17
Schräg gegenüber der Mordkommission, schon in der Kurfürstenstraße, lag eine Buchhandlung, und Mannhardt stöberte an diesem Vormittag in den Regalen. Seine Einstellung zu Büchern war auch nach der nervtötenden Blätteraktion bei Ossianowski draußen positiv geblieben. Erstaunlich. Wobei ihn zu dieser Stunde in erster Linie die bunten Buchrücken entzückten, das kindliche Vergnügen an Farben. Wenn er ein Buch aus einer der endlosen Reihen herauszog, dann tat er das zu seiner Überraschung – ansonsten war er Rechtshänder – mit der linken Hand… Nur um zu sehen, daß er noch einen kleinen Finger dort hatte und zwei unversehrte Fingerkuppen? Er konnte eben die Gedanken an Brockmüller und an Kuhring nicht vollends verdrängen. Ganz zu schweigen von Ossianowski.
Der Fall war abzuschließen, noch vor dem Mittagessen; jede weitere Diskussion war sinnlos und hielt sie nur von anderen Aufgaben ab. Nur ein Narr konnte noch daran zweifeln, daß Ossianowski selber Kuhring vergiftet und dann versucht hatte, Brockmüller diesen Mord anzuhängen. Dabei war ihm zugute gekommen, daß Brockmüller Kuhrings Wecker angefaßt hatte und damit in einen bestimmten Verdacht geraten war. Er hatte aber von vornherein falsch kalkuliert, denn Kuhring konnte nach Lage der Dinge unmöglich der Vater von Annelie Brockmüllers Baby sein. Da war der sonst so kluge Owi reingefallen; wahrscheinlich hatte er sich hinreißen lassen von der krankhaften Freude, die er bei der Vorstellung empfand, nun die anderen ins Unglück zu bringen. Solche Dreiecksgeschichten pflegten ja selten mit Freudentänzen zu enden. Verständlich, daß er den beiden blind geglaubt hatte, verständlich auch, daß er sein Wissen genutzt hatte, um Brockmüller ein paar Jahre hinter Gittern zu verschaffen. Treten und getreten werden. Genial? Kaum. Aber verdammt gerissen.
Ein Mensch zu werden, war schon das größte Unglück, das einem Lebewesen widerfahren konnte. Und unter den Menschen war der am beschissensten dran, der seine Brötchen bei der Mordkommission verdienen mußte…
Mannhardt griff nach einem Buch. Pulitzerpreis, sieh da! Nat Turner… Nee, William Styron: Die Bekenntnisse des Nat Turner… Er war urlaubsreif. Spielerisch ließ er die Seiten über den rechten Daumen laufen. Auf Seite 31 blieb er hängen und überflog den letzten Absatz. In mancher Hinsicht, so dachte ich, muß eine Fliege mit zu den glücklichsten von Gottes Geschöpfen gehören. Gehirnlos geboren, gehirnlos sich ernährend, wo es Wärme und Feuchtigkeit gibt, paart sie sich gehirnlos, vermehrt sich und stirbt wieder hirnlos, ohne je Elend und Leid kennenzulernen…
Da hatte er durch Zufall gerade die Stelle gefunden, die seiner augenblicklichen Stimmung am besten entsprach – und das versetzte ihn ruckartig in eine Welt, in der es Sonne gab und Lachen. Komische Reaktion. Irgendein Aberglaube? Vielleicht. Und er zerquetschte mit Styrons Taschenbuch eine Fliege, die über einen aufgeklappten Mondatlas kroch.
Ohne ein Buch zu kaufen und mit einem feindseligen Blick auf das Regal, in dem die Kriminalromane standen, verließ er den Laden. Was tun? Ein bißchen bummeln? Zurück ins Büro? Der Fall Ossianowski war abgeschlossen; sie hatten sich ‘ne kleine Ruhepause verdient. Aber andererseits gab’s wieder Krach, wenn der Alte ihn beim Nichtstun erwischte. Ora et labora… Arschloch!
Neben ihrem Sandsteinkasten zogen sie einen Neubau hoch; er sah ein bißchen zu, dann stieg er zum Büro hinauf. Drei Minuten später verfluchte er sich, daß er nicht den Kudamm hinuntergelaufen war.
Koch kam auf ihn zu, ganz aufgeregt. «Du, der Schloo hat ein Geständnis abgelegt!»
Mannhardt war verblüfft, brauchte eine Sekunde, um genau zu wissen, wer Schloo eigentlich war. Dann lachte er. «Der hat doch schon vor ein paar Tagen ein Geständnis abgelegt.»
«Ja – aber das hat er inzwischen widerrufen.»
Mannhardt verstand die Welt nicht mehr. «Schloo hat doch zugegeben, daß er Ossianowskis Killer war…?»
«Das hat er nur getan, um uns in die Irre zu führen und seinen Leuten Zeit zu geben, sich abzusetzen.»
«Mir geht’s jetzt wie Barzel: Ich schau da nicht mehr durch…»
«Schloo ist überführt…»
«Überführt?» Mannhardt machte eine hilflose Geste. «Einer von uns beiden hier muß verrückt geworden sein.»
«Immer sachte! Die Kollegen in Baden-Württemberg haben bombensichere Beweise, daß Schloo Mitglied der sogenannten Tränengas-Bande war und zumindest beim Raubüberfall in Karlsruhe mitgemacht hat. Aber, was das Wichtigste ist: Er war es, der in Ulm den Juwelier erschossen hat. Diesen Puhvogel – Ulrich Puhvogel.»
«Ja, ja, ich erinnere mich», murmelte Mannhardt.
«Als du weg warst, hat Schloo alles zugegeben. Dr. Weber war dabei, Olscha und ich.»
«Und die zerrissenen Geldscheine, die ich bei Schloo gefunden habe?»
«Die stammen nicht von Owi, sondern von seinem Chef. Dafür sollte er einen Kumpel umlegen, der nicht mehr so richtig funktioniert hat.»
Mannhardt fluchte. Da hatte er mal wieder was verpaßt. Der Schloo hatte schon richtig kalkuliert. Als Owis erfolgloser Killer hätte er ein Zehntel von dem gekriegt, was er als Puhvogels Mörder bekam, zumal sich ja die Sache mit Brockmüller auf der Avus leicht als Unfall auslegen ließ… Und da war noch etwas: In Owis Aufzeichnungen stand kein einziges Wort von Schloo!
«Wir müssen jetzt davon ausgehen, daß Owis Killer noch immer frei herumläuft», sagte Koch.
«Hm, müssen wir wohl…»
«Und die Lux, Zumpe und Brockmüller leben noch, wenn auch leicht lädiert…»
«Du sagst es!» Mannhardt hätte sich am liebsten in die Ecke gesetzt und geheult, oder sich wenigstens besoffen. Nun ging das ganze Theater noch einmal von vorne los.
Scheiße!
Er hatte kaum die Nachricht verdaut, daß Schloo zwar ein Mörder war, aber nicht das geringste mit Ossianowskis pathologischer Rache zu tun hatte, und angeordnet, Brockmüller, Zumpe und die Lux von nun an wieder unter Polizeischutz zu stellen, da schrillte sein Telefon.
«Nein…!» schrie Mannhardt in die Muschel.
«Sitten sind das!» Am anderen Ende der Leitung lachte Dr. Weber. «Der Geist, der stets verneint?»
«Ich hab nur vier Stunden geschlafen…» murmelte Mannhardt.
«Militia est vita…»
«Bitte – heute nicht!» Jetzt war ihm alles egal. «Der eine arbeitet, und der andere läßt dauernd dumme Sprüche ab – ich hab das satt! Und wenn sich da nicht bald was ändert, dann passiert ein Unglück!» Er knallte den Hörer auf den Apparat.
«Mensch…!» Koch war fassungslos.
Mannhardt saß da, starrte auf seinen Kalender und begriff nur allmählich, was eben geschehen war. War es überhaupt geschehen?
Er zog die unterste Schreibtischschublade heraus, griff sich seine Cognacflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Dann nahm er noch einen.
Plötzlich erfaßte ihn ein rauschhaftes Glücksgefühl. Endlich war er der, der er schon immer sein wollte! Wie hieß der Spruch, der bei Dr. Weber an der Wand hing, der Spruch von Beaumarchais: Mittelmäßig und kriechend, so gelangt man zu allem. Eine Verhöhnung aller Mitarbeiter. Aber was ihn, Mannhardt, betraf, die Wahrheit. Doch jetzt war Schluß damit. Wenn ihn die Bürokratie nicht anders hochkommen ließ, dann wollte er lieber unten bleiben. Es war ja so piepwurschtegal, ob er nun Hauptkommissar wurde oder nicht…
Aber der Rausch verflog schnell. Niedergeschlagenheit trat an seine Stelle. Würde Weber ein Verfahren gegen ihn einleiten? Würde er ihm das Leben zur Hölle machen? Würde man ihn versetzen, degradieren, entlassen? Er hatte eine Frau und zwei Kinder zu ernähren… Hätte er bloß den Mund gehalten!
Olscha kam ins Zimmer.
Brachte er die Aufforderung von Dr. Weber, mal ein paar Tage Urlaub zu nehmen?
«Der Alte ist ja vollkommen am Boden zerstört», sagte Olscha. «Mensch, ich dachte schon, der stürzt sich aus dem Fenster. Ich hab das alles mitgekriegt – gratuliere! Dem ist das vielleicht unter die Haut gegangen.»
Mannhardt atmete auf. Vielleicht ließ sich das Ganze mit der Formel Wir müssen alle Lernprozesse durchmachen wieder aus der Welt schaffen, ohne daß einer von ihnen das Gesicht verlor.
«Was gibt’s denn?» fragte er automatisch.
«Eine ganze Menge», sagte Olscha. «Zumpe ist in einem Hausflur in der Fidicinstraße niedergestochen worden.»
Mannhardt fuhr hoch. «Tot…?» Dr. Weber war vergessen.
«Nein. Er liegt im Urban-Krankenhaus. Eine zehn Zentimeter tiefe Stichwunde, einen Zentimeter von der Wirbelsäule entfernt, aber keine Lebensgefahr mehr.»
Mannhardt wußte nicht, was er sagen sollte.
«Wie kommt der denn in die Fidicinstraße?» fragte Koch. «Der hat doch ganz woanders gewohnt.»
«Da hat er seit gestern ein Zimmer; seine Frau ist mit der Tochter in der alten Wohnung geblieben. Sie wollen erst mal eine Weile getrennt leben…» Olscha steckte sich eine Zigarette an. «Ich hab noch mit Zumpe telefoniert, vor ‘ner Stunde etwa. Über den Apparat seiner Wirtin. Er hatte sich ‘n Tag freigenommen, um umzuziehen. Ich mußte ihm doch sagen, daß Schloo nicht der Killer sein kann und Ossianowski mit Sicherheit einen anderen bezahlt hat. Na ja, er soll sich vorsehen, hab ich gesagt, bis einer von uns da ist… Weber hatte nicht gleich jemand, den er schicken konnte – jetzt, wo so viele in Urlaub…»
«Das geht also auf seine Kappe», stellte Mannhardt fest.
«Damit konnte doch keiner rechnen!»
«Ist denn Zumpe schon vernehmungsfähig?» fragte Koch.
Olscha schüttelte den Kopf. «Der Arzt sagt, nicht vor heute abend.»
«Zeugen?» fragte Mannhardt.
«Nein, bis jetzt hat sich noch keiner gemeldet. Zumpe selbst hat überhaupt nichts gesehen, nur einen Schatten. Hat mir jedenfalls der Arzt am Telefon erzählt.»
«Fidicinstraße – wo ist denn das?»
«In Tempelhof, gleich am Flughafen. Die zweite Querstraße wohl, geht vom Mehringdamm ab.»
«Und das Haus?»
«Die Leute von der Spurensicherung sind gerade da… Der Alte hat mit der Funkwagenbesatzung gesprochen. Offenbar ein Altbau, Gründerzeit oder so, und ein dunkler, ziemlich verwinkelter Hausflur.»
Mannhardt stand auf. «Uns bleibt wohl nichts weiter übrig, als auch mal hinzufahren, obwohl da sicher nichts bei rauskommt. Also – Abfahrt!»
Sie fuhren zu dritt zur Fidicinstraße, alle ziemlich schlecht gelaunt. Und tatsächlich gab die Tatortbesichtigung nicht das geringste her. Kein Aas hatte den Täter gesehen, nirgends ein Mann, der sich irgendwie verdächtig gemacht hätte. Keine vernünftigen Spuren, nur eine große Blutlache. Zumpe hatte furchtbar geschrien, und die Portiersche war in den ersten Stock hinaufgerannt, um vom Apparat seiner Wirtin aus 110 anzurufen. Sie hatten gar nicht erst versucht, Zumpe das Messer aus dem Rücken zu ziehen. Es lag jetzt im Urban-Krankenhaus, ein Funkwagen sollte’s abholen und ins Labor bringen.
«Name und Adresse stehen da bestimmt nicht drauf», brummte Mannhardt.
Die Portierfrau, dick und muffelnd, erinnerte sich daran, daß es ein ganz normales Fahrtenmesser war. «So eins hat mein Enkel, der ist bei die Pfadfinder, wissense.»
«Aha… Hat denn einer Frau Zumpe benachrichtigt?»
Olscha nickte. «Ja, hab ich. Die arbeitet draußen in Gartenfeld, Siemens-Kabelwerk. Ich glaube, im Einkauf. Sie will erst abends ins Krankenhaus fahren, wenn ihr Mann… also, wenn sie mit ihm sprechen kann. Nun kriegt man am Telefon nicht alles mit, aber – na, so richtig erschüttert war sie nicht gerade.»
«Kein Wunder», sagte Koch. «Bei denen war doch schon drei Jahre lang Krieg.»
«Und wenn ich mich recht erinnere: Zumpe wollte sich nicht scheiden lassen, der hängt immer noch an ihr – oder?»
«Ich glaube ja…» Koch blätterte in seinem Notizbuch herum, fand aber nichts. «Müssen wir mal fragen.»
«Okay.»
Sie fuhren in die Keithstraße zurück, und Mannhardt erlebte eine frohe Überraschung, als er in seinem Büro eine junge Dame antraf, die… Nun, die junge Dame war schlicht umwerfend. Kupferfarben das lange Haar, mehr als kurz der Minirock, und Schenkel wie… wie… Also so was sah man sonst nur im Schulmädchenreport.
Sie waren direkt enttäuscht, als sich die Schöne als die Schreibkraft Gabriele Gross, drei Jahre EUROMAG, entpuppte.
Mannhardt setzte sich, murmelte etwas Unverständliches, seinen Namen wohl, und schob Koch einen Stuhl hinüber. «Nett, daß Sie uns – setzen Sie sich doch bitte… Nett, daß Sie uns besuchen. Herr Koch und ich…» Da blitzte es bei ihm. «Moment mal – Gross, sagen Sie? Sie sind doch, pardon, die Dame, mit der Herr Brockmüller…»
«Ja…» hauchte Gaby.
Mannhardt schaltete auf witzig-galant. «Ich verstehe und beneide ihn.»
«Danke.»
«Und was verschafft uns die Ehre?»
«Wir haben gehört, daß nun auch Herr Zumpe…»
«Mann, geht das schnell!» Koch wollte sich auch ins Gespräch bringen.
Gaby sah ihn aufmunternd an. «Ja…»
Mannhardt zwang sich zur Sachlichkeit. «Haben Sie eine Ahnung, wer das getan haben könnte?»
«Nein. Aber…»
«Aber?»
Gaby starrte auf ihre Knie. «Ich weiß nicht, ob… Aber ich glaube, es könnte Sie…»
Mannhardt bot ihr eine Zigarette an.
«Danke.»
Koch gab ihr Feuer und nutzte die Gelegenheit, ihr tief und herausfordernd in die Augen zu blicken. Mannhardt war nahe dran, zum zweitenmal an diesem Tage zu explodieren.
Gaby inhalierte den Rauch mit einer gewissen Süchtigkeit. «Ganz kurz: Wissen Sie eigentlich, wer der Mann war, der Zumpes Ehe kaputtgemacht hat – das heißt, zu wem Frau Zumpe ziehen wollte, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte?»
«Keine Ahnung.»
«Zu Kuhring!»
Mannhardt hielt die Luft an. Auch Koch war ganz entgeistert.
«Sie wollten heiraten; es war alles abgesprochen.»
«Und…» Mannhardt mußte sich erst räuspern. «Und woher wissen Sie das?»
Das Mädchen machte eine hilflose Geste. «Ich war mit Herrn Kuhring… befreundet. Sehr eng sogar. Und er hat mit mir Schluß gemacht, um…» Achselzucken.
«Verstehe…» Mannhardt dachte nach. Owi konnte sich geirrt haben, und Zumpe konnte genau das getan haben, was sie Brockmüller unterstellt hatten. Und Ossianowskis Killer, den das alles herzlich wenig anging, hatte ihn niedergestochen… Möglich war auch, daß Frau Zumpe, Jutta hieß sie wohl, wußte, wer Kuhring umgebracht hatte, und nun… Ja, sie konnte die Situation ausgenutzt haben, diese Theorie, daß Ossianowski einen Killer bezahlt hatte, um ihren, ja, Geliebten zu rächen. Jede erwachsene Frau war kräftig genug, um mit einem Messer… Oder ein anderer hatte es für sie getan. Sie hatte ja genau gewußt, daß ihr Mann in die Fidicinstraße gezogen war.
«Herzlichen Dank, Fräulein Gross», sagte Mannhardt. Mein Gott, für eine Stunde mit der hätte er allerlei gegeben… Er wandte sich schnell an Koch: «Du fährst sofort zu Frau Zumpe raus und nimmst sie unter die Lupe.»
«Wenn’s sein muß… Das ist zwar ein kleiner Umweg, aber da kann ich Fräulein Gross gleich ins Büro zurückfahren.»
Mannhardt sah ihn böse an. Man sollte den Kerl wirklich kastrieren!
«Auf Wiedersehen!» Mannhardt ging ins Schreibzimmer hinüber und knallte die Tür hinter sich zu. Die beiden Damen an den Schreibmaschinen, alles andere als jung und morgenschön, mußten ihm erst mal zwei Bockwürste holen und eine Tasse Kaffee kochen, ehe er wieder Boden unter die Füße bekam.
Kaum hatte er sein kärgliches Mahl beendet, kam der nächste Schlag.
Am Apparat war ein gewisser Popp; Postrat, wie er sagte, bei der Landespostdirektion, Dernburgstraße. Seine Beamten hätten natürlich, wie alle Berliner, den Fall Ossianowski mit größter Aufmerksamkeit verfolgt, und so sei es kein Wunder, daß sie stutzig geworden wären, als sie heute vormittag in…
«Hallo…?!» Der Postmensch war plötzlich weg. «Hallo…!»
«Ja, Herr Mannhardt, Verzeihung. Da muß irgend etwas mit der Leitung…»
«Sie sollten sich mal bei der Post beschweren.»
«Also folgendes: bei uns auf dem Hof hier liegt ein Päckchen, das Herr Ossianowski vor etwa vierzehn Tagen nach Italien geschickt hat – und zwar an, warten Sie… An einen Signor Giulio Linaro – 58043 Castiglione della Pescaia Poggiodoro, Provinz Grosseto, Italia…»
«Ja – und…?» Mannhardt sah noch keinerlei Zusammenhänge.
«Diesen Mann gibt es gar nicht. Jedenfalls nicht unter dieser Adresse. Das geht aus einem Aufklebezettel hervor, den die italienischen Kollegen auf dem Päckchen angebracht haben.»
«Also: Empfänger unbekannt, zurück an Absender?»
«Ja, sage ich doch!»
Wenn das stimmte, dann… Ja, was dann? Auf alle Fälle hatte sich Ossianowski etwas dabei gedacht. Aber was? Sicher war nur, daß das Päckchen nach seinem Tode nach Berlin zurückkommen und dort die Aufmerksamkeit der Postbeamten erregen sollte.
«Hallo, sind Sie noch da, Herr Mannhardt…?»
«Ja… Moment mal, bitte.» Verdammt noch mal, was mochte dahinterstecken? Sprengstoff vielleicht? War Ossianowski davon ausgegangen, daß der Kriminalbeamte, der die Untersuchung leitete, das Päckchen öffnete und dann auch hopsging? Zuzutrauen war es ihm.
Ein Irrtum? Kaum. Ein Gag? Auch nicht. Wurde ein Giulio Linaro von Interpol gesucht? Mannhardt rief Olscha und ließ die Sache prüfen.
Der Herr Postrat wurde langsam ungeduldig. «Was ist denn nun?»
«Wo liegt denn das Päckchen?»
«Bei uns auf dem Hof, sagte ich bereits. Die Beamten aus Kladow haben es in einem Dienstwagen hergebracht – da liegt es noch drin.»
«Augenblick mal…» Olscha stand in der Tür. Mannhardt hielt die Hand über die Muschel. «Was ist?»
«Bei Interpol Fehlanzeige.»
«Und im Fahndungsbuch?»
«Steht auch kein Giulio Linaro drin.»
«Danke.»
«Nun kommen Sie doch mal zu ‘ner vernünftigen Entscheidung!» rief Popp.
Blödmann! «Ich hab mir sagen lassen, bei Ihnen geht’s auch nicht so schnell!» knurrte er. «Höchstwahrscheinlich ist Sprengstoff in dem Päckchen. Lassen Sie’s liegen, wo’s liegt, bis die Spezialisten vom Landeskriminalamt da sind und Bleiplatten rüberdecken. Und lassen Sie Ihre Leute in Deckung gehen. Ansonsten: herzlichen Dank für den freundlichen Hinweis und bis gleich!» Er warf den Hörer auf die Gabel. Daß die Jungs alle ‘nen Flitz kriegten, wenn sie im höheren Dienst waren.
Mannhardt griff zum Telefon, informierte die Kollegen drüben in der Gothaer Straße und setzte die ganze Maschinerie in Bewegung. Die sollten auch mal was tun für ihr Geld. Er selbst griff sich Olscha und ließ sich von ihm zur Landespostdirektion in der Dernburgstraße fahren, war gleich am Bahnhof Witzleben.
Popp wartete schon, ein Eunuchentyp mit dicker Hornbrille, und Mannhardt dachte an Koch; der hätte diesen aufgeblasenen Frosch vielleicht gefragt, ob er der Erfinder des Popcorns sei.
Der gelbe Kombi mit Owis Päckchen stand einsam und verlassen in der Ecke des Hofes. Popp erklärte, daß ein paar mutige Kollegen die ringsum geparkten Wagen schon weggefahren hätten. Helden gab es immer wieder. Unter diesen Umständen waren die Beamten vom Landeskriminalamt klug genug, auf spektakuläre Aktionen zu verzichten. Keiner von ihnen hatte Lust, mit Ossianowskis Päckchen zum Röntgen zu fahren, ebenso hielten sie’s für unsinnig, an Ort und Stelle die Bindfäden zu lösen und den Inhalt in Augenschein zu nehmen. Immerhin war das Ding nicht ganz leicht. Das fahrbare Delaborierungsgerät war gerade defekt. Ausgerechnet. So taten sie das, was auch Mannhardt für das Klügste hielt: sie deckten das Päckchen mit dicken Bleiplatten ab und ließen nur eine faustgroße Öffnung frei, um es ohne Risiko beschießen zu können.
Die Spannung stieg. Sie gingen in Deckung, und der Scharfschütze legte an. Die Köpfe oben an den Fenstern verschwanden. Mannhardt kauerte mit Olscha hinter einem Mauervorsprung.
Feuer!
Zwei Schüsse peitschten über den Hof.
Nichts.
Was auch immer in Ossianowskis Päckchen sein mochte, Sprengstoff war es nicht.
So standen sie alle im Kreis herum, als Olscha die Strippen durchschnitt, die Verpackung aufriß.
«Mensch – ich werd verrückt!»
Zum Vorschein kamen, neben einem schweren Aschenbecher und einem alten Reisewecker, gebündelte Geldscheine.
Mannhardt zählte. Popp und Olscha zählten mit.
«Ungefähr sechzigtausend Mark», sagte Mannhardt. «Ossianowskis gesamtes Vermögen.»
Womit bewiesen war, daß es keinen Killer gab und nie einen gegeben hatte.
Amen!
Dafür gab es einen kleinen Zettel mit Owis kunstvoll-gestochener Schrift:
Meinen herzlichen Glückwunsch, Herr Kommissar! Ich bitte dieses Blatt Papier als meinen Letzten Willen zu betrachten und verfüge hiermit, daß die beiliegende Summe jenem Verlag zukommen soll, der mein Manuskript ‹Die größten Katastrophen der Menschheit› mit einer Mindestauflage von 10000 Exemplaren auf den Markt bringt. Es grüßt Sie letztmalig
Ihr
Otto-Wilhelm Ossianowski
«Dem wird noch postum der Nobelpreis verliehen werden», sagte Mannhardt.
«Wir sollten froh sein, daß er den großen Katastrophen der Menschheit nicht eine weitere hinzugefügt hat», sagte Popp.
«Was nicht ist, kann noch werden», sagte Olscha.
Mannhardt fand das alles zum Kotzen. «Kommen Sie, packen Sie den ganzen Krimskrams ein und ab!» Er hatte nur noch das eine Bedürfnis: nach Hause und hinter Sandhausen in der Havel baden.
Aber das war ein Wunschtraum. Es gab zwar keinen Killer, aber es gab einen fast gekillten Zumpe.
Als Olscha ihn in die Keithstraße gefahren hatte und er in sein Büro zurückkehrte, saß Koch im Besuchersessel und sprudelte sofort los:
«Du, diese Frau Zumpe, die ist völlig harmlos! Die hat mit dem Überfall auf ihren Mann nichts zu tun, da leg ich meine Hand für ins Feuer. Klar, sie wollte weg von ihm und Kuhring heiraten, aber sie haßt Zumpe nicht. Für sie ist Owi Kuhrings Mörder – alles andere ist undenkbar.»
«Geh, schreib dein Protokoll und laß mich in Ruhe.»
«Was war denn mit Owis Paket?»
«Nichts. Außer daß sein gesamtes Vermögen drin war.»
«Dann hat Schloo also recht, und es gibt keinen Killer.»
«Ich bewundere deinen Scharfsinn.»
«Und wer hat Zumpe niedergestochen?»
«Laß mich in Frieden und halt endlich mal die Schnauze!»
Mannhardt ließ sich auf seinen sparsam gepolsterten Stuhl fallen, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte sein Gesicht in die Schale der Hände.
Noch zwei Wochen bis zum Urlaub. Menorca, Ciudadela. In der Sonne liegen, schwimmen, alles vergessen… Das Mühlrad in seinem Kopf drehte und drehte sich.
Er blickte zu Koch hinüber, der seelenruhig den Abend las.
«Wo hast du dich denn mit Gaby verabredet?» Er mußte was sagen – durch Reden kam ‘ne Unterhaltung zustande.
«Mit Gaby…?»
«Mit wem denn sonst! Fräulein Gross – EUROMAG!»
«Im Reno.»
«Wer spielt denn da zur Zeit?»
«Keine Ahnung. ‘ne Band wahrscheinlich.»
«Auch keine höheren Interessen, was?»
«Nee. In diesem Fall würd ich eher sagen, tiefere.»
«Du bist eine alte Sau, Mensch!»
«Was kann ich dafür? Milieugeschädigt…»
Mannhardt winkte müde ab. Er fühlte sich ausgelaugt, fertig. Eine Batterie läßt man aufladen, wenn sie leer ist. Aber einen Beamten… Sein Vergleich gefiel ihm nicht; er kam sich im Augenblick weniger wie eine Batterie vor als wie eine ausgequetschte Zitrone, und das gefiel ihm noch weniger.
Wer hat Zumpe das Messer zwischen die Rippen gerammt?
Aber es hatte keinen Sinn, daß er sich zur Konzentration zwingen wollte. Seine Gedanken liefen kreuz und quer; nicht er dachte, sondern es dachte in ihm.
Gib’s auf! Du verkrampfst dich bloß noch mehr. Lenk dich ab!
Mannhardt ließ Zumpe Zumpe sein und begann, die Namen der amerikanischen Bundesstaaten aufzuschreiben.
Mal sehn, ob ich sie alle zusammenkriege…
Alabama, Arkansas, Colorado, Connecticut, Delaware, Idaho, Indiana, Maine, Nebraska… Nevada, Kansas, Kalifornien, Texas, Florida… Mississippi, Montana, Missouri… Utah, Wyoming, New Mexico… Scheiße, damit war’s aus. Nee: Virginia… Georgia, Pennsylvania… Ohio… Iowa… Der Faden riß. Iowa. Iowi. Owi. Zumpe… Verdammt noch mal! Iowa… I = ich, auf Englisch, und owa. Ich. Alle Leute denken an sich, nur ich allein denke an mich… Na und? Wer tut denn was für einen, wenn nicht er selber? Selbst ist der Mann… Iowa… Minnesota…
Selbst ist der Mann?
Na klar!
«Hast du ‘n Zollstock da?»
Koch zuckte zusammen. «Brüll doch nicht so… Nee, wozu?»
«Lauf schnell zum Hausmeister und hol einen – na los doch!»
«Bist du…»
«Mensch, hau ab!»
Koch lief aus dem Zimmer.
Ja, das war’s. Das mußte es sein!
Koch kam mit dem Zollstock zurück. Mannhardt nahm ihn und klappte ihn auseinander.
«Du bist doch ziemlich genauso groß wie Zumpe, nich?»
«Ja…» Koch begriff nun überhaupt nichts mehr.
«In welcher Höhe hat der den Stich abbekommen – so in etwa? Zeig mal!»
Koch hielt den rechten Zeigefinger an die Stelle.
Mannhardt maß nach. «Ein Meter dreizehn.»
«Was soll denn der Quatsch?»
«Los, zur Fidicinstraße!»
«Soll ich nicht lieber ‘n Arzt…?»
«Wenn du nicht gleich spurst, brauchen wir wirklich einen: weil ich dir dann sämtliche Rippen gebrochen habe… Ab!»
Koch war ein bißchen eingeschnappt, und so fuhren sie schweigend zu der Stelle, an der Zumpe in einer Blutlache aufgefunden worden war.
Sie hielten, stiegen aus und traten in den Hausflur.
«Bleib am Lichtschalter stehen. Wenn das Licht ausgeht, drückst du gleich auf ‘n Knopf.»
«Zu Befehl», brummte Koch. «Wär ich nie drauf gekommen.»
Mannhardt klappte den Zollstock auseinander, hielt den Daumen auf die Marke 110-13 und ging, den anderen, mit Blech beschlagenen Teil über die Fliesen ziehend, langsam an der rechten Wand entlang, und an der Stelle, wo in den Fugen noch Spuren verkrusteten Blutes zu erkennen waren. Zentimeter um Zentimeter suchte er die Wand ab; sie war glatt und mit flaschengrüner Ölfarbe gestrichen.
Koch verfolgte sein Tun mit wachsendem Unverständnis, drückte aber gehorsam auf den Knopf, wenn die Deckenbeleuchtung erlosch.
Und Mannhardt fand, was er suchte: in 1,14 m Höhe vom Boden gemessen, eine muldenförmige Vertiefung von ovaler Form, mit einem größten Durchmesser von vielleicht 20 mm und etwa 4 mm tief. Die Farbe hatte wie eine elastische Haut nachgegeben; nur an den Rändern der Delle war sie stellenweise gerissen, so daß der Verputz zum Vorschein kam.
Mannhardt atmete auf. Triumph! Endlich mal einer. Jetzt konnte Dr. Weber anstellen, was er wollte, jetzt prallte alles ab. Erfolg macht unabhängig, Erfolg macht mächtig… Er winkte Koch herbei und zeigte ihm seine Entdeckung.
Langsam, sehr langsam dämmerte es auch bei seinem Assistenten. «Du meinst also… Du meinst, er hat das Messer mit dem Griff gegen die Wand gesetzt und sich…» Er brach ab, weil ein Hausbewohner, ein älterer Mann, mit einer schäbigen Einkaufstasche vorbeiging und sie sekundenlang anstarrte. «Du meinst also, er hat sich selbst mit dem Körper, mit dem Rücken gegen die Messerspitze gedrückt – so lange, bis die Klinge…»
«Ja, das meine ich.»
«Das ist doch Wahnsinn!»
«Nein, Berechnung. Zumpe hat Kuhring das Gift in die Vitaminkapseln getan, er hat ihn ermordet – in der Gewißheit, daß alle Welt Ossianowski für den Mörder halten würde. Doch dann tauchten plötzlich Owis Aufzeichnungen auf, und er mußte von der Möglichkeit, sogar von der Wahrscheinlichkeit ausgehen, daß Ossianowski wußte, wen seine Frau nach der Scheidung heiraten wollte – seine Frau, die er noch immer abgöttisch liebt. Die Aufzeichnungen also, die ihn – seiner Meinung nach – als Kuhrings Mörder ausweisen mußten. Alles sprach gegen ihn, auch die Tatsache, daß er bisher von allen vier Kollegen als einziger mit heiler Haut davongekommen war. Das muß seine Reaktion erst so richtig ausgelöst haben – das und die Tatsache, daß Schloo plötzlich als Owis Killer ausschied, es also – da das Geld weiterhin verschwunden blieb – einen anderen Killer geben mußte… Und diese seine letzte Chance hat er genutzt.»
«Klingt logisch…» Aber Koch war noch nicht so recht überzeugt.
«Zugleich war’s wohl auch eine Flucht aus der Wirklichkeit, ein Zeichen für die Umwelt: Ich kann nicht mehr. Oder auch ein echter Selbstmordversuch, der wie ein Mord aussehen sollte, weil er sich schämte, daß… Ein Mann wie Zumpe, der posaunt es nicht gern aus, wenn er scheitert.»
Koch kratzte sich am Kopf. «Ich weiß nicht recht…»
Mannhardt lächelte. «Ich hab noch meinen Plastikbeutel vom Frühstück in der Tasche… » Er zog ihn aus dem Jackett. «Gib mir mal bitte dein Taschenmesser…»
Mannhardt kratzte, etwa einen Meter von der Druckstelle entfernt, Farbe und Mörtel von der Wand. «So! Ich bring das Zeug zum Labor; du holst bitte das Messer aus dem Krankenhaus, falls es noch keiner abgeholt hat, und kommst dann nach. Das heißt – nee: Du wartest sicherheitshalber hier, bis ich die Leute von der Spurensicherung alarmiert habe. Wer weiß… Also, bis dann!»
Anderthalb Stunden später, als sie voller Ungeduld und Unmengen von Kaffee trinkend, in ihrem Büro saßen, kam das Ergebnis aus dem Labor: Mannhardt hatte recht, hatte doppelt recht, weil auch, wie die Ärzte im Urban-Krankenhaus bestätigten, der Verlauf der Stichwunde darauf schließen ließ, daß sich Zumpe das Messer selber in den Rücken gedrückt hatte.
«Du bist schon ein Genie», sagte Koch. Ehrliche Anerkennung, als Ironie getarnt.
«Nicht Genie, sondern Gedächtnis.» Mannhardt warf ihm ein Heft der Kriminalistik auf den Tisch. «Heft 2, Februar 1970. Lies mal den Artikel auf Seite 85…»
Koch blätterte, suchte. «Ein Mordversuch? Von Dr. jur. Karl Ender, Polizeipräsident, Wiesbaden…?»
«Genau. Da hat ein 16jähriges Mädchen in Wiesbaden dasselbe versucht.»
Koch sah ihn an. «Und was nun?»
«Damit kriegen wir totsicher einen Haftbefehl gegen Zumpe.»
«Meinst du, er legt ein Geständnis ab?»
«Mal sehen. Wir fahren jedenfalls nachher ins Krankenhaus – vorausgesetzt, er ist vernehmungsfähig.»
«Na schön, ich bereite alles vor.»
Gegen 19 Uhr standen sie im Urban-Krankenhaus am Bett von Zumpe. Hager und von gelblicher Gesichtsfarbe war er schon immer gewesen, doch nun starrte ihnen eine Mumie entgegen. Auf einmal erschien es Mannhardt unsagbar grausam, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Dieser Mensch hier brauchte Pflege, Hilfe, Liebe – und nicht zwanzig Jahre Haft. Mannhardt spürte einen starken Impuls, alle Akten zu verbrennen und Zumpe zu retten. Andererseits war ihm klar, daß es einzig und allein die erfolgreiche Aufklärung des Falles Ossianowski/Zumpe war, die ihn selber rettete – ohne sie hätte ihn Dr. Weber völlig fertiggemacht… Scheißspiel. Natürlich stand er nicht wirklich vor einer Alternative. Aber er war zugleich froh, daß er nicht zu entscheiden brauchte. Dabei kam ihm in den Sinn, daß vermutlich mancher kleine SS-Mann in gewissen Situationen etwas Ähnliches gedacht haben mochte… Der liebe Gott, wenn es den wirklich gab, würde eines Jüngsten Tages auch keinen leichten Job haben.
«Guten Abend, Herr Zumpe», sagte Koch.
«Guten Abend…» murmelte Mannhardt.
«Sie wollen wissen, wie das mit dem Überfall war?» fragte Zumpe mit schwacher Stimme.
«Nein», sagte Mannhardt mechanisch und hörte seine Stimme wie von einem Tonband. «Ich wollte nur wissen, ob es stimmt, daß Ihr Vater Apotheker war und daß Sie früher mal ein Pharmaziestudium abgebrochen haben?»
Koch hatte ihm diese Information von Frau Zumpe mitgebracht.
Zumpe war erstaunt. «Ja…»
«Und Sie waren im Mai und Juni dieses Jahres zweimal bei Herrn Ossianowski draußen in Kladow?»
«Ja, wir sind da nach dem Baden vorbeigekommen, und…»
Mannhardt tat das, was er tun mußte; er ließ das Fallbeil heruntersausen. «Dann lesen Sie doch bitte mal diese Protokolle hier – und die Schlußfolgerungen…» Sagen konnte er es nicht.
Zumpe las. Langsam, mühsam.
Mannhardt atmete tief durch. Ossianowski konnte stolz sein auf seine ‹Strecke›: Kuhring tot, Zumpe zu lebenslanger Haft verurteilt, Brockmüller verstümmelt; ob die Lux einen bleibenden Schaden davongetragen hatte, stand noch nicht fest… Morgen fand Owis Einäscherung statt, und er hatte sich vielleicht noch wirksamer gerächt, als er beabsichtigt hatte. Oder hatte er wirklich mit voller Absicht Brockmüller des Mordes an Kuhring bezichtigt und durch die Wahl seines Buches dafür Sorge getragen, daß er die Aufzeichnungen fand? Es schien fast so. Genial gesponnen. Mein Gott, was hätte aus diesem Mann werden können, wenn…
Zumpe ließ die Blätter auf die Bettdecke sinken und sah Mannhardt mit großen Augen an.
Mannhardt brachte keinen Ton heraus.
Zumpes Augen füllten sich langsam mit Tränen. Dann flüsterte er kaum hörbar: «Es stimmt, ich war es…» Er schloß die Augen und wandte sich ab.
Wer war hier ein Mörder – Zumpe? Ossianowski? Oder Kuhring und Brockmüller? Oder… Mannhardt?
Mannhardt und Koch gingen auf den Flur hinaus.
«Soll ich dich nach Hause fahren?» fragte Koch.
«Nein, danke; ich nehm ‘n Taxi.»
Dann stand er unten auf der Urbanstraße und wartete auf ein Taxi. Er fühlte sich schuldig. Im Verlauf der Untersuchung des Falles hatte er Ossianowskis Menschenhaß gelegentlich geteilt und sich, wenn er ehrlich war, insgeheim gefreut, wie da ein Unterdrückter seine Peiniger erledigt hatte, einen nach dem anderen. Doch nun begriff er, daß sie alle Opfer waren, daß diese Welt nur Opfer kannte.
Autos schossen vorüber, fünftausend Mark wert, zehntausend, fünfzehntausend. Gegenüber flimmerten Farbfernseher. Und morgen gratulierten sie ihm alle, und er kämpfte weiter um die Beförderung zum Hauptkommissar, um ein paar Mark mehr im Monat, und jeder Mensch, dem er zehn Jahre Gefängnis verschaffte, war ein weiterer Pluspunkt für ihn… Er wußte, daß diese düstere Stimmung nicht anhalten würde; er kannte sich in dieser Beziehung. Aber er wußte auch, daß sie sich immer einmal einstellen würde.
Er sah das gelbe Licht eines Taxis vom Hermannplatz her nahen und winkte.
Der Wagen rollte aus, er zog an der hinteren Tür. Sie war verschlossen, und der Fahrer mußte sich erst nach hinten biegen, um sie zu öffnen.
«Wo soll’s denn hingehen?» fragte er.
«Waikiki», antwortete Mannhardt. «Und fahren Sie bitte schnell.»
«Wei… Wie bitte? Wo soll ‘n das sein?»
«Auf Hawaii», sagte Mannhardt.