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Es war 18 Uhr, RIAS II begann schon mit den Sportberichten, und sie blätterten noch immer in Ossianowskis Büchern, nun schon zu fünft, ohne daß sich indessen eine Seite 16 gefunden hätte, auf der sich ein sinnvoller Text ergab. Auch von den anderen Fronten – Reinmachefrau, Büchereien und Sondergruppe für Systemplanung – kamen keine Erfolgsmeldungen. Inzwischen hatten SFB und RIAS die Bevölkerung ausführlich informiert, und so durchstöberten zu dieser Stunde nicht nur Hunderte von Journalisten, sondern auch Tausende von Bürgern ihre Bücherschränke, um sich die ausgesetzte Belohnung von 5000 Mark zu verdienen.

«Ich glaube, der wollte uns nur auf den Arm nehmen», sagte Koch.

Mannhardt massierte sich mit den Fingerkuppen die Augäpfel. «Bei mir tanzen die Buchstaben schon…»

«Meinst du nicht?» beharrte Koch.

«Wer weiß… jedenfalls hat er jetzt erreicht, wovon er Zeit seines Lebens immer nur geträumt hat: Tausende von Menschen kümmern sich um ihn, er steht im Mittelpunkt, er wird endlich einmal ernst genommen.»

«Verdammt ernst sogar. Bloß, er hat nichts mehr davon.»

«Mit diesem Bild vor Augen wird er gestorben sein.»

«Glaubst du, daß er noch irgendwo ‘n Zeitzünder ticken hat? Braucht ja kein Sprengstoff zu sein – Gift oder so…»

«Ich glaube nur, daß zwei Pfund Rindfleisch ‘ne gute Brühe geben.»

«Immerhin ist Kuhring tot.»

«Nun such man schön weiter.»

Mannhardt war so müde wie nach einem Volkslauf über 5,3 Kilometer. Und er schwitzte auch so. Draußen war’s noch immer über 20 Grad; an Ossianowskis Gartenzaun vorbei gingen die heimgekehrten Bürohengste mit ihren Familien zum Baden an die Havel hinunter.

Ein neuer Kollege kam und bekam den Code in die Hand gedrückt, den Koch inzwischen auf Owis vergammelter Schreibmaschine mit sechs Durchschlägen abgetippt hatte. Jetzt gingen sie mechanisch vor, Buch für Buch, Regalabschnitt für Regalabschnitt, ohne Rücksicht auf die Erwägung, ob es sich dabei der Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich um Ossianowskis Lieblingsbuch handeln konnte oder nicht.

Inzwischen hatten sich schon ein protestantischer Geistlicher gemeldet und mitgeteilt, in den ihm zugänglichen theologischen Schriften, insbesondere der Bibel, fände sich nirgendwo eine Seite 16, deren Buchstaben in der von Ossianowski fixierten Reihenfolge etwas Sinnvolles ergebe. Es hätte ja nahegelegen, daß der Herr beim HErrn Zuflucht gesucht habe… Mannhardt bedankte sich.

Wie Olscha, der in der Keithstraße am Telefon saß, ihm mitteilte, hatten auch etliche andere Berufsgruppen ihren Eifer bekundet sowie ihren Mißerfolg angezeigt, unter anderem auch – haha! – die Union der Leitenden Angestellten.

Mannhardt nahm sich das nächste Buch vom Regal, Marek Hlaskos Alle hatten sich abgewandt. Einen winzigen Augenblick lang hoffte er wieder, denn wenn ein Titel auf Ossianowskis Situation zutraf, dann dieser. Aber auch diesmal nur eine neue Enttäuschung, denn die Zeile 8 ergab nur M – E – H – N, was um so ärgerlicher war, als er sich bei den ersten drei Buchstaben schon an Mehringdamm gedacht hatte. Die Zeile 9 hatte überdies nur 15 Buchstaben, bei Owi mußten es aber mindestens 54 sein.

Zweimal schlucken, dreimal fluchen und weiter.

Lion Feuchtwanger, Jud Süß. Gab’s da Parallelen? Er wußte es nicht so genau. Die Seite 76 aufgeschlagen, die Zeile 8 gesucht, kurz verglichen: Wieder nichts! H – Z – L – N.

Mannhardt hatte Mühe, gegen den immer übermächtiger werdenden Impuls anzukämpfen, alles hinzuschmeißen und zu brüllen: Macht doch euern Scheißdreck allein!

Gerade hatte er sich wieder gefangen, da rief Dr. Weber an.

«Immer noch nichts?»

«Nein, Herr Doktor, tut mir leid… Aber wir…»

«… tun, was wir können; ich glaub’s Ihnen ja… Und im vorliegenden Fall kann ich Ihnen nicht einmal vorwerfen, daß Sie zu wenig können – eigentlich schade. Na ja. Dann fahren Sie mal fort im löblichen Tun. Tschüs denn!»

«Auf Wiederhören, Herr Doktor.»

Erst ein Weilchen später, als er wieder normalen Blutdruck hatte, griff er nach dem nächsten Buch – Nummer 58:

Fehlanzeige.

Nummer 59. Fehlanzeige.

Nummer 60. Fehlanzeige.

Nummer 61. Fehlanzeige.

Er kam sich vor wie ein Mann in der Fabrikhalle an einer hydraulischen Presse.

Erst als er Emile Zolas Germinal in die Hände bekam, hielt er wieder inne. Da gab die Seite 76 zwar auch nichts her (M – I – F – U – N – O – N), aber er hatte das Dings schon lange mal lesen wollen. Unter einem sternenlosen, nachtschwarzen Himmel wanderte ein junger Mann einsam in der Richtung von Marchiennes nach Montsou auf der Landstraße dahin, welche

Das Telefon. Olscha.

«Was ist denn los?» knurrte Mannhardt ungnädig.

«Brockmüller und Zumpe haben auch nichts gefunden.»

«Scheiße, verfluchte!»

«Aber was anderes…» Olscha raschelte mit Papier. «Die haben doch noch mal Kuhrings Wohnung durchsucht, nach Spuren, ob Owi da auch was vorbereitet hatte, um…»

«Ja, das weiß ich doch!»

«Und… Lassen Sie mich doch mal ausreden!»

«Bitte!» Blödmann! Seit der in der Gewerkschaft war und sich bei den GdP-Fritzen angebiedert hatte, war er ganz schön aufmüpfig geworden. Der hatte es gerade nötig, der Armleuchter! Nach der Panne mit Kuhring.

Olscha blieb unbeirrt. «Unter anderem sind sie darauf gestoßen, daß es bei Kuhring in der Wohnung eine wunderschöne Möglichkeit gab, den Herrn Abteilungsdirektor mit Hilfe eines kleinen Unfalls ins Jenseits zu befördern…» Und umständlich berichtete er von dem Handgriff über der Badewanne, den beiden Bolzen, die durch die Wand hindurch ins Schlafzimmer gingen und von der defekten Verlängerungsschnur. «Man hätte nur die blanken Drähte auf die beiden Schrauben zu legen brauchen und…»

«Hätte!» Mannhardt schrie fast. Sie mußten die entscheidende Passage in einem von Owis Büchern finden, es ging um Sekunden, und dieser Kretin da hielt ihn mit diesem nebensächlichen Quatsch auf. «Wo ist denn nun die Pointe bei der Sache?»

«Die Pointe ist die… Ich war doch bei der Feier bei Kuhring dabei, dieser Protestfeier, und erinnere mich noch genau, daß Kuhring den Brockmüller ins Schlafzimmer geschickt hat, um irgendwelchen Schnaps zu holen…»

«Ja – und?» Es war zum Kotzen!

«An Kuhrings Wecker sind eine Menge Fingerabdrücke von Brockmüller gefunden worden…»

Mannhardt war plötzlich hellwach, begriff sofort, was da… Das wäre genial gewesen. Aber das Motiv, das Motiv?

«Und noch was…» Olschas Stimme überschlug sich fast. «Vorhin in der Mansfelder Straße, im Büro, da kam mir Brockmüller mächtig verstört vor… Ich hab so den Eindruck, der hat die Seite 76 gefunden und weiß, wo Owis Aufzeichnungen stecken.»

Mannhardt sah auf einmal Land.

«Wo steckt denn Brockmüller jetzt?»

«Mir hat er gesagt, er fährt nach Hause, um da in seinen eigenen Büchern nachzusehen.»

«Hm…» Mannhardt schwankte. War das vorstellbar? War das nicht einfach zu phantastisch? Machte er sich lächerlich, wenn er etwas unternahm, oder gab’s da Lorbeer zu ernten? Schon wollte er Olscha sagen, daß das alles Hirngespinste seien, aber dann stand wieder Owi vor ihm, das krankhafte Genie… Zuzutrauen war’s ihm schon, daß er die Fäden so gesponnen hatte. Wenn Olscha recht hatte, wenn Brockmüller wußte, wo Owis Aufzeichnungen steckten – warum hielt er dann den Mund? Doch nur, um sie als erster und vielleicht einziger in die Hand zu bekommen. Und warum? Weil von dem, was drinstand, kein anderer wissen durfte. Und wenn das mit seinen Fingerabdrücken auf Kuhrings Wecker und der idealen Gelegenheit zu einem Mordversuch richtig war, dann konnte man auch absehen, was in Owis Aufzeichnungen stand: daß nämlich der Brockmüller dem Kuhring – aus welchen Gründen auch immer – ans Leder wollte.

Und wenn nun nicht Ossianowski die Vitaminkapseln mit Zyannatrium gefüllt hatte, sondern Brockmüller, und Owi in seiner genialen Gerissenheit nicht nur das, sondern auch die Reaktionen der Kriminalbeamten vorausgesehen hatte, dann…

«Hallo, Herr Mannhardt, sind Sie noch dran?»

«Ja doch!» Mannhardt mußte sich entscheiden, jetzt, blitzschnell. Und er tat es, wenn auch widerwillig. «Hören Sie, Olscha, Sie setzen sich in Ihren Wagen und fahren zu Brockmüller raus, ich komme auch hin… Ach, Scheiße, eh ich hier von Kladow aus drüben bin, bei dem Berufsverkehr durch Spandau durch… Die sollten doch endlich mal ‘ne Brücke bauen!»

«Nehmen Sie doch die Fähre.»

«Das dauert doch ewig. Aber warten Sie… Rufen Sie mal bei der Wasserschutzpolizei an, die sollen mir ein Boot zur Anlegestelle nach Kladow schicken; da bin ich in drei Minuten mit dem Auto da. Wenn die Knaben nicht spuren, dann soll Dr. Weber mal Dampf dahinter machen.»

«Mach ich.»

«Sie warten dann drüben in Wannsee am BVG-Anleger auf mich, ja?»

«Oder Sie auf mich.»

«Schön; in vierzig Minuten müßten wir’s schaffen!» Mannhardt warf den Hörer auf die Gabel und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Koch schaute herein. «Was ist denn los?»

«Wahrscheinlich weiß Brockmüller, wo Owis Aufzeichnungen stecken. Ich laß mich jetzt nach Wannsee übersetzen und seh mal nach, was er macht. Mit Olscha zusammen. Du schmeißt inzwischen den Laden hier. Sollte hier was passieren, was wir wissen müssen, dann über Funk… Also: Tschüs!» Mannhardt fegte hinaus.

O Wunder, die Wasserleichensucher waren wirklich zur Stelle, als er die Anlegestelle am Rohrsängersteig erreichte. Viel gaffendes Publikum an den Stegen der Stern- und Kreisschiffahrt – alles wollte heim zur Freybrücke; Spandau, Heerstraße.

Nach einer ebenso kurzen wie förmlichen Begrüßung setzte er sich ans Heck und gab den beiden Knaben zu verstehen, daß er keine Lust zum Quasseln hatte. Bloß mal zehn Minuten Ruhe!

Ab ging’s. Motorlärm wie auf einem Seenotkreuzer… Ein Segelboot müßte man haben und was zum Fummeln an Bord.

An dieser Stelle mußte er damals, 1953 mit Annegret über den Wannsee gepaddelt sein, im Leihboot natürlich. Siebzehn Jahr, blondes Haar. Alles noch Traum, alles noch Hoffnung. Daran gemessen war er längst gestorben. Na und?

Träumen zu können, das war die große Kraft, die ihn weiterleben ließ, die Chance, in bewußt geweckten Träumen alles zu erleben, was die Welt zu bieten hatte. Erfüllte Science-fiction-Visionen en masse, Reisen in die Zeit, vor und zurück, Entmaterialisierung des eigenen Körpers und neue Materialisierung auf fernen Kontinenten und Planeten, das Hineinschlüpfen in Heroen, die noch lebten oder längst gestorben waren. Opium, alles Opium; aber wie anders ließ sich diese Welt ertragen? Er wollte immer nur fliehen, ohne Ziel, nur immer fliehen, und er war Kriminaloberkommissar in Berlin (West), verheiratet, 2 Kinder, festgelegt auf diese Rolle – jahraus, jahrein. Und verdiente gut, war ein echter Kumpel und erfolgreich, besaß ein Haus im Grünen und haufenweise Krempel, erlebte viel und…

«Wir sind da!»

Wo denn…?

«In Wannsee drüben.»

Wannsee…?

«Drüben ist der Bahnhof.»

Was sollte er am Bahnhof Wannsee?

«Ihr Kollege wartet sicher schon.»

Ach so – Olscha. Brockmüller. Ossianowski. Das versteckte Manuskript. Die Realität.

Olscha, dieser verkümmerte Wikinger, war natürlich noch nicht eingetroffen… Olscha wirkte irgendwie knabenhaft und mickrig – trotz seiner 25 Jahre und seinen 1,75. Ein Typ wie… wie ein Jockey oder so. Offensichtlich hatte er sich auch aufs Pferd geschwungen und war hergeritten.

Mannhardt hatte das Gefühl, eben in einer wildfremden Stadt angekommen zu sein, und keiner am Bahnhof, der ihn abholte. Sein Haus, Lilo und die Kinder – alles nur Wunschträume eines Tramps? Hatte er eine Frau? War er Beamter? Wachte er gleich auf, und… Mannhardt schüttelte heftig den Kopf, um die Spinnweben zu zerreißen, die alles verschleierten. Passanten drehten sich nach ihm um.

Er starrte auf die Scharen der Schwäne und Enten herab. Ein Motorschiff, ganz Plexiglas, schluckte die unruhige Menge, die sich vor und auf dem Steg zusammendrängte. Der martialische Kahn der Wasserschützer dröhnte davon.

Wenn er weiter hier herumstand, drehte er tatsächlich noch durch. Also los – rein in die Telefonzelle gegenüber; Brockmüllers Nummer, Band A bis L…

Am Apparat war seine Frau; Annelie.

«Ja, guten Abend, Frau Brockmüller. Könnte ich mal Ihren Gatten sprechen?» Gatten! Wer sagt schon Gatten. Kann ich mal den werten Herrn Gatten…

«Ich muß mal sehen. Moment bitte.»

Wenn er nicht zu Hause war, brauchten sie nicht erst vor dem Haus auf ihn zu warten… Mußten die ‘ne Riesenwohnung haben! Das dauerte ja… War er womöglich schon unterwegs? Dann gute Nacht, Marie!

«Er kommt sofort.»

«Ja, danke.» Mensch! Wenn Brockmüller nun wirklich…

Brockmüller meldete sich, und er klang derart nervös, daß auch ein Schwerhöriger gemerkt hätte: Achtung, hier stimmt was nicht! So sprach ein Kind, das seinem Vater zwanzig Mark aus dem Portemonnaie geklaut und dann nach dem ersten Verhör in plötzlicher Panik den Schein unbemerkt unter den Aschenbecher geschoben hatte, um nun seine Unschuld zu beteuern – siehe Michael Mannhardt letzte Woche… Und das bei einem Vater bei der Polizei.

«… nein, Herr Mannhardt, tut mir leid, ich habe auch zu Hause nichts gefunden – bisher noch nicht…»

«Dann suchen Sie doch bitte weiter, Herr Brockmüller.» Das Doktor schenkte er sich. Hoffentlich blieb der Eierkopp so lange zu Hause, bis Olscha endlich auftauchte. «Wir hoffen immer noch auf Sie…» Scheiße, war wohl ‘n bißchen deutlich.

«Ich melde mich sofort, wenn…»

«Okay. Und Tschüs!» Aufgelegt und basta. Wenn der Gute wirklich getan hatte, was sich da abzuzeichnen schien, gebührte ihm der Titel Mörder des Jahres. Blieb nur die Frage: Warum? Ossianowski schien es gewußt zu haben.

Wenn nur dieser schwachsinnige Olscha… Da war er ja!

«Der Verkehr…» sagte er entschuldigend.

Mannhardt quetschte sich auf den Beifahrersitz. «Ab die Post! Ich hab eben angerufen – noch hockt er zu Hause. Aber wer weiß, wie lange.»

«Hat er was gefunden?»

«Nee. Kunststück…»

«Sie meinen also, er weiß zwar, wo Ossianowski die Aufzeichnungen versteckt hat, ist aber noch nicht dazu gekommen, sie aus dem Versteck zu holen?»

«Da gibt’s zwei Möglichkeiten», sagte Mannhardt mit einem Schuß Herablassung. «Entweder Brockmüller hat das Manuskript schon – oder er hat’s noch nicht. Immer vorausgesetzt, er hat die richtige Seite 16 gefunden und…» Er mußte gähnen. Kein Wunder. «… und… und…» Nun hatte er den Faden verloren.

Olscha dachte weiter. «Hat er es noch nicht, dann sollten wir warten, bis er es holt, uns also in der Nähe seiner Wohnung aufhalten… »

Ein kluger Kopf, dachte Mannhardt. Könnte direkt hinter der FAZ stecken.

«… hat er es aber schon, dann sollten wir uns mal bei ihm zu Hause umsehen.»

«Ja, natürlich.» Mannhardt wurde sarkastisch, ohne zu wissen warum: «Sicherlich hängen die entscheidenden Seiten schon eingerahmt bei ihm an der Wand!» Koch fehlte ihm. Lieber ein blöder und blödelnder Koch als ein schlauer und schlaumeiernder Olscha. Immerhin hatte Olscha entdeckt, daß Brockmüller möglicherweise in Kuhrings Wohnung einen Mordversuch vorbereitet hatte… War schon ein pfiffiges Bürschchen. Wenn Brockmüller tatsächlich dem Kuhring Gift unter die Vitamine gemischt hatte, würde Olscha zu Dr. Webers liebstem Jünger avancieren. Der Alte liebte solche Typen, insbesondere, wenn sie den richtigen Riecher hatten.

Na ja.

Sie hielten in der Conradstraße, von einem Lieferwagen verdeckt, Brockmüllers Hauseingang voll im Blickfeld.

«Ob er noch da ist?»

Mannhardt gab sich bissig. «Vielleicht ist es sein Zwillingsbruder, der da auf dem Balkon mit der lieben Annelie herumturnt.»

«Ah ja! Aber der gießt seine Geranien und sucht nicht in seinen Büchern herum. Das heißt also, er hat schon was gefunden.»

«Oder er hat’s aufgegeben.»

Olscha demonstrierte den neuen Typ des Beamten: risikofreudig und voller Tatendrang. «Ich bin ja dafür, daß wir zu ihm raufgehen, ihn ausquetschen und uns, wenn er den Mund nicht aufmacht, alles ansehen, was er an Büchern da hat. Der Kerl, der ist bestimmt nicht ganz astrein.»

Mannhardt schwankte ein Weilchen, dann entschied er sich. «Nee, kommt nicht in Frage. Wenn wir uns geirrt haben, sind wir blamiert bis in alle Ewigkeit.»

«Ich weiß nicht…»

«Ich aber!»

Es knisterte ein bißchen zwischen ihnen, und Mannhardt zog es vor, lieber mit zielgerichteter Phantasie die vorbeigehenden Frauen und Mädchen zu mustern, als mit seinem sehr verehrten Kollegen Olscha weiterzudiskutieren… Was da so alles rumlief! Und er hockte tatenlos in Olschas stickiger Blechbüchse. Zehn Minuten, fünfzehn Minuten, zwanzig Minuten, fünfundzwanzig Minuten, dreißig Minuten, fünfunddreißig Minuten. Überall aßen sie Abendbrot; Fernsehschirme flimmerten.

Olscha begann leise zu singen: «Oh, wie wohl ist mir am Abend, mir am Abend – wenn die Abendglocken läuten: bimm, bamm, bimm, bamm. Ist das nicht herrlich – dieser Sonnenuntergang…»

«Tut mir leid, ich muß dringend pinkeln!»

«Mir ist es schon wieder vergangen.»

«Bis neun bleiben wir noch hier, dann kommt Koch uns ablösen.»

Olscha stellte den Polizeifunk ein, aber das Gequake machte sie noch mürrischer. Informationen gab’s auch keine neuen mehr.

Da stand Brockmüller plötzlich in der Haustür, sah sich kurz nach links um und ging dann mit schnellen Schritten auf die Königsstraße zu.

«Da ist er!» rief Olscha.

Mannhardt, obwohl ebenfalls elektrisiert, zischte: «Mensch, ich würde noch das Megafon nehmen!»

Sie standen aber so günstig, daß Brockmüller sie, zumal die Dämmerung ziemlich schnell hereingebrochen war, auf keinen Fall entdecken konnte.

«Der macht bloß seinen Abendspaziergang», sagte Mannhardt.

«Ohne seine Frau?»

Unwahrscheinlich, zugegeben. Mannhardt mußte Olscha zustimmen. Mit Lilo hatte er jeden Abend seine Runden gedreht, als Michael und Elke unterwegs waren – undenkbar, daß er allein gegangen wäre. Aber vielleicht holte Brockmüller nur Zigaretten?

Nee, tat er nicht. Er steuerte auch nicht auf die Kneipe zu, die unten im Bahnhofsgebäude untergebracht war. Er ging unter der S-Bahnbrücke hindurch und stieg die steile Treppe zum Wald hinauf.

«Also doch der Abendspaziergang», sagte Mannhardt.

«Anhalten und hinterher», sagte Mannhardt, und Olscha bremste auch schon.

Minuten später begannen sie, etwas außer Atem, ihre sonderbare Wanderung durch den Forst von Düppel: Stahnsdorfer Damm überquert, Revierförsterei Dreilinden linkerhand liegengelassen, den Kurfürstenweg erreicht, Marsch in Richtung Steinstücken fortgesetzt. Zack, zack! Immer am Mann geblieben. Laue Sommernacht, ein paar Männer mit Hunden unterwegs, Liebespaare – vor und nach. Hinter ihnen wisperten sie. Schwule wohl, was?

Brockmüller immer in Sichtweite. Offensichtlich lief er nicht ziellos durch die Gegend, sondern wußte genau, wohin er wollte.

Ein Kreuzweg, Jagen 27, Jagen 28. Brockmüller hielt Kurs auf den dunkel aufragenden Bahndamm vor ihnen.

«Die Strecke nach Stahnsdorf», sagte Olscha. «Längst stillgelegt, seit 52 wohl. Da wachsen jetzt zwei Meter hohe Birken zwischen den Schienen.»

Gab’s was, was dieser Olscha nicht wußte?

Brockmüller blieb stehen; sie schlüpften in eine kleine Schonung. Mannhardt benutzte die Gelegenheit und pinkelte endlich.

Brockmüller hatte unterdessen den Bahndamm erklettert; jetzt bewegte er sich auf die Brücke zu, die den sandigen Wanderweg überspannte. Seine Silhouette vor dem schmutzigroten Abendhimmel erinnerte an Western-Filme (Eastman-Color). Fehlte bloß das Pferd… Was einem so alles einfiel.

«Was will der denn da oben?» fragte Olscha, der Hilfssheriff.

«Sich vor ‘n Zug werfen…» brummte Mannhardt. «Bloß schade, daß vor 1990 keiner kommt.»

«Pst!»

«Hier!» Mannhardt tippte gegen die Stirn. «Bei Ihnen piept’s wohl.» Machte der halbe Hahn ihm Vorschriften!

Brockmüller legte Rast ein; war ja auch ein schöner Aussichtspunkt. Mal so ‘n bißchen mit sich ins reine kommen und den ganzen trouble vergessen.

War wohl alles Quatsch, was sie da zusammenkombinierten. Dieser Olscha mit seinen Fingerabdrücken. Idiotisch!

«Sehen Sie mal…!»

Brockmüller wühlte plötzlich im Schotter herum.

Also doch!

Über ihnen ein Käuzchen.

In der Kuhle nebenan lachte ein Mädchen.

Ein Flugzeug zog nach Westen. Lautlos grün und rot.

Sekundenlang war es still bis auf das Zirpen der Grillen.

Jeden Augenblick mußte Brockmüller das Manuskript – einen Schnellhefter vielleicht, ein Tagebuch – in den Händen halten. Sie spannten schon die Muskeln, um loszuspurten, notfalls die Waffen zu ziehen und…

Da!

Ein Feuerschein. Eine scharfe Detonation. Dann ein langgezogener Schrei.