Ebensogut hätte er mit der Faust in einen Sack voll Kleie schlagen können.
Wenn man die Aufregung bedenkt, die der Schuß im Wald auslöste, klingt das ungerecht. Aber Aufregung und Änderung sind zweierlei. Und geändert hat Wilhelm Groth mit seinem Karabiner nichts, jedenfalls nicht dort, wo er es vielleicht wollte.
In seinem Brief hat er nichts von Änderung geschrieben. Er hat kein Vermächtnis hinterlassen, keine Aufforderungen an die Nachwelt gerichtet, keine Appelle in die Welt geschrien, bevor er sich mit einer Gewehrmündung den Mund stopfte.
Auf dem Zettel, der hinter seinem Koppelschloß steckte, stand nur, Frau und Kind sollten ihn verstehen; lange hätte er sowieso nicht mehr leben können, und dies sei ihm als die beste Zeit, der beste Ort und die beste Art zum Sterben erschienen.
Als Hilde Groth von der Polizei aufgefordert wurde, diese kurze Nachricht zu erläutern, tat sie es bereitwillig. Sie weinte nicht, und sie zeigte auch nicht jene Verständnislosigkeit, von der Hinterbliebene sonst kaum lassen können. Sie erklärte die Sache wie etwas, das sie schon lange hatte kommen sehen.
»Irgendwann, und zwar eher früher als später, wäre er verhungert, und das wollte er nicht.«
Der Polizist aus Lübeck, ein reaktivierter Kriminalrat, der den Kopf nicht mehr ganz stillhalten konnte, fragte, nicht böse, nur verwundert: »Warum hätte er verhungern sollen; die Verletzung ist schon anderthalb Jahre alt, und wenn er da nicht verhungert ist, warum dann jetzt noch?«
»Das habe ich auch gedacht«, sagte Hilde Groth, »und manchmal hat er es auch geglaubt, manchmal hat er es gehofft, und manchmal hat er es befürchtet. Aber es war in dem Lazarett ein Arzt, der hat uns die Wahrheit gesagt.«
Der Assistent des Kriminalrats, ein einarmiger junger Mann mit einem kleinen Eisernen Kreuz neben dem Parteiabzeichen, wollte wissen, wer der Arzt gewesen sei, aber Hilde Groth sagte: »Das würde ich Ihnen nicht sagen. Ich könnte mich nicht erinnern. Aber was er gesagt hat, weiß ich: Künstliche Ernährung hilft nicht ewig. Die Tabletten können das nicht ersetzen, was im Mund und in der Speiseröhre mit dem Essen passiert. Von den Schmerzen ganz zu schweigen.«
»Schmerzen?«
»Ja, natürlich Schmerzen, er hat immer Schmerzen gehabt. Sie wissen wohl nicht, was künstliche Ernährung ist? Weil nichts durch die Speiseröhre, also durch den Mund ging, mußte es direkt in den Magen geschüttet werden. Zuerst in einen Trichter, dann durch einen Gummischlauch und dann in den Magen. Wenn man es nicht weiß, denkt man, da werden eben zwei Löcher geschnitten, eins in die Magenwand und eins in das Bauchfell, dann steckt man den Schlauch durch und fertig. Aber das sind dann schon zwei Wunden. Die heilen nicht mit dem Schlauch dazwischen, und das dürfen sie nicht einmal. Wenn sie einem einen Schlauch durch ein Loch in der Bauchwand stecken, und das Loch heilt, dann drückt es den Schlauch zusammen, aber es soll doch Nahrung durch. Deshalb sorgt man, daß es eben nicht heilt; es wird eine künstliche Fistel genannt, wieder etwas Künstliches, und die Schmerzen, die dann kommen, könnte man beinahe künstliche Schmerzen nennen …«
»Halt, Frau Groth«, sagte der ältere Polizist, »nun werden Sie nicht bitter. Das ist ja jetzt vorbei. Und vorerst ist es nicht wichtig, wie der Arzt hieß, aber glauben Sie mir, wenn wir wollen, werden Sie sich an alles erinnern. Also sagen Sie nicht so unsinnige Sachen!«
Der Jüngere nickte scharf. »Unsinnig ist sehr milde formuliert. Die Medizin ist gerade im Krieg sehr vorangekommen; sie kann einem zwar, wie man sieht, noch keine Arme anflicken, aber so eine Speiseröhrengeschichte, kann man das nicht operieren?«
»Doch«, sagte Hilde Groth, »man kann es wohl, aber man kann einem nicht sagen, ob man danach lebt oder leben kann. Ich hab auch geglaubt, die Speiseröhre ist nur so eine Art Schlauch, wo das Essen durchrutscht, aber die muß arbeiten, und bei meinem Mann war sie für immer kaputt, und er hat immer Schmerzen gehabt. Aber ich muß Ihnen sagen, daß es nicht die Schmerzen allein gewesen sind. Der Körper ist so merkwürdig wie ein dressiertes Pferd. Manchmal, wenn sein Durst zu groß war, hat mein Mann den Mund mit Wasser gespült. Aber dann hat der Körper wohl gedacht, jetzt ist es wieder wie früher, und hat zu arbeiten angefangen, all die Drüsen und Muskeln, und dann gab es ein stundenlanges Gewürge. Sie müssen wissen, daß er nicht einmal seinen eigenen Speichel schlucken konnte. – Für einen Menschen, der beim Essen nur denkt: Hauptsache satt!, ist es vielleicht nicht so schlimm, wenn man ihn durch einen Schlauch mit Schleimsuppe vollkippt, aber mein Mann hatte soviel Spaß am Essen. Er hat sich verkrochen, wenn wir gegessen haben, aber vor dem Geruch aus der Küche konnte er sich nicht immer verstecken, und schon der Geruch machte ihn manchmal würgen.«
Der Rat gab seinem schreibenden Assistenten ein Zeichen. »Soweit ist der Vorgang eindeutig: Ständige körperliche und seelische Schmerzen, da hat der Mann schließlich versagt. Aber warum nun gerade gestern. Immerhin ist er gestern sehr hoch ausgezeichnet worden. Schließlich wird das goldene Verwundetenabzeichen in der Regel nur für wiederholte, im Kampf zugezogene Kriegsverletzungen verliehen; Ihr Mann hat es aber für dies eine Mal gekriegt, und das war, wie aus dem Begleitschreiben hervorgeht, eindeutig als Auszeichnung gemeint. Da geht man doch nicht hin und bläst sich den Brägen aus dem … Haben Sie eine Erklärung, Frau Groth?«
»Die hab ich, aber ich weiß nicht, ob ich es Ihnen erzählen soll.«
»Was heißt: soll, Sie müssen, liebe Frau, hier findet eine Untersuchung statt!«
»Da hat auch eine Untersuchung stattgefunden, da bei meinem Mann in Frankreich, aber sie haben ihm trotzdem dieses goldene Abzeichen geschickt.«
»Was heißt: trotzdem?«
»Mein Mann hat bei der Untersuchung gesagt, daß alles seine eigene Schuld war, ein Versehen, für das keiner was konnte, auf keinen Fall aber die Bauern, bei denen er in Quartier war.«
»Das waren doch französische Bauern«, sagte der Assistent.
»Aber Bauern«, sagte Hilde Groth, »mein Mann hat schon in seinem ersten Brief geschrieben, die waren nicht so viel anders als unsere hier. Er konnte die Sprache nicht, und die konnten nicht Deutsch, aber sie sind über ein Jahr gut zurechtgekommen, und warum hätten sie ihm die Lauge hinstellen sollen?«
»Weil es französische Bauern waren und weil sie mit den Partisanen zusammengearbeitet haben, deshalb, Volksgenossin Groth, haben sie dem deutschen Unteroffizier die Weinflasche mit Natronlauge gefüllt; darüber sind wir bestens informiert, und was meinen Sie, was dieses Gesindel im Osten alles mit uns versucht hat!«
Der Kriminalrat stoppte seinen Assistenten mit einer Handbewegung. »Gut, Kramp, wir wollen hier aber mal rausfinden, was der Mann, der Groth, in seinem Kopp gehabt hat, als er gestern … Weiter, Frau Groth, was haben Sie gegen die Untersuchung, die von den Heeresstellen geführt worden ist?«
»Ich weiß nur, was mein Mann darüber gesagt hat.«
»Gut, was hat Ihr Mann darüber gesagt?«
»Er hat erst ein paar Tage im Lazarett gelegen, in Brest, glaube ich. Er sagte, es hat sehr lange gedauert, bis er begriffen hat, was passiert war. Nicht wie es passiert war, das wußte er, aber was – daß er sich nämlich das da drinnen alles kaputt gemacht hatte und daß es mit Salben und Pillen nicht mehr zu heilen war. Wie es passiert ist, darüber hat er nicht nachgedacht, bis die Untersuchung angefangen hat. Zuerst, als sie so merkwürdig gefragt haben, dachte er, es ist wegen Selbstverstümmelung …«
Der Kriminalrat wackelte jetzt deutlich absichtlich mit dem Kopf. »Blühender Blödsinn. Dazu schluckt man nicht so ein Zeug. Die Brüder schießen sich durch ein Kommißbrot ins Bein, die Penner, und denken immer, wir merken es nicht.«
Der Assistent sagte: »Bei uns im Osten hat sich allerdings mal einer die« – er flüsterte seinem Chef das Wort ins Ohr – »abgeschossen, und zu allem Überfluß war er noch aus Castrop-Rauxel!« Er wartete, bis sein Chef den Witz begriffen hatte, und dann lachten sie beide herzlich, und zwischendurch rief der Assistent: »Als wir mit ihm fertig waren, hat er die Dinger auch nicht mehr gebraucht!«
»Nun mal wieder zurück zu dieser Sache hier«, sagte der Kriminalrat. »Das mit der Selbstverstümmelung war also bald erledigt, und dann, was hat Ihr Mann dann gedacht, ich meine, was hatte er dann gegen die Untersuchung?«
»Nein«, sagte Hilde Groth, »ganz erledigt war es wegen der Verstümmelung nicht. Später hat man ihm gesagt, wenn er nicht bestätigt, daß es die Bauern mit Absicht getan haben, kann man auch untersuchen, ob er sich nicht hat vom Wehrdienst drücken wollen, weil er ja auch im Lager gewesen ist, früher.«
»Unsinn, das kann man ihm nicht gesagt haben. Das Lager war erledigt, sonst wäre er nie Unteroffizier geworden. Hat er Ihnen gesagt, welchen Grund man hätte haben können, ihm mit solchem Druck zu kommen?«
»Ja«, sagte Hilde Groth, »sie haben einen Grund gehabt. Es hätte sonst nicht zu ihren Berichten gestimmt. Als mein Mann ins Lazarett gekommen war, hat es in dem Dorf Vergeltungsmaßnahmen gegeben. Es sind welche erschossen worden, und welche sind verschickt worden, zur Arbeit. Aber das hat mein Mann erst gestern durch die Urkunde für das Abzeichen erfahren.«
»Na, liebe Frau«, sagte der Rat und stand auf, »Sie sind wohl doch etwas mitgenommen von der Geschichte und bringen einiges durcheinander. In der Urkunde steht nämlich kein Wort von dem, was Sie da erzählen.« Er nahm das Papier vom Tisch und hielt es ihr unter die Augen.
»Das weiß ich«, sagte sie, »aber mein Mann hat es mir erzählt: Sie haben gesagt, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder er hat es selber getan, dann kommt es vor ein Kriegsgericht, oder französische Banditen haben es getan, dann ist es eine Verwundung, und er kriegt eine Rente und das Abzeichen. Aber als sie ihm das bei der Untersuchung im Lazarett gesagt haben, muß es schon alles vorbei gewesen sein; das hat er erst gestern begriffen. Er hat gesagt, sein Kommandeur hat schon vorher alles mögliche über Banditen nach oben gemeldet, worüber sie immer gelacht haben, weil es bei ihnen keine Banditen gab, und sie haben gesagt, der Kommandant hat Halsschmerzen, und er hat sich das Ritterkreuz auf den Hals legen lassen wollen, zum Kühlen.«
Der Assistent schlug auf den Tisch. »Das ist doch blanke Greuelpropaganda, was Sie hier treiben!«
»Ich treibe gar nichts«, sagte Hilde Groth. »Sie haben mich gefragt, was mein Mann gesagt hat, und das hat er gesagt.«
»Ja, Frau Groth«, sagte der Rat, »das ist schon richtig, aber ich warne Sie auch: Erzählen Sie niemandem diesen Unsinn weiter, das bringt Sie ins Zuchthaus!«
»Mindestens«, fügte der Assistent hinzu, und sein Chef nickte. »Nun wollen wir mal sehen, was wir jetzt haben«, sagte er, »also, Frau Groth, Ihr Mann hatte gestern die, nun, die Vorstellung, mit der Verleihung des goldenen Verwundetenabzeichens habe es eine … eine nicht ganz geheure Bewandtnis. Er behauptete Ihnen gegenüber, man habe ihm die hohe Auszeichnung schon früher angetragen, vorausgesetzt, er bezeugte, daß er das Opfer eines Partisanenanschlags geworden sei, und er behauptete weiter, in Wahrheit habe es in seinem Gebiet da in Frankreich keine Partisanen gegeben, und einschlägige Berichte seien von seinem Kommandeur, nun, also ein wenig aus der Luft gegriffen gewesen. Wenn das aber so lange her ist, dann begreife ich nicht ganz, wieso er dann gestern da in den Wald geht und …«
»Aber doch, Herr Rat«, sagte Hilde Groth, »er hat doch in der Zwischenzeit immer geglaubt, es wäre alles erledigt. Im Lazarett haben sie auch manches geflüstert, aber er hat es nicht geglaubt, bis dann das goldene Ding kam. Das war doch ein Zeichen, daß es nun doch so gekommen ist, wie der Kommandant es gewollt hat, und da hat er, mein Mann, gesehen, daß er schuld war, als man die Franzosen und seine Bauern, bei denen er gewohnt hat, umgebracht hat. Und das hat er wohl nicht ausgehalten.«
»Was denn nun?« schrie der Assistent. »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Rat, aber zuerst erzählt uns diese Frau, ihr Mann hat sich wegen seiner kaputten Innereien umgebracht, und nun müssen wir uns anhören, daß ihm das Herz gebrochen ist. Da bin ich gespannt, wie der Galgen in diese Geschichte paßt.«
»Ja, Frau Groth, die Sache mit dem Tatort, können Sie uns die auch erklären?«
»Was kann ich schon erklären? Ich kann nur sagen, was gewesen ist. Mein Mann hat gesagt, daß man niemanden aufhängen darf, weil er etwas mit einem Mädchen hatte. Aber das war noch, bevor er das Abzeichen gekriegt hat. Als sie hier den Polen aufgehängt haben, hat er noch nicht gewußt, daß so etwas auch in Frankreich gewesen ist, und zwar seinetwegen.«
»Frau Groth«, sagte der Rat, »da bringen Sie schon wieder etwas durcheinander. Die Franzosen, von denen Ihr Mann seine eigenen Vorstellungen gehabt hat, und der Pole hier haben nichts miteinander zu tun, und demnach hatte Ihr Mann überhaupt nichts mit dem Polen zu tun, und so muß es doch wie blanker Wahnwitz wirken, daß er sich ausgerechnet unter dem Galgen, Sie wissen schon.«
»Das ist doch nun gleich, wo«, sagte Hilde Groth.
Dieser stille Satz brachte den Assistenten mehr auf als alles, was bis dahin gesagt worden war. Man merkte ihm die Mühe an, mit der er seine Stimme in normaler Tonlage hielt, aber gerade dadurch wurde seine Wut besonders deutlich. »Was gleich ist und was nicht, bestimmen wir. Sie scheinen nicht begriffen zu haben, was hier passiert ist!«
»Mein Mann ist tot«, sagte Hilde Groth.
Der Kriminalrat sprach fast behutsam: »Nicht einfach tot, Frau Groth. Unsere Anwesenheit zeigt, daß er nicht einfach tot ist. Wenn er zum Beispiel gefallen wäre, dann wären wir nicht hier. Sehen Sie doch einmal den Unterschied!«
»Für mich ist er nicht so groß wie für Sie, Herr Rat. Ich war achtzehn Jahre mit Wilhelm Groth verheiratet, und nun ist er tot. Das ist der Unterschied, meiner.«
»Schon, liebe Frau, aber wir haben andere Dinge zu untersuchen. Für uns ist das kein beliebiger Sterbefall. Selbstmord ist in den Augen des Staates ein Verbrechen, wenn auch nicht im juristischen Sinne. Der Staat mag jedenfalls keinen Selbstmord, weil der ein Hinweis auf Unordnung ist. Erst recht im Kriege und erst recht in einem so gewaltigen Kampf, wie wir ihn führen. Und das mit Ihrem Mann ist nicht einmal ein beliebiger Selbstmord. Ein deutscher Unteroffizier erschießt sich unter dem Galgen, an dem ein polnischer Rassenschänder sein Verbrechen gebüßt hat; das ist politisch, liebe Frau.«
»Mein Mann war sein Leben lang nicht politisch!«
»Wegen was war denn der da in Dachau?« fragte der Assistent. »Und dies Gequatsche über die Banditen in Frankreich und jetzt dieses Ding mit dem polnischen Hurenbock, was war denn das? Nicht politisch? Für wie blöde halten Sie uns eigentlich?«
»Aber er hat den Polen doch gar nicht gekannt!«
»Eben! Wenn er ihn gekannt hätte, dann wär’s schon schlimm genug – daß er diese französischen Mistbauern in Schutz genommen hat, weil er sie gekannt hat, das war auch schon schlimm genug – aber den Ostarbeiter hat er nicht einmal gekannt und schießt sich dennoch in den Kopf unter dessen noch warmem Strick; das war doch eine klare politische Demonstration, und nun erzählen Sie uns hier nichts, Sie!«
»Moment, Kramp«, sagte der Rat, »natürlich haben Sie recht, aber lassen Sie uns mal überlegen: Wenn der Mann das als Demonstration aufgefaßt wissen wollte, wozu sollte sie dann dienen?«
»Sonnenklar, Herr Rat: Fanal, Beispiel, Aufruf, Zersetzung der Moral, das Ding ist überdeutlich!«
»Richtig, Kramp, absolut. Nun aber weiter: Wenn diese Motive des Mannes bekannt werden, dann ist sein Plan doch aufgegangen, oder? Dann ist er da, wo er mit seiner Demonstration hinwollte, oder nicht? Also?«
»Ich weiß nicht recht, Herr Rat.«
»Aber ich, Kramp, aber ich: Deckel drauf! – Frau Groth, hören Sie gut zu: Ihr Mann ist vor Schmerzen irrsinnig geworden. Bedauerlich für Sie, aber das werden die Leute verstehen. So wird auch verständlich, warum er sich ausgerechnet da bei dem Polen … So etwas macht man nicht mit klarem Verstand …«
»Aber mein Mann hat gesagt: Ebensogut kann man einen aufhängen, weil er gegessen hat.«
»Das hat er gesagt?«
»Ja. Wenn einer vierundzwanzig ist, muß er zu einem Mädchen, wie einer essen muß. Und wenn einer nicht zu einem Mädchen kann, weil Krieg ist, und wenn einer nicht mehr essen kann, weil Krieg ist, dann stellt sich heraus, was der Krieg ist.«
»Nicht politisch, was«, sagte der Assistent, »überhaupt nicht politisch – und so was kriegt auch noch das goldene Verwundetenabzeichen. Ich finde, Herr Rat, das müßten wir einziehen, das kann doch nicht in diesem Haus bleiben!«
»Es ist nicht mehr da«, sagte Hilde Groth.
»Sondern?«
»Eine Taube fliegt damit rum.«
Das Kopfzittern des Rates wurde außerordentlich, und die Hand des Assistenten verkrampfte sich in seinen leeren Ärmel.
»Langsam jetzt, Frau Groth … eine Taube?«
»Mein Mann macht manchmal solche Sachen.«
»Machte«, sagte der Assistent.
»Er hat immer Witze gemacht.«
»Dann erzählen Sie uns diesen Witz mit der Taube.«
»Er hat eine von den Danziger Hochfliegern aus dem Schlag geholt und hat ihr das Abzeichen umgebunden und hat sie hier auf das Fensterbrett gesetzt. Die Taube hat sich erst geschüttelt, aber dann ist sie losgeflogen, und er hat gesagt, im ersten Weltkrieg wäre sie nicht so leicht damit hochgekommen, aber nun wäre es nur noch Blech.«
»Völlig unpolitischer Witz«, sagte der Assistent, »und Sie fanden das wohl sehr ulkig?«
»Ich finde nichts mehr ulkig«, sagte Hilde Groth.
»Dazu haben Sie auch keinen Anlaß, liebe Frau! Schreiben Sie, Kramp: Mehrere Anzeichen deuteten schon vor der Tat darauf hin, daß der Groth aus der Balance war, in Klammern: Hat Taube mit eben verliehenem goldenem Verwundetenabzeichen versehen. Den Rest machen wir im Amt.«
»Da wäre noch die Frage, Herr Rat, wieso der Mann sein Gewehr hatte.«
»Klären wir auch später. Das Wichtigste hätten wir nun: Eindeutig geistige Umnachtung. Und daß Sie es wissen, Frau Groth, auch für Sie gilt das, und wehe, Sie erzählen den Leuten etwas anderes. Wenn Sie gefragt werden: Er ist vor Schmerzen durchgedreht, die alte Wunde, französische Banditen, klar, und nichts anderes!«
»Und der Pole? Was soll sie über den Polacken sagen?«
»Das ist auch klar: Unsinniger Zufall. Blut zieht Blut an, besonders, wenn einer seiner Sinne nicht mehr mächtig ist. – Daß wir uns recht verstehen, Frau Groth: Sie haben Glück, so. Sie sind auf diese Weise eine Kriegerwitwe. Man wird Ihnen sogar die Rente lassen – das heißt immer, wenn Sie nicht das dumme Gerede Ihres Mannes fortsetzen. Tun Sie es doch, dann kommen wir wieder, aber dann Ihretwegen. Ist das alles klar?«
»Ja, Herr Rat, es ist alles klar.«
»Gut, und wenn Sie können, fangen Sie die Taube ein, das geht nicht, daß die da so rumfliegt.«
»Ich sag es heute abend meinem Jungen. Ich sag ihm alles.«
Aber wie, wie hätte sie ihrem Jungen nun auch dies noch klarmachen sollen? Was zu erklären gewesen war, hatte der Mann übernommen; das war so eine Abrede zwischen ihnen gewesen, eine jener stillen Konventionen, die Eheleute miteinander schließen, wenn sie ahnen, was gut für jeden und für die Ehe ist. Wilhelm konnte das eben besser. Er sagte nicht, was sie gesagt hätte: »Du mußt die Frau Pastor grüßen. Es gehört sich so, und anders gibt es Ärger. Die Leute reden so schon, und nun benimm dich gefälligst!«
Wilhelm sagte es anders: »Der Himmel stürzt nicht ein, wenn du die Pastersche nicht grüßt, und wir kriegen keinen Extraplatz da oben, wenn du es tust. Allerdings, ein Held wirst du dadurch auch nicht, daß du nicht guten Tag sagst. Das einzige, was passiert, ist, daß sie uns scheel anguckt und scheel über uns spricht. Von der Sorte haben wir aber schon genug, und es wäre eine weniger, wenn du den Mund aufmachtest. Mußt aber nicht. Wo so viele auf uns rumhacken, werden wir am Ende damit auch noch fertig. Kannst dir das ja noch mal überlegen.«
Wilhelm sagte: »Das Radio hört sich wie Krieg an. Wenn, dann bin ich morgen Soldat. Zum Glück bist du ja inzwischen ein Ende länger als damals, als ich die paar Jahre weg war. Wenn du was von dem übernehmen kannst, was sonst ich gemacht hab, freut sich deine Mutter. Ich aber auch. Das ist schon ganz wichtig, denn im Krieg wird alles mögliche knapp: die Männer, die freie Zeit, die Butter und auch die Freude. Da hilft dann jedes bißchen. Ach, und hör mal, und steck das für dich weg: Ich bin nicht so scharf darauf, Soldat zu werden. Das ist so eine Art Menschenfresserei. Dein Onkel mag das, aber der war schon immer ein bißchen, ein bißchen jünger als ich. Vielleicht wird der mein Kompaniespieß; das wäre gut, dann könnte er mich endlich anbrüllen, und ich würde antworten: Jawoll, Hermann, jawoll, Herr Hauptfeldwebel, und denken würde ich: Na warte, wenn der Krieg vorbei ist, und dann komm du mir mal nach Hause!«
Wilhelm konnte mit David umgehen, aber jetzt war Wilhelm nicht mehr, und was mit ihm geschehen war, hätte vielleicht nicht einmal er dem Jungen erklären können.
Aber David war kein Junge mehr. Und er brauchte eine Erklärung in Worten nicht mehr. Dieser Tod war eine Summe, und wenn er die einzelnen Posten nicht immer erkannt hatte, als sie anfielen, jetzt, in der Summe sah er sie wieder. In der Stadt Ratzeburg hatte man keinen Vater im KZ gehabt, ohne ihn immer wieder dort gehabt zu haben. Die Gelegenheiten der Erinnerung waren klein und groß: Bist du nicht der Sohn von dem? Feindliche, doch manchmal auch freundlich, ängstlich-freundlich gemeinte Frage. Ist das nicht der Sohn von dem? Und weil man der Sohn von dem war, durfte man in der öffentlichen Weihnachtsfeier leider nicht »Vom Himmel in die tiefsten Klüfte ein milder Stern herniederlacht« aufsagen, auch wenn niemand sonst in der Schule es besser konnte; und weil man der Sohn von dem war, kam man weder aufs Gymnasium noch auf die Mittelschule, obwohl es die Zeugnisse einschließlich der Zensuren selbst des Lehrers Kasten beinahe dringlich empfahlen; und weil man der Sohn von Wilhelm Groth war, sah man seinen Vater nie unter den Fahnen am Tag der nationalen Arbeit oder am Tag der nationalen Erhebung, und an Führers Geburtstag sah man zwar auch am Schlafstubenfenster der Groths die Fahne, aber sie war nur vergessen und eines anderen Geburtstages wegen aufgesteckt worden, am neunzehnten April, Mutterns Ehrentag, und als David elf Jahre alt war, erklärte ihm sein Vater diese Vergeßlichkeit: »Deine Mutter, das ist ein Grund zum Feiern. Mit dem Adolf stehe ich nicht so gut. Aber wenn am zwanzigsten hier keine Fahne hängt, dann sieht man das in dieser Stadt, und dann haben wir den ganzen Tag Besuch von Leuten, die wir alle nicht mögen. Und du weißt ja, was wir zu Hause denken, tun und sagen, das ist unsere Sache, und wenn dich einer fragt, dann weißt du nichts anderes, als daß bei uns alles in Ordnung ist. Glaub mir, Junge, bei uns ist alles ganz richtig.«
Diese Abmachung galt. Sie war ohne aufwendige Gesten vollzogen worden und hatte keiner dringlichen Beschwörung bedurft; ihr fehlte das Pathos der Angst ebenso wie das des vorsätzlichen Widerstandes; da war kein Hauch von Rütli-Schwur und auch kein Katakomben-Schauder, und schon ein Handschlag zwischen Vater und Sohn hätte sich wie ein Einbruch von italienischer Oper ausgenommen. Aber es war eine Abmachung, und sie galt, und fortan war alles so in Ordnung, wie die Groths es verstanden. Das wäre ohne die Liebe, die Wilhelm Groth und Hilde Groth und David Groth füreinander empfanden, nicht möglich gewesen, aber da es diese Liebe gab, war alles möglich, fast alles, außer großen Worten. Den Gipfel entfesselter Beredsamkeit hatte sein Vater, so schien es David, bei seiner ersten Begegnung mit Hilde Jensen erreicht und war danach niemals mehr auch nur annähernd wieder in solche Höhen geraten. Damals, auf einem Feuerwehrball in Bergedorf bei Hamburg, hatte der ledige Chauffeur Wilhelm Groth zu dem ledigen Dienstmädchen Hilde Jensen gesagt, und zwar kaum daß er sie gesehen hatte, und zwar so, daß es wie Annäherungsversuch, Liebeserklärung, Heiratsantrag und Treueschwur geklungen hatte, was alles es dann auch gewesen war: »O Fräulein, sind Sie aber schön!« Hilde Groth erzählte ihrem Sohn das am Weihnachtsabend in Wilhelm Groths erstem Dachau-Winter, und sie war danach still, und sie weinte erst, als David sie lange betrachtet und dann gesagt hatte: »Das stimmt auch.«
Da weinte sie, und dann lachte sie über diesen gerissenen Kerl von Mann, der einem wildfremden Mädchen mit »Oh!« gekommen war und mit so ungehemmter Bewunderung, daß das Mädchen ihm hatte glauben dürfen, glauben müssen, glauben wollen.
»Konnte ich auch«, sagte sie zu ihrem Jungen, »und du kannst es auch. Was dein Vater sagt, das meint er. Manchmal sagt er es so um die Ecke rum, aber das meint er nicht falsch, da hat er nur seinen Spaß, wenn man dumm guckt und ihn erst versteht, wenn man selber um die Ecke denkt. Den Spaß können wir ihm beide lassen.« David lernte mit dem Um-die-Ecke-Denken bald auch selber, mit seinem Vater um die Ecke zu reden, und er fand heraus, daß diese Redeart nicht nur Spaß machte, sondern auch Schutz bot, Deckung gegen andere und vor sich selber.
Worte waren, wenn sie ehrlich waren, Teile von einem selber, und je mehr Worte man von sich gab, um so mehr gab man sich selber her; und deshalb hielt sich David an seinen Vater, hielt seine Ohs für die wirklich großen Momente zurück, die gesprochenen, die artikulierten, die lautgewordenen Ohs jedenfalls, und versuchte es sonst wie Wilhelm Groth mit Sorgfalt und Sparsamkeit im Ausdruck, gab nach Möglichkeit keinen Buchstaben von sich, der nicht durch die Filter hellwacher Kritik gelaufen wäre, und baute somit zugleich tiefstes Mißtrauen in sich auf gegenüber allem Großton, mit dem man ihn zu etwas veranlassen oder von etwas zurückhalten wollte.
Wenn er sich daran gewöhnte, seine Gefühle und Meinungen in Kürzel und Chiffren zu fassen, so entwickelten sich Gehör und Verstand im selben Zuge zu Horchposten und Dechiffrierer, und wo es geheime Signale gab, empfing er sie, und wo es falsche Töne gab, fing er sie, und er lernte, daß Pausen mehr Mitteilung enthalten konnten als ein klangvoller Satz, und deshalb war ihm die Feststellung seines Vaters, bei den Groths sei alles in Ordnung, weit eher eine Abmachung denn nur Beschwichtigung, und so grausig leer die Welt auch war, als Wilhelm Groth sie verlassen hatte, so war sie doch durch den Tod nicht anders geworden; sie war in der alten Ordnung, und das hieß vor allem: Wenn man nicht achtgab, wurde man von ihr erschlagen.
Wilhelm Groth war sehr allein sehr öffentlich gestorben, aber er hatte seinen Sohn nicht in Rätseln zurückgelassen. Er hatte ihm gesagt, was er wußte, und er hatte es ihm so gesagt, wie er es konnte, diesmal, das einzige Mal vielleicht, ohne die vorsichtigen und listigen Bögen, dieses eine Mal ohne behutsamen Spott, dieses Mal mit unverdeckter Liebe und also ohne Rücksicht.
Seine Kraft reichte nicht mehr weit. Zwei Witze am Tag und ruhiges Schweigen dort, wo er hätte schreien mögen und schreien müssen, wenn es nach den Schmerzen gegangen wäre, das brachte er gerade noch zuwege, aber niemand lebte nur durch seinen Willen, und wer für die Unterdrückung eines einzigen Schreis soviel Energie verbrannte, wie er früher für einen überlangen Tag in einem bewachten Steinbruch benötigt hatte, der kam bald an ein Ende. Das wußte Wilhelm Groth, und er sagte es David.
»Wir müssen nun mal darüber reden: Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht bis in die letzte Ecke, ob es richtig ist, so mit dir zu sprechen, aber ich glaube, es wäre feige und ungerecht, dir nicht zu sagen, was für dich wichtig ist. Nun bin ich kein so großer Apostel für Tapferkeit und Gerechtigkeit; wenn man ohne sie einigermaßen leben könnte, würde ich sagen: Laß sie sausen – was hilft die Gerechtigkeit, wenn du hungerst, und was hilft dir Heldenmut, wenn du sterben mußt; wer ins Bilderbuch kommen will, mag sich damit befassen, wir sind dafür nicht zuständig. Nur meine ich jetzt, wir sind dafür zuständig; es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als gerecht und nicht feige zu sein, anders geht es uns an den Kragen. Meine Geschichte scheint das Gegenteil zu beweisen, so wie es mich jetzt am Kragen hat. Ich bin nicht feige gewesen, und wenn manche Leute auch gemeint haben, ich hätte eine ausgemachte Dummheit begangen, als ich für Herrn Blumenthal gutsagte, so haben mir doch zumindest ebensoviel Leute gezeigt, daß sie es für anständig hielten; in letzter Zeit jedenfalls, jetzt, wo alle sehen, wohin es geht, höre ich das öfter oder merke es doch wenigstens. Und da könnte man nun sagen: Na und, was hast du davon gehabt? Ins Lager haben sie dich gesperrt, wie einen Hund geprügelt haben sie dich – sie haben es wirklich, David, wird Zeit, daß ich es dir sage –, aus deiner Stellung bist du geflogen, aus deinen Träumen, in denen dein Junge zu Wissen und zu Würden kam, wurde nichts, das Gewehr und die Uniform der Schweinebande, die an alledem schuld war, hast du dennoch tragen müssen, und nicht lange mehr, dann bist du hin, bist ganz hin, und es macht dann überhaupt keinen Unterschied, ob du Heil geschrien hast oder gutgesagt für Herrn Blumenthal, ob du SA warst oder Schutzhäftling 67618, ob feige oder mutig, anständig oder nicht, unter der Erde ist da kein Unterschied.
So sieht es aus, David, aber es ist nicht so. So konnte es nur sein, weil ich allein war, in dieser Stadt jedenfalls fast allein. Was aber wäre gewesen, wenn ich nicht allein gewesen wäre, nicht hier und nicht im ganzen Land? Wenn man weiß, was wirklich geschehen ist, kriegt man so ein Bild nur schwer vor die Augen, und dabei ist es gar nicht unvorstellbar. Ja, die Leute haben sich von klingenden Reden etwas vormachen lassen und haben einen Kerl namens Hitler gewählt, das ist schlimm, aber noch normal. Dann aber, und zwar in einer Stadt, wo jeder weiß, was sein Nachbar zum Abendbrot hat, ertränkt ein Vieh in SA-Uniform einen älteren Mann in einem Bach, und ein Gericht sagt, der Ermordete war eigentlich der Mörder, und weil ein Gericht nur auf Grund von Beweisen urteilt, nennt es den Beweis: Der ertränkte eigentliche Mörder war ein Jude. Ist es wirklich so verrückt, sich vorzustellen, jetzt, wenigstens jetzt hätten die Leute kommen müssen und sagen: Halt, was macht ihr da, jedermann am Ort, jeder von uns, weiß, wie es gewesen ist, und nun erzählt nicht solche Sachen, macht eure Politik, davon verstehen wir nichts, aber macht kein Urteil von dieser Art, es nimmt uns allen Glauben.
Es ist nicht so gekommen, Junge, und was ich mir vorstelle, ist nur ein Traum, aber selbst in diesem Traum erwarte ich nichts Unmögliches von meinen Mitbürgern; ich sehe sie nicht mit Sensen und Dreschflegeln bewaffnet vor dem Amtsgericht, ich lasse sie nicht Barrikaden bauen des Herrn Blumenthal wegen, ich träume nur Naheliegendes; ich erträume nur Fragen und Bedenken, ich lasse niemanden die Fäuste schütteln, nur die Köpfe, ich sinne niemandem Proteste an, Bitten genügen mir, ich träume ganz bescheiden. Ich weiß, selbst zu dem wenigen, von dem ich meine, es wäre möglich gewesen, hätte eine Art Mut gehört, so wie die Dinge lagen, aber weil damals sogar dies bißchen Mut nicht vorhanden war, liegen heute die Dinge so, daß niemand seines Lebens mehr sicher ist, mag er so feige sein wie immer nur verlangt.
Was mich quälte, was mich immer noch quält, ist, ob ich dir sagen soll, was ich weiß. Es gilt als ein Verbrechen, und man würde mir den Kopf abschlagen, aber da müßten sie sich beeilen, und darum geht es mir nicht. Aber was ist mit dir? Die Wahrheit ist eine Last, und ich bürde sie dir auf, wenn ich erzähle. Von da an bist du es, den sie jagen müssen, und nach deinem Alter fragen sie nicht. Sie haben dich so schon gejagt, nur weil du mein Sohn warst und deines Namens wegen, aber dann erst würde es Ernst. Was soll ich tun?«
»Ich komme schon zurecht«, sagte David.
Und er kam zurecht. Vierzehn Tage nach dem Tod seines Vaters ging er nach Berlin. Sein Meister, bei dem er zwei Lehrjahre verbracht hatte, half ihm dabei. Er regelte den Wechsel mit der Handwerkskammer, er brachte sogar ein Schreiben vom Kreisleiter bei, dem er die Jagdflinten pflegte, er vermittelte David zu einem alten Kollegen in Lichtenberg, und der nahm David ohne allzu große Neugier auf.
Hilde Groth blieb in Ratzeburg, aber sie versuchte nicht, David zu halten. Sie hatte zwar Angst um den Jungen in einer brennenden Stadt, doch sie verstand auch, daß er fort wollte aus einer anderen, in der Verständnis oder Mitgefühl der Nachbarn allenfalls ausreichten, einen Gruß lang den geilen Schrecken in den Augen zu verschleiern.
Davids neuer Lehrherr war ein alter Mann, der viel zu listig war, um sich sehr auf das gefährliche Geschäft des Fragens einzulassen.
»Haste Stunk gehabt?« war alles an Erkundigung, und als David genickt hatte, sagte er: »Auch gut – und was kannste?«
Er entpuppte sich bald als einer jener im allgemeinen unauffälligen, genügsamen und friedfertigen Menschen, die gleichwohl auf einem bestimmten Feld zu den intolerantesten Fanatikern werden können. Als Mensch – um diese Unterscheidung zu benutzen – war der Büchsenmachermeister Treder ein Lamm, als Büchsenmachermeister war er ein reißender Wolf.
David gelang es in dem einen Jahr der ihm verbliebenen Lehrzeit nicht, einen auch nur annähernd genauen Überblick über die ungeheuer vielköpfige Verwandtschaft des Meisters zu gewinnen; ihm blieb nur der Eindruck eines nicht abreißenden Stromes von Söhnen, Töchtern, Tanten, Enkeln, Cousins, Nichten und Schwiegertöchtern, der durch Werkstatt und Laden spülte und immer sogleich davontrug, was Treder dank seiner glänzenden Geschäfte mit Stabsfourieren, Kantinenchefs und Materialverwaltern herangeschafft hatte.
Es schien, als ob der Krieg den Kriegern nicht blutig genug wäre oder als ob sie fürchteten, in den Schießpausen das Zielen zu verlernen – kaum hatten die Nachtjäger vom Luftverteidigungsring einen freien Tag, kaum waren Partisanenjäger aus dem Osten zu schneller Rearmierung in die Hauptstadt gekommen, kaum hatte in Potsdam ein Kurzlehrgang für Panzerjäger aus Italien begonnen, und schon erschienen die Kämpfer selbst oder deren Abgesandte, uniformierte Beamte oder gerissene Druckposteninhaber von der Butterseite der Armee, um ihre Flinten für einen Pirschgang durch die Wälder um Michendorf und Buckow überholen zu lassen. Manchmal liehen sie auch ein Stück aus Treders Arsenal, aber meistens brachten sie ballistisches Beutegut, das für die Pirsch auf Hahn und Sau justiert oder mit neuem Zubehör versehen werden mußte. Der Meister Treder war ein König des Schießzeugs; zwar gab es in jeder Kaserne eine Waffenkammer, und jeder Stab hatte seinen Waffenmeister, aber in diesen Bereichen beschränkten sich die Kenntnisse meist auf einfache Feinmechanik, und von der bis zur Büchsenmacherkunst war es – jedenfalls laut Treder – so weit wie vom Einbaum bis zum U-Boot des Kapitänleutnants Prien.
David wußte dies alles nicht, als er dem Meister zum erstenmal gegenüberstand, und so wurde ihm himmelangst, als ihn der alte Mann in ein unmäßiges Examen nahm und ihm Auskünfte abverlangte, die er nie hätte geben können, wäre er lediglich mit dem in zwei Ratzeburger Lehrjahren erworbenen Wissen ausgestattet und nicht zufällig ein Intimkenner der Militär- und Schießhistorie gewesen. Aber Treder schien es für selbstverständlich zu halten, daß sein neuer Lehrling zu sagen wußte, wann zylindro-ogivale Geschosse die schlichten Kugeln abgelöst hatten oder worin die Verdienste der Herren Büchsenmacher Werndl, Wänzl, Snider, Berdan, Arasaka und Vetterli zu sehen waren oder was es auf sich hatte mit Liderung, Aptierung, Mundring, Quadrantvisier und der Modifikation des Lebelgewehres im Jahre achtzehndreiundneunzig. Er führte David in seine Waffenkammer, eine Art privates Militärmuseum, und ließ ihn nach je einem kurzen Blick auf die unförmigen, aber wohlgepflegten Schießmaschinen an der Wand Schloßarten bestimmen und ihre Prinzipien erklären, Luntenschloß, Radschloß, Steinschloß, Perkussionsschloß, Mauserschloß, und er bestand auf exakten Angaben über Kaliber und Bohrungsarten und erkundigte sich nach dem Geschoßgewicht des japanischen Infanteriegewehrs von 1905, als handle es sich um die Uhrzeit. Und als David einmal mehr als fünf Sekunden benötigte, bis ihm die Anfangsgeschwindigkeit des Mannlicher-Stutzens einfiel, sagte Treder: »Womit haste denn in deinem Ratzekaff zu tun gehabt – etwa mit Nähmaschinen?« Natürlich hatte David weit mehr mit Nähmaschinen und gar mit Fahrradfreiläufen zu tun gehabt, und das ausgefallenste Schießeisen, das er in der kleinen Werkstatt in Händen gehalten hatte, war ein Carcano-Karabiner, Italien-Andenken eines Ratzeburger Hauptmanns, gewesen, aber sein erster Meister hatte ihm eingeschärft, vor Treder nur ja nichts von Singer-Nähmaschinen und Torpedo-Freiläufen verlauten zu lassen, sonst werde nichts aus dem Berliner Lehrjahr. So erklärte David denn mit sichtbarer Entrüstung, wer sich auf Nähmaschinen einlasse, der könne sich auch gleich auf Fahrradflicken verlegen.
»Das walte der Reichsmarschall!« sagte Treder, und es schien, als habe diese kleine und naheliegende Heuchelei seines künftigen Lehrlings ihn mehr von dessen Eignung überzeugt als das Ergebnis der anspruchsvollen Prüfung.
Das Berliner Jahr entdeckte David die Welt.
Bis dahin war der Krieg nur ein schlingendes Untier gewesen; er hatte immer gefordert, bekommen und genommen; er hatte hinter jedem verweigerten Wunsch gestanden; er war die Erklärung gewesen, warum es dieses nicht mehr gab und jenes nicht sein durfte; er war der Grund von aller Not.
Beim Büchsenmachermeister Treder lernte David um. Not war ein Handelsfaktor, Mangel legte Schätze frei, und aus jähem Tod sprang manchmal jäher Reichtum.
Da kam die Witwe des Bierbrauers aus Weißensee in die Werkstatt und sagte: »Mein Mann ist gefallen.«
Da sagte der Meister Treder: »Herzliches Beileid – ja, wir zahlen alle unseren Zoll.«
Da sagte die Witwe: »Danke, da ist nun die Waffensammlung, was soll die jetzt?«
Da sagte der Meister Treder: »Schlimm, ich kann sie mir aber mal ansehen.«
Dann fuhr der Meister mit einem geliehenen Wehrmachtslaster nach Weißensee, und zu David sagte er: »Ich will da keinen gierigen Glanz in deinen Augen sehen und keine Jubelschreie hören – das sind alles völlig veraltete und leider total unbrauchbare Schießgewehre, das ist Schrott, verstanden, und eigentlich handeln wir nicht mit Schrott, aber man ist kein Unmensch. Du bist ein blöder Lehrling, ist das klar, du kennst dich mehr mit Nähmaschinen aus, und wehe, du guckst eine Lefaucheux-Doppelflinte nicht so blöde an, als wäre es eine alte Fahrradpumpe! Nachher in der Werkstatt kannste wieder aufwachen, aber jetzt weißte nischt und bist blöde, anders gnade dir Gott und die Deutsche Arbeitsfront!«
Wenn die Witwe nicht so sehr auf schnelles Geld versessen und vor den anreisenden Miterben in Zeitnot gewesen wäre, hätte Davids Gehabe sie stutzig machen müssen. Sie hätte bemerken können, daß etwas nicht stimmte, wenn der junge Mann, der zu geschickt und beiläufig mit komplizierten Schlössern und Visieren umging, um noch ein grasgrüner Stift zu sein, und zu mühelos die waffentechnischen Angaben des Meisters auf einem Block notierte, um nicht sehr genau zu wissen, wovon jeweils die Rede war – sie hätte den Widerspruch erkennen müssen zwischen dieser aus Erfahrung gewonnenen Gewandtheit und der fast angestrengt schläfrig wirkenden Teilnahmslosigkeit in dem eigentlich intelligenten Gesicht des Käufergehilfen, und wenigstens zu denken hätte es ihr geben sollen, daß der Bursche, wenn er nun schon einmal etwas sagte, nur unbeholfen nörgelte, hier etwas Braunes in einem Lauf meldete und da ein kaputtes Ding, als stünden ihm selbst so primitive Bezeichnungen wie Rost oder Abzugsfeder nicht zur Verfügung.
Aber sie hatte es eilig, und auch der Meister hatte es eilig, als erst einmal der Wagen beladen war, und Davids Lohn für unterdrücktes Wissen war ein Fünfzigmarkschein, und das merkte er sich.
Der Tod des Bierbrauers machte viele glücklich. Zumindest ließ es Treder keinem der uniformierten Käufer gegenüber, denen er Stücke der so günstig erworbenen Sammlung zukommen ließ, an der Aufforderung fehlen, sie möchten sich der Neuerwerbung wegen glücklich preisen, ihr Glück sei ihm der schönste Dank, und er brauchte ihnen schon nicht mehr zu sagen, daß er über diesen Lohn hinaus kleine Zugaben aus den gemeinhin unzugänglichen Schatzkammern einer in die Welt verzweigten Armee zu schätzen wisse.
In Ratzeburg hatte David, und nicht erst im Kriege, gelernt, selbst mit Brot und Margarine sparsam umzugehen; hier nun, beim Büchsenmachermeister Treder in Lichtenberg, machte er Bekanntschaft mit der Fülle. Das heißt, er nahm teil an ihr, er kam in ihren Genuß, und was er dafür als Leistung aufbringen mußte, war nur eine andere Art von Genuß. Denn wenn ihm der Meister seine Rolle beim Einkauf auf die eines blöden Nörglers reduziert hatte, so wies er ihm beim Verkauf den Part eines ebenso kundigen wie begeisterten Ballistomanen zu, der bei jedem Stück technisch und historisch präzis begründeten Lobpreis von sich gab und nur dann entsetzt verstummte, wenn er begriff, was er bis dahin nicht bemerkt zu haben schien: daß sein Chef und Meister willens war, die so gefeierte Rarität zu veräußern.
Die theatralische Leistung von Lehrherr und Lehrling war beachtlich, und später erwies es sich sogar, daß eine dieser künstlerischen Darbietungen womöglich der Grund dafür gewesen war, daß David länger am Leben blieb als viele seiner Jahrgangsgenossen. Denn es kam dieser Fliegergeneral und wollte eine möglichst alte Flinte. So drückte er sich aus: »Wie ist es, Treder, ich brauche eine möglichst alte Flinte.«
»Jawohl, Herr General, was zum Hinhängen oder was zum Schießen?«
»Beides, Mensch, ein Ding, das die Wand putzt, aber im Einsatz auch mal ’ne Sau umhaut, und möglichst wat von den alten Germanen!«
»Ja, wissen Sie, Herr General, bei den Germanen, da hatten wir ja leider das Pulver noch nicht erfunden.«
»Aber heute, was, heute, wollen Sie doch sagen, heute haben wir das Pulver erfunden, Treder, alter Iltis, ich verstehe die Anspielung, aber nur abgewartet, die Lufthoheit, die holen wir uns wieder. Nun los, zeigen Sie mal so ein Donnerrohr, der Chef macht eine historische Jagd, verkleiden muß ick mir ooch noch, aber vor allem brauche ich eine antike Knallbüchse.«
Der Meister rief nach Daffi – den Namen hatte er David angehängt, weil ihn der andere zuviel Erklärungen gekostet hätte –, und David schleppte in wohlbedachter Reihenfolge altes Schießzeug heran, aber vor den Arkebusen und Hakenbüchsen schien es dem General doch zu grauen.
»Ich will keine Posaune, Mensch, ich will ein Gewehr, und was soll denn nu das Katapult?«
»Das ist eine Stützgabel«, sagte David, »diese Waffe wiegt ihre vierzig Pfund. Wenn Sie Pulver aufschütten, haben Sie nur eine Hand frei, und damit könnten, glaub ich, selbst Sie diese Kanone nicht halten, Herr General.«
»Selbst ich nicht, was, alte Schmusbacke? Habt ihr nicht ’ne Idee was Moderneres, eins, wo man ohne die Heugabel mit hantieren kann?«
»Ich weiß nicht, Meister«, sagte David, »soll ich dem Herrn General die Gustav-Adolf-Muskete zeigen?«
Obwohl der Meister zum erstenmal etwas von einer Gustav-Adolf-Muskete in seinem Besitz hörte, nickte er und sagte, nur eine Spur zögernd: »Zeigen kannste sie, rein interesseshalber, so ein Stück sieht selbst ein General nicht alle Tage.«
»Selbst ein General nicht, wat, olle Schmusköppe, her mit dem Apparat!«
David ging mit dem Gewehr um, als wäre es aus Glas. »Das sollte man nicht denken, dreihundert Jahre alt, und so im Schuß! Das ist wörtlich zu nehmen, denn die schießt ja noch. Da kann der Keiler zweihundert Meter weg sein, dem gehen vierunddreißig Gramm Blei wie nichts durch die Rippen. Das ist eben Schwedenstahl, dagegen ist nichts zu sagen, und dabei doch so leicht, keine elf Pfund, lächerliche fünfkommadrei Kilogramm. Wenn die nicht gewesen wäre, wer weiß, da wären wir vielleicht alle noch katholisch.«
»Stopp mal«, sagte der General, »dieses will ich genauer hören, da entwickle ich ja Vorstellungsgabe: Ick stehe im Walde neben unserem obersten Weidmann, lasse die Hand über den Schwedenstahl gleiten und sage: ›Wer weiß, Herr Reichsmarschall, wenn die nicht gewesen wäre, da wären wir womöglich alle noch katholisch!‹ Nee, halt mal, Scheiße, vielleicht war er mal katholisch, womöglich wunder Punkt, aber mir kannstes erzählen, interesseshalber.«
David ließ sich nicht sehr nötigen. »Als Gustav Adolf von Schweden am vierten Juli sechzehnhunderteinunddreißig in Pommern landete, weil ihm die Zukunft des Protestantismus Sorge machte, und wohl auch, weil ihm die Habsburger unter Wallenstein im niedersächsisch-dänischen Krieg von sechzehndreiundzwanzig bis dreißig zuviel gesiegt hatten, da waren große Teile seiner Truppen mit dieser Muskete ausgerüstet, der ersten Handfeuerwaffe in der Kriegsgeschichte, für die weder Gewehrgabel noch Hakenstange benötigt wurden, und wenn Gustav Adolf nicht zweiunddreißig bei Lützen gefallen wäre, da wäre er mit dieser Muskete noch durch ganz Europa marschiert. Aber gesiegt hat er auch so, und wo er war, da wurde man protestantisch.«
»Mit einem Wort«, sagte der Meister, »es handelt sich hier um so eine Art Wunderwaffe, Herr General, so wat Ähnliches kriegen wir ja nun auch bald.«
»Sie werden schon wieder anzüglich, Treder, oller Igel, aber als Apropos ist das gar nicht schlecht: ›Apropos, Herr Reichsmarschall, wie eben jesagt, handelt es sich hier um eine mittelalterliche Wunderwaffe, und dürfte man in dem Zusammenhang vielleicht mal fragen …‹ – Also, Mensch, was soll der Knaller kosten?«
Damit war Davids eigentliches Stichwort gefallen. Er zog Gustav Adolfs Katholikentöter an sich und flüsterte: »Meister, ich glaube, der Herr General hat kaufen gesagt. Das ist ein Irrtum, nicht wahr, Meister, es war doch nur interesseshalber. Ich meine, ich bin hier nur Lehrling, ich hab hier nichts zu sagen, und zu allem Unglück ist der Herr General auch noch General, ich meine, nicht daß es ein Unglück ist, daß der Herr General General ist, es ist nur wegen der Befehlsgewalt, oh, ich bitte um Entschuldigung, Herr General, es ist nur, weil ich doch nie gedacht habe, daß man diese Waffe verkaufen kann, der Meister hat das doch bisher immer abgeschlagen, neulich erst, als der Herr Schnippenkötter von Siemens-Schuckert hier war, und da dachte ich …«
»Nu is aber genug, Mensch«, sagte der General, »wenn der Schniepenköter diesen Donnerkeil nicht gekriegt hat, ist das in Ordnung, so etwas gibt man nicht in zivile Hände, aber in meinem Falle … Mann, Treder, was ist denn los hier, wieso kriegt denn der Bengel keins hinter die Ohren?«
»Kriegt er, Herr General, kriegt er nachher gleich, den bring ich schon auf Trab. Ich will ihn nicht entschuldigen, nur, rein menschlich ist die Aufregung schon zu verstehen. Sehen Sie, wir Büchsenmacher haben auch unseren Stolz, und den premsen wir schon unseren Lehrlingen ein. Für uns ist so eine Waffe wie diese – los, Daffi, nu leg det Ding endlich hin – etwa so, wie wenn Sie einen britischen Flugzeugträger versenken – is übrigens lange nicht mehr passiert. Na ja, ich hab den Bengel noch nicht so lange, aber als ich merkte, daß er sich sonst ganz gut macht, da habe ich ihm an einem Sonnabend die Muskete gezeigt – die wird separat verwahrt –, hab ihm die Sache mit der Schlacht bei Lützow erklärt und so … Jedenfalls, er hat begriffen, dies ist ein Schatz, nicht nur vom Wert her, vor allem so vom geistigen Wert her, na ja, Herr General, und nun führt er Ihnen das Stück vor, und plötzlich hört er etwas von Verkaufen … Also ehrlich, mir wird es auch nicht leicht, aber dennoch, der Bengel kriegt nachher seine Schelle.«
»Kann von mir aus unterbleiben«, sagte der General, »bestehe nicht drauf, ich habe für Ehrenkodex Verständnis. Aber nu mal los, Treder, alter Auerhahn, jetzt reden Sie mal Preise!«
»Gott, Preise, Herr General, daß so etwas nicht mit Geld …«
»Ich habe Preise gesagt, nicht Geld, Sie Dollbrägen, aber ich finde, auf unseren Kriegshistoriker können wir jetzt verzichten!«
»Daffi!« rief der Meister, und David ging, und drei Tage später wimmelte das Haus des Meisters Treder von Verwandtschaft, und an dem, was sie davontrug, sah David, der General hatte einen guten Preis gezahlt.
David kam von dem Brauererbe nicht mehr los. Als ob es mit seiner Beteiligung an An- und Verkauf, an Preisbildung und lebhaftem Warenfluß noch nicht genug gewesen wäre, wurde er jetzt auch noch zu Transport und weiterer Umverteilung zugezogen, und wie er in der Verkaufssphäre die, wie sich später herausstellen sollte, lebenssichernde Bekanntschaft mit einem General gemacht hatte, so partizipierte er endlich sogar am Gewinnverzehr, und das hatte auch sehr mit dem Leben zu tun, jedoch waren die Einsichten, die er dabei gewann, weniger wirtschaftlicher Natur.
»Daffi«, sagte Treder, »du fährst mit Ursula nach Tegel. Erst packt sie sich den Koffer bis zum Platzen, und denn kannse ihn nicht tragen. Figur wie ein Ladestock, aber den Hals nicht voll kriegen!«
Der Koffer war wirklich nicht leicht, und von Lichtenberg bis Tegel war es weit, Fußmarsch, Straßenbahn, U-Bahn, Straßenbahn, Fußmarsch, und die Ziege von Schwiegertochter sagte den ganzen Weg nicht piep.
Erst in der Wohnung machte sie den Mund auf. Sie packte den Koffer aus, an dessen Füllung unter anderen ein Bierbrauer, eine Bierbrauerswitwe, ein schwedischer Waffenschmied, ein König Gustav Adolf, zwei Büchsenmacher mit mimischen Talenten und ein Fliegergeneral beteiligt gewesen waren, und fragte: »Kennen Sie Martell?«
»Selbstverständlich«, sagte David, »Karl Martell, der Hammer, siebensiebzehn bis einundvierzig, Sohn des mittleren Pippin, Hausmeier des fränkischen Reiches, hat Friesen, Alemannen, Araber und Langobarden besiegt, der hat sozusagen die Kavallerie als ständige Waffengattung erfunden, hier in Europa jedenfalls …«
»Jedenfalls«, sagte Schwiegertochter Ursula, »den meine ich nicht. Ich meine diesen.« Sie stellte drei Flaschen auf den Tisch.
»Den kenne ich nicht«, sagte David, »ich dachte, Sie meinten den mit Bonifazius.«
»Was denn, den hat er auch erfunden? Das scheint ja ein fröhlicher Hausmeister gewesen zu sein. Wunderbar, Sie kriegen einen von diesem Martell, den Sie noch nicht kennen, und dann höre ich von Ihnen einen Bonifazius-Vers, den ich noch nicht kenne.«
»Der Bonifazius von Karl Martell«, sagte David, »das war der Heidentäufer.«
»Welch ein entsetzliches Mißverständnis«, sagte die Schwiegertochter, »den Kerl behalten Sie für sich. Aber versuchen Sie nicht, mir zu erzählen, Sie hätten noch nie von Bonifazius Kiesewetter gehört. Ach, werden Sie schick rot!«
David beschäftigte sich dankbar und dadurch unvorsichtig mit dem Cognac.
»Sie, junger Mann, das ist keine Brause«, sagte des Meisters Schwiegertochter, leerte dann aber das Glas, als enthielte es nichts weiter als eben Brause.
»Was bedeutet Daffi?« sagte sie. »Sie heißen doch nicht etwa wirklich Daffi? Aber halt, vorher trinken wir noch einen von diesem Hausmeisterschnaps, hier, Sie Lehrling! So, nun, wie heißen Sie denn richtig mit Vor und Zu?«
»David Groth«, sagte er und zog den Kopf zwischen die Schultern – gleich würde es mit diesem Namen wieder losgehen, man kam einfach nicht darum herum, aber ob nun Meisters Schwiegertochter oder nicht, allzusehr aufziehen lassen würde er sich von der nicht, er spürte da jetzt so einen kitzelnden Mut in sich: wenn sie mit dem Namensquatsch loslegte, würde er ihr wirklich mal ein paar Kiesewetter-Nummern aufsagen, aber saftige, ha, und dann mochte sie nachher zu ihrem Schwiegermeister, wieso Schwiegermeister, Schwiegermeier natürlich oder war ja auch egal, zu dem konnte sie dann laufen und sich beschweren, wer hat denn angefangen mit Bonifazius, ich doch nicht, aber jetzt macht sie den Mund auf, aber nein, erst kommt da noch ein Schnaps rein, ein Hausmeier-Schnaps, ist ja auch eine Idee, einen Schnaps nach dem Kavallerieerfinder zu nennen, das ist eine richtige Schnapsidee, haha, Schnapsidee ist witzig, aber nun geht es los, jetzt sagt sie, daß sie es sehr merkwürdig findet, wenn einer David heißt, ich kann doch heißen, wie ich will, Mensch …
Er hatte sich nicht getäuscht. Sie fing wirklich mit dem Namen an. Sie blinzelte ihn durch das leere Glas an und sagte: »David? Das ist doch der, der den gräßlichen Riesen mit seinem Flitzebogen umgelegt hat?«
»Schleuder«, sagte David.
»Schleuder?« sagte des Meisters Schwiegertochter Ursula. »Ist das so ein Katapult? Zeigen Sie mal, mir scheint, ich sehe da eine äußerst verdächtige Stelle«, und dann setzte sie das Glas ab und griff ihm zu ernsthafter Prüfung in eine Gegend, von der er bis dahin recht genau gewußt hatte, daß er dort kein Katapult verborgen hielt, aber jetzt, mit ihrer Hand dort, war er dessen nicht mehr ganz so sicher, und daß es sich bei den beiden Händen, die sich unversehens zwischen dem rückwärtigen Rockbund dieser Dame und irgendeinem komischen Gürtel befanden, um seine eigenen handelte, hätte er eigentlich bestreiten wollen, konnte es aber nicht gut, weil irgendein Stück David ihm mit einer Rechnung kam: Die Schwiegertochter zwei, du zwei, das macht zusammen vier, aber die beiden dahinten können nicht von der Schwiegertochter sein, denn die sucht mit der einen nach einem Katapult, und, mein Gott, mir scheint, sie hat auch eins gefunden.
»Hm«, sagte die Schwiegertochter, und dann sagte sie: »Was ist denn? Steh nicht rum, das heißt, steh ruhig rum, aber nur teilweise, und da dann wieder bitte sehr!«
»Bitte sehr«, sagte David, oder er glaubte wenigstens, es zu sagen.
Und auf dem Heimweg dachte er: In Ratzeburg hätte ich das nie gelernt.
Auch so war Ratzeburg, und so ganz anders war jetzt dies Berlin.