eingefügt, besinnen sich: Sie sind nicht der Militärhistorie wegen hier, eher ist es Zeitgeschichte, die von ihnen einen Beitrag will, sie sind am Platze der Arbeit wegen, ich versah das Wort wohl bereits mit einem Markierungsfähnchen, sie sollen berichten, was anders ist zwischen Eider und Inn, sollen reportieren, etwas zurückbringen über Alt und Neu dortzulande, und deshalb müssen sie sammeln auch in Altötting, Altötting hat mehr zu bieten als Johann Tillys Grab. An diesem Tag, am Ende einer langen Arbeitsreise hat Altötting eine Prozession zu bieten, und nun kann sich der andere Mitarbeiter ein wenig revanchieren bei dem einen für dessen Vortrag über die Taktik des Schwedenkönigs, kann nun seinerseits, weil er sich zufällig auskennt mit den Bräuchen der katholischen Kirche und hier ausnahmsweise von dieser Kenntnis Äußerung tun darf, da es der Arbeit zugute kommt, kann nun seinerseits den langen historischen Weg der Prozessionen mit einigen Markierungen versehen und deutlich machen: Die beiden, die Mitarbeiter der Neuen Berliner Rundschau, täten im Sinne ihres Auftrags gut daran, dem frommen Umgang genauestens zuzusehen und zuzuhören. Den Rest, will ich zu hoffen wagen, erinnern Sie noch, und zu sagen wäre nur: Wir hätten den Stecken nehmen dürfen, wären wir hier unserer Pflicht nicht gefolgt.
Und zu sagen wäre noch: Einen Reporter und einen Agitator unterscheidet dieses und jenes. Wenn ich da einige Andeutungen machen darf: Ein Agitator – ich spreche jetzt nur von diesem, den Konterpart werden Sie sich selber zurechtlegen können, will ich vermuten – hätte weder dem Kohlbauern noch dem Ford-Bibliothekar schweigend zuhören dürfen; seine Arbeit wäre es gewesen, Aufschlüsse zu liefern über den Charakter der europäischen Marktwirtschaft und über das Ethos der Literatur; er hätte feurio! rufen müssen beim Anblick der Hakenkreuzglocke und der sehr lebendigen Reste des Afrika-Korps; er hätte Billy Grahams Opfer aus der Trance und Carlo Schmids Genossen aus dem Schlafe schreien müssen; seine Losung in der Fliegerkaserne wäre gewesen: Kampf dem Atomtod!, und die alten Germanen hätte er fragen müssen, was sie jüngst mit jungen Semiten getan. Hätte er dieses oder ähnliches nicht unternommen, er hätte seinen Stecken nehmen dürfen.
Der Reporter jedoch – Sie werden mir diese kleine markierende Einhilfe genehmigen –, der hätte, wäre er auf solches verfallen, leider seinen Beruf verfehlt. Er hätte ihn übrigens auch verfehlt, wenn er nicht ständig versucht wäre, aus der Rolle zu fallen und Widerspruch zu sagen gegen Unvernunft und Gedankenwirrwarr und Schreckenstat; es läge dann, wäre er in solchem Falle nicht zum parteilichen Wort versucht, eine Bewußtseinsstumpfe in ihm vor, und da sollte man ihm den Stecken geben, weil Bewußtseinsschärfe erforderlich ist in diesem Beruf.
Aber das war nur ein markierendes Übrigens. Ich komme auf die Verhaltenspflicht des Reporters zurück, wenn Sie diesen Fingerzeig erlauben; sie läßt sich fassen in den überraschend schlichten Satz: Und halten sollst du dich so, daß du deine Arbeit tun kannst, umsichtig, eindringend und unbeirrt auf die Wahrheit hin. Das aber heißt – ich hoffe, ich habe die Konzession zu dieser Erläuterung –, es heißt für den Fall, ein Reporter hat sich unter Rommels Wüstenfüchse oder auch unter fromme Pilger gebracht, Ohren auftun, Augen auftun und den Mund nur zu listigem Fragen, es heißt: sammeln, häufen, scharren, fassen, erraffen und speichern: Worte, Töne, Laute, Gebärden, Gesten, Haltungen, Gesichter, Augen, Münder, Fußstellungen, Krawattenmuster, Automarken, Siegelringe, Syntax, Vokabular, Rauchgewohnheiten, Händedrücke, Haartrachten, Hutformen, es heißt Antwortsuche auf die Fragen: wer, wann, wo, wie und, wenn das zu haben ist, warum?
Und den Stecken für den Zeitungsmann, der das vergißt!
Vergißt er es aber nicht, sehr geehrter Herr, hat er getan, was seine Arbeit war, und begibt er sich nun nach diesem Teil getaner Arbeit an einen weiteren Teil von Arbeit, ans Sichten des Zurückgebrachten – Sie haben es sich womöglich gemerkt: reportieren, soviel wie zurückbringen –, dann sieht er sich vor Brauchbarem und Unbrauchbarem, beides bestimmt von diesem und jenem her – lassen wir das jetzt unerörtert, sonst verzweigt sich unser Fluß doch noch in ein unübersichtliches Delta, in dem Sie sich trotz der Markierungsbojen, die ich hier und da gesetzt zu haben glaube, verlieren müßten –, der Berichterstatter sieht sich vor die Wahl gestellt vielmal, und dies sind die Stunden seines lauten Zornes, weil sicher ist: Was er für Kleinodien hält, gilt anders als Tinnef; wo er Pretiosen sieht, sprechen die anderen von Talmi; da heißt es Abschied nehmen.
Nehmen wir folgenden Fall: Da hat ein Mitarbeiter der Neuen Berliner Rundschau einen anderen Mitarbeiter der Neuen Berliner Rundschau bei einer Gelegenheit fotografiert, die – soweit lassen sich Lebensgänge überschauen – wohl nimmer wiederkehrt: Der Mann, ein junger Mann, ein manchmal fast militanter Atheist, ein Parteimensch aufklärerischen Geistes, liegt, rutscht, wie das Bild beweist, auf den Knien unter einem kantigen Symbol christlicher Gesinnung über das Pflaster vor der Wallfahrtskirche von Altötting, und es ist ihm – soweit erstattet das Bild noch Bericht – nicht recht.
Die Aufnahme wird nicht veröffentlicht – ich will Sie mit einer Aufzählung der Gründe nicht verwirren –, die Aufnahme wird nicht veröffentlicht.
Ist sie deshalb ein Nichts geworden, ein Unbild gar, das zu vernichten wäre?
Nicht für mich, Herr! Für mich ist sie ein Teil meiner Arbeit, ein heiterer Teil meines Lebens, ein Beleg zu meinem Glauben, daß nichts unmöglich sei, sie ist ein Stück von mir und auch ein Stück von meinem Nebenmenschen, diesem jungen Manne hier, mit dem zu arbeiten ich seit längerem das Vergnügen habe. Wir beide, Sie, mein Herr, und ich, wir beide werden, fürchte ich, aneinander nicht das geringste Vergnügen haben, es sei denn, Sie gingen hin und täten das eine, das einzige, womit Sie mir wirklich imponieren könnten: Sie setzten sich hin und lernten ein wenig hinaus über den griechischen Hundeschwanz und täten am Ende gar gescheite Arbeit. Das wäre gut für Sie, das wäre gut für die Rundschau, gut für uns alle, und gut wäre auch, Sie behielten eines im Auge: Ihr Start hier, Herr, der war wirklich hundsmiserabel!«
Das war Fedor Gabelbachs längste Rede, das war Herbert Blecks längster Aufenthalt im Bildlabor, das war Davids längste Atemnot unterm Dach der Neuen Berliner Rundschau.
Doch wie der Start gewesen war, so ging es auf der Strecke weiter, ein ganzes Jahr.
Bleck verhedderte sich immer wieder in ein Gewirr aus scharfen Ideen und verdächtigen Erscheinungen; er kam mit den vorgefundenen Menschen nicht zurecht, und selbst Johanna, die zwar wilde, aber doch auch geduldige Menschenbildnerin, konnte diesen Bleck nicht modeln; der hatte keine Zukunftsfühler und nicht ein winziges Extraeckchen für Humor; der tönte so lange von Entwicklung, bis niemand sich mehr regen mochte, der ließ, als er endlich ging, nicht mehr zurück an Erinnerung als den jeden Uneingeweihten verwirrenden Hausbrauch, lateinisch auch Usus genannt, dem zufolge bei Sitzungen und Versammlungen an möglichst unpassender Stelle der Satz zu fallen hatte: »Die Verwandlung eines Menschen in einen Käfer ist für uns keine annehmbare Lösung!«
Das war alles und nicht gerade viel für einen Chefredakteur.
Denn der Chefredakteur Herbert Bleck hatte der Tugend nicht, die zu den höchsten in jenem Lande zählte, von dem die Neue Berliner Rundschau ein Abdruck war. Er hatte bei aller Geschultheit nicht verstanden, daß des Lernens niemals ein Ende sei.
So verschwand er fast spurlos aus dem Gedächtnis der Rundschau, und die Zeitung arbeitete weiter, wieder besser jetzt, ohne ihn.
Ein neuer Chef kam; der machte Kutschen-Meyer zum Fahrdienstleiter und hatte keine Furcht vor Gabelbach; der fragte David eines Tages, wer dieser verdammte Archipenko sei; der hatte, bevor er ins Haus kam, die Jahrgänge der Neuen Berliner Rundschau durchgesehen, und als er von Entwicklung sprach, empfahl er seinen Mitarbeitern das Studium einer entlegenen Weihnachtsnummer und der Wünsche, die eine Straßenbahnschaffnerin und ein Polizist im entlegenen Jahr fünfundvierzig geäußert hatten; der lernte bald, sich zu fürchten vor dem Ruf: Es fehlt noch was!, der war auch studiert und durchaus nicht unerfahren im Umgang mit Ideen und Erscheinungen, aber zunächst einmal saß er stille da und arbeitete sich langsam vor bis zu dem Satz: So ein Verlag ist ein Betrieb besonderer Art.
Und auch dieser Chef blieb nicht lange, und mit ihm ging das so: Da er wußte, daß er neu war, ging er behutsam durch das Haus und merkte sich die Besonderheiten und kam dahinter, warum Johanna Müntzer in der Redaktion Penthesilea hieß und in der Rotation Petersilie, kam hinter die Prinzipien, nach denen Gabelbach Bilder sammelte, und hinter dessen Tick, von Wirrwarr zu reden, wenn vom Organisationsaufbau der Rundschau die Rede war, kam zu Kenntnissen über die Ehegeschichte der Kaderleiterin Carola Krell und die homerische Beredsamkeit des Botenmeisters Ratt, kam dank Fräulein Lilo aufs laufende über Leserbriefe und die prägende Art von Fachleuten, und dank Kutschen-Meyer kam er aufs laufende über den Unterschied zwischen Intellektuellen und fortschrittlichen Intelligenzlern.
Und mit dem Besonderen faßte er auch das Allgemeine: die Umlage-Bräuche, den Kampagnen-Zyklus, die kleinen Brigaden-Kriege, die großen Schlachten um eine zusätzliche Reinemachefrau, den unregelmäßigen Rhythmus zwischen Planziel und Planziel, das Gebirgsprofil der Arbeitsproduktivität, die Prämientänze und die Wortmusik zum Internationalen Frauentag, die Großmacht Hauptbuchhalter und die Allmacht der Vereinigung Volkseigener Betriebe, kurz und harmlos VVB genannt.
Diese, gerade diese und ihre Allmacht und die Unerforschlichkeit ihrer Ratschlüsse erfaßte er besonders gut, denn eben als er zu glauben begann, nun einiges zu wissen vom Wesen seiner neuen Arbeitsstätte, eben da, nach einem Jahr, rief man ihn ab von seinem Posten, ein anderer, höherer wartete schon auf ihn.
So ein Verlag ist auch nur ein Betrieb.