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Mannhardt wühlte in seinem Schreibtisch herum, warf abgebrochene Bleistifte, leere Kugelschreiberminen, vergammelte Plastikbeutel, zerknüllte Lottoscheine und noch andere Souvenirs dreier begeisternd schöner Dienstjahre von einer Schublade in die andere und fand dann endlich das rotweiße Blechröhrchen, das er suchte. NEDO-Med-Schmerztabletten. Wenn’s schlecht dir geht, nimm NEDO-Med. Er schüttelte das Röhrchen – es waren tatsächlich noch ein paar drin. Na also! Haste Glück, machste dick, pflegte Koch zu sagen. NEDO-MED ist seit Jahrzehnten bewährt bei Kopfschmerzen – aha! –, Zahnschmerzen, Monatsbeschwerden – das konnte’s bei ihm kaum sein –, Rheumaschmerzen – auch nicht –, Grippe – dagegen war er als pflichtbewußter Beamter geimpft –, Nikotin- und Alkoholkater… Ja, das war’s! Er ließ eine der weißen Tabletten in ein schartiges Glas plumpsen und wartete, bis sich das Zeug auflöste. Um die Sache zu beschleunigen, nahm er das Glas hoch und schüttelte es. Dabei ruhte sein Blick auf einem Plakat, das ihm die Kollegen zum letzten Geburtstag geschenkt hatten: BEI MIR HERRSCHT ORDNUNG – EIN GRIFF, UND DIE SUCHEREI GEHT LOS. Gott, wie humorvoll sie alle waren!

Seine Kopfschmerzen waren so unerträglich, weil er zugleich fürchterlich überdreht und unsagbar müde war. Einnicken konnte er nicht, weil seine Gedanken quälend kreisten, und seine Gedanken kreisten quälend, weil er nicht einnicken konnte. Und es hätte ja auch jemand ins Zimmer kommen können. Schlaf bei der Arbeit ist ein Grund zur fristlosen Kündigung. Das gilt besonders dann, wenn der entlassene Arbeitnehmer schon mehrfach wegen nachlässiger Arbeitsmoral ermahnt worden ist. Bundesarbeitsgericht – 2 ASZ 386/71. Koch hatte es letzte Woche dem Kollegen Rannow heimlich auf den Schreibtisch gelegt – der Gute tobte heute noch.

Mannhardt stürzte die chininbittere Flüssigkeit hinunter. Wenn’s ihm nicht half, dem Hersteller hatte’s schon geholfen.

Wäre er doch bloß nicht zu diesem Scheißklassentreffen gegangen! Sechzehn Klare und acht Pils waren für einen wie ihn, der keine Übung hatte, geradezu tödlich. Aber Lilo, von seinem nächtlichen Radau erzürnt, hatte ihn trotz aller Proteste um sechs aus dem Bett gescheucht: Strafe muß sein!

Wir treffen uns am 8.8. um 8 Uhr (abends) in der ‹Achterbahn›… Lilo hatte es für nützlich gehalten, daß er sich mal wieder bei seinen alten Freunden sehen ließ. Du kannst dich nicht immer ausschließen! Von 21 Eingeladenen waren 16 gekommen, genau 76,2 Prozent. Manfred hatte das ausgerechnet, ihr letzter Klassensprecher, heute Mathematik-Professor an der FU. Enorm! Nicht daß er das ausgerechnet hatte, sondern die hohe Beteiligung. Von den fehlenden fünf war einer inzwischen verstorben, Autounfall, einer lag im Krankenhaus, nichts Ernstliches, und die anderen drei hatten es nicht für nötig gehalten, Manfred zu antworten. 16 Mann im Hinterzimmer der Achterbahn. Manche von weither gekommen – Jahresurlaub in Deutschland mit einem Abstecher nach Berlin. Was für ein Jahrgang – alle was geworden… Na, fast alle. Wenn er richtig rechnete, lag er auf Platz 14. Vor ihm der Professor, ein Facharzt (HNO), drei Studienräte, ein Rechtsanwalt, ein Jugendrichter, drei Ingenieure – ein Dr.-Ing. und zwei Dipl.-Ing. –, ein Apotheker, ein Generalvertreter (Weinbrand), ein Prokurist (Maschinenbau) und ein Oberregierungsrat (Senator für Inneres). Dann kam er als Beamter des gehobenen Dienstes. Hinter ihm lediglich Benno, der ewig Musik studierte und dessen Sinfonien keiner spielte, und Günther, der nach zwei gescheiterten Ehen völlig abgesackt war und nun bei Karstadt Teppiche verkaufte.

Platz 14. Eine traurige Bilanz. Wenn man Bundesligamaßstäbe anlegte: Abstiegsgefahr. Vielleicht waren die sieben, die Manfred in keinem Adreßbuch gefunden hatte, noch schlechter dran als er. Ein schwacher Trost…

Alle vor ihm. Er nicht mal Hauptkommissar, und an den Sprung in den höheren Dienst war gar nicht zu denken. 3000 Mark im Monat, sein Traumziel – das war für die anderen ein Klacks. Und dabei steckte er sie, was Intelligenz anbetraf, alle in die Tasche. Alle. Von Manfred mal abgesehen…

Mannhardt fühlte sich immer elender. Er stürzte zum Waschbecken, um sich zu übergeben, aber es kam nichts.

Er setzte sich wieder und starrte auf die Akten, die er studieren sollte. Ein Mord an einem Homosexuellen, an dem sie sich seit Wochen die Zähne ausbissen, also nicht an dem ‹Mann› selber, und die verweste Leiche aus dem Hermsdorfer Forst, eine gewisse Ilona Mönkemeyer, die keiner richtig gekannt hatte. Zweckdienliche Hinweise nimmt die Kriminalpolizei und jede Polizeidienststelle entgegen… Das Entgegengenommene wog schon mehrere Kilo, hatte sich aber bisher noch nicht als zweckdienlich erwiesen; die Täter erfreuten sich noch immer ihrer Freiheit, wie Bild gemeldet hatte.

Mannhardt hielt es für das Beste, auf den Z-und-Z-Effekt zu bauen (Zeit und Zufall). Und da er seine und Kochs Morgenzeitung schon gelesen hatte, aber um Gottes willen nicht einschlafen durfte, zog er den Band 11 seiner Fontane-Gesamtausgabe aus der Aktentasche. Frau Jenny Treibet… Bis Weihnachten wollte er mit Fontane durch sein, wenigstens mit den wichtigsten Romanen. Aber zu Hause kam er nicht zum Lesen; entweder er mußte den Rasen mähen und die Regenrinne reparieren oder mit Elke Federball und mit Michael Tischtennis spielen. Für den Rest der Zeit hatte Lilo ihn gepachtet.

Das Lesezeichen, ein Schnürsenkel, den er vor Wochen und an irgendeinem Tatort eingesteckt haben mußte, ließ ihn die Seite 50 aufschlagen. Unter den letzten, die, den Vorgarten passierend, das kommerzienrätliche Haus verließen, waren Marcell und Corinna. Diese plauderte nach wie vor in übermütiger Laune… Jetzt mit einem Mädchen wie Corinna durch den Tiergarten rudern, sie ihm gegenüber auf der hinteren Bank, im Mini…

Er hatte kaum drei Zeilen gelesen, da wurde die Tür seines Büros aufgerissen.

«Aufwachen!»

Mannhardt stöhnte. Seit man Koch vom Kriminalmeister zum Kriminalobermeister befördert hatte, war er nicht mehr zu halten. Er grinste, als er Mannhardts Schreibtisch erreicht hatte.

«Draußen im Gang liegt ein Toter!»

Mannhardt wandte sich ab und schloß die Augen. Kochs Blödeleien gingen ihm langsam auf die Nerven. Zum Teufel mit allen Kollegen. Teamarbeit? Scheiße! Einmal im Leben was alleine machen können, mit keinem vorher und während und nachher rumquatschen müssen… Koch war ja ein netter Kerl, aber seine Munterkeit machte einen krank.

Ein verkorkster Tag heute.

Das Telefon schnarrte. Sicherlich Lilo. Liebling, weißt du vielleicht, wo ich meine Sonnenbrille hingelegt habe? Er hatte ihr hundertmal gesagt, sie möchte ihn nicht andauernd im Dienst anrufen. Er riß den Hörer hoch und brummte:

«Ja – Mannhardt…»

Doch es war nicht Lilos überdrehter Sopran mit einer Suchmeldung, sondern ein leicht krächzender Bariton:

«Du wirst es nie zu Tücht’gem bringen bei deines Grames Träumerein, die Tränen lassen nichts gelingen, wer schaffen will, muß fröhlich sein.»

Dr. Weber, seines Zeichens Kriminaloberrat, sein Vorgesetzter. Mannhardt war verblüfft. Was sollte das?

«Steht auf meinem Abreißkalender heute», sagte Dr. Weber. «Wissen Sie, von wem das ist?»

«Nein.»

«Sollten Sie aber!»

«Ich?» Mannhardt schwitzte; sie alle fürchteten Webers Einleitungen. «Wieso?»

«Na, ich bitte Sie! Was dem Maigret die Pfeife, ist dem Mannhardt der Fontane.»

Mannhardt wurde rot. Mein Gott, das hatte sich nun auch schon rumgesprochen, daß er im Dienst… «Ich… ich…» Absolute Leere; keine geistreiche Erwiderung. Die fiel ihm totsicher heute abend ein.

«Nun», lachte Dr. Weber, «besser den Fontane geöffnet als die Fontanelle! Sagen Sie, wo war Fontane bei seinen Wanderungen durch die Mark überall?»

Mannhardt überlegte. «Rheinsberg, Chorin… die Klöster… Königswusterhausen…»

«In Kladow draußen nicht?»

«Nein, nicht daß ich wüßte.»

«Schade – sonst könnten Sie mal dienstlich auf seinen Spuren wandeln. Gößweinsteiner Gang heißt die Straße. Da hat man einen Mann in seiner Blutlache gefunden…»

Koch, der mithörte, grinste und murmelte: «Sage ich doch: draußen im Gang liegt ein Toter.»

Mannhardt sah ihn drohend an und wandte sich zum Fenster. «Soll ich sofort rausfahren, Herr Doktor?»

«Das wäre zu überlegen. Sie können auch 1984 fahren, aber da hat’s vielleicht nicht mehr viel Sinn…»

Es kamen noch ein paar Informationen, die Mannhardt kaum noch wahrnahm; dann knackte es, und Dr. Weber hatte aufgelegt.

Mannhardt starrte aus dem Fenster. Sein Leben war ein einziger Alptraum. Obwohl er sich schon tausendmal vorgenommen hatte, zu kontern und Weber seinen Sarkasmus mit gleicher Münze heimzuzahlen: jedesmal drehte er von neuem durch, jedesmal war irgendwas in seinem Großhirn blockiert.

Dasselbe wie vor zwanzig Jahren beim Abitur, als er während der Englischprüfung, den bissigen Schulrat zwei Meter und die Fünf drohend vor sich, den Satz Honesty is the best policy in seiner Not und Verzweiflung statt mit Ehrlich währt am längsten mit Die Polizei kommt mit Ehrlichkeit am weitesten übersetzt hatte. Das schallende Gelächter der Pädagogen hatte er noch heute in den Ohren… Das System hatte ihn zur Sau gemacht. Und noch 26 Jahre bis zur Pensionierung und vielleicht 30 oder 40, bis ihn der kühle Rasen deckte. Der in Kladow, der hatte’s schon hinter sich.

«Wir sollten los, sonst ist der Gute verwest, ehe wir da sind», sagte Koch.

«Ja…» Mannhardt stand auf wie ein alter Mann. Opa Mannhardt. Statt der Kopfschmerztablette hätte er eine gegen Depressionen schlucken sollen. Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heiteren Stunden nur. Bei Lichte besehen, ging’s mindest ‘ner Milliarde Menschen schlechter als ihm, wenn nicht noch mehr. Reiß dich am Riemen, Mannhardt! Er zog sein Jackett über und trat auf den Flur hinaus. Koch folgte ihm.

Koch war dafür, daß sie in seinem VW fuhren. «Das erspart uns erstens den Kampf um den Dienstwagen, und zweitens kann ich bei der Abrechnung noch ein paar Pfennige rausschlagen.»

«Meinetwegen», knurrte Mannhardt. Ihm war, als liefe er über ein Trampolin; er mußte sich einen Augenblick am Treppengeländer festhalten. Ausgerechnet heute! Er hätte sich so schön hinterm Schreibtisch erholen können – und nun das. Und auch noch in Kladow draußen!

Koch fuhr zum Großen Stern hinauf und dann die Ost-West-Achse entlang – Straße des 17. Juni, Bismarckstraße, Kaiserdamm und Heerstraße. Er hatte gestern abend beim Baden im Halensee Marie-Louise kennengelernt, 22, MTA im Virchow-Krankenhaus und unheimlich scharf. Die Weichen waren gestellt, heute nacht konnte’s losgehen. Um 20 Uhr waren sie am Wittenbergplatz verabredet. Obwohl die Vorfreude in diesem Falle sicherlich nicht das Schönste war, genoß er sie und pfiff sein ganzes Schlagerrepertoire vor sich hin; von den Hamburger Nächten, die so lang waren, und vor allem und immer wieder: In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine…

«Bei dir ist auch gleich Nacht», knurrte Mannhardt. «Dann hab ich nämlich meinen ersten Mord begangen.»

«Mensch – hast du eine Laune heute!»

Koch war ein bißchen eingeschnappt, erzählte aber nichtsdestoweniger, was Mary-Lou für ‘ne Figur hatte, wie braun sie war und daß sie verdammt gut Federball spielen konnte. Für ihn was ungeheuer Wichtiges.

Mannhardt muffelte vor sich hin: «Man sollte dich kastrieren.»

Sie überquerten die Havel; tief unten auf dem gleißenden Quecksilber des Stößensees, nur mit zusammengekniffenen Augen erkennbar, vier, fünf Segelboote. Die hatten’s gut! Von seinen paar Mark konnte er sich kein Segelboot leisten. Und wenn er eines gehabt hätte, dann bestimmt keine Bootsfahrt mitten in der Woche. Auf ihn wartete keine braungebrannte Schönheit mit einer Schildkrötensuppe, unten in der Kombüse gekocht; auf ihn wartete ein Mann mit einer Kugel im Kopf und x Litern Blut um sich herum, geronnen.

Hinter Picheisdorf bogen sie links in die Gatower Straße ein und fuhren mehrere Kilometer nach Süden, mal dichter an der Havel entlang, mal weiter landeinwärts. Hin und wieder gaben Bäume und Häuser den Blick frei auf die Hügel am anderen Ufer, auf die Kiefern, auf den backsteinroten Grunewaldturm. Picheiswerder hatten sie passiert, bis Sakrow war’s nicht mehr weit, aber schon DDR. Das war ‘n Tag für Fontane gewesen! Ich hielt es früher mit Wieland und Herder, jetzt bin ich für Sakrow und Picheiswerder… Aber dies war keine Landpartie im Kremser, sondern eine Dienstfahrt im klapprigen VW, und am Ende wartete kein fröhliches Picknick, sondern eine langsam erstarrende Leiche.

Dann erreichten sie Kladow, und Koch hatte einige Schwierigkeiten, den Gößweinsteiner Gang zu finden, was er damit entschuldigte, in dieser Gegend noch keine Freundin gehabt zu haben.

«Ich weiß auch nur, daß Balthasar Neumann in Gößweinstein ‘ne berühmte Kirche gebaut hat, mehr weiß ich auch nicht.»

«Ich weiß nicht mal, wer Balthasar Neumann war.»

Da Koch seinen Stadtplan im Büro vergessen hatte, fragten sie einen freundlichen älteren Herrn, der gerade seinen Dobermann spazierenführte. Es stellte sich heraus, daß das ihr behördlicher Büromöbellieferant war. So ‘n Zufall! Aber so wurden sie wenigstens eingehend informiert.

«Gößweinsteiner Gang…? Da ist gerade jemand ermordet worden, da kommen Sie zu spät, Herr Kommissar.»

«Wo ist es denn nun?»

«Da wo die ganzen Leute rumstehen – dritte Querstraße links, dann fast bis zum Wasser runter…»

«Danke.»

Eine schöne Gegend. Ein leichter Hang, Blick aufs schimmernde Wasser, auf einige Inseln, Kälber-Werder, Schwanenwerder, die Pfaueninsel. Am Großen Tiefehorn vorbei konnte man weit drüben einen hellen Sandstreifen erkennen – das Strandbad Wannsee.

Die Nr. 185 war ein weißgekalktes, zweistöckiges Spielzeughäuschen, eingerahmt von Birken, Kiefern und Trauerweiden. Mit Grundstück gut und gerne seine 300000 Mark wert. Das mußte der Mann geerbt haben, so was bekam man mit keinem Bausparvertrag zusammen. Jedenfalls war er tot. Reichtum schützte vorm Sterben nicht – welch schöner Trost.

Etwa zwanzig Leute standen vor dem länglichen Grundstück, dazu ein Haufen Kinder. Mal ein Tatort richtig live und ein Toter, den man kannte. Nur gut, daß es einen selber nicht erwischt hatte. Na ja, schließlich führte man ja auch ein anständiges Leben und hatte noch alle Tassen im Schrank.

Der Kollege Streifenbeamte, der sich vor dem Tor aufgebaut hatte, hielt sie für Pressefritzen und machte Sperenzien. Koch hielt ihm seine Marke unter die Nase, und der Mann machte plötzlich auf devot; konnte ja sein, daß sie einen Draht zu seinem Vorgesetzten hatten. «Die Herren von der Spurensicherung sind schon da…»

«Danke.» Mannhardt kam sich plötzlich wichtig vor und lächelte sogar. Na und? Was sprach dagegen, daß er diesen Auftritt genoß?

Sie kamen in den Windfang; zwei Kollegen begrüßten Mannhardt gleichzeitig. Vorn im Wohnzimmer blitzte es, in der Diele schrillte das Telefon, auf der Terrasse klapperten die Männer mit dem Blechsarg, einer von der Spurensicherung betupfte die Türklinke mit weißlichem Pulver, irgendwo unten auf der Havel tutete ein Dampfer, in der Küche knallte ein Fenster zu, im Garten bellte ein Hund; Koch drückte auf einen Schalter, und in der Diele flammte eine 100-Watt-Birne auf, die in einem Totenschädel montiert war… Ein Dutzend Reize auf einmal, aber Mannhardt genoß es. Das putschte auf, das pustete seine düsteren Gedanken hinweg. Für Augenblicke wenigstens.

Es roch muffig hier, nach faulenden Kartoffeln und nach Altersheim. Überall Trödel. Neben der Toilettentür eine Schaufensterpuppe im eleganten Cocktailkleid. In ihrem ausgehöhlten rechten Auge steckte der Kellerschlüssel.

War er immer noch betrunken?

«Plemmi-plemmi, was?» fragte Koch.

«Wer?»

«Na, der hier.»

Mannhardts Kopf war eine Buschtrommel, und irgendwer schlug darauf seine Nachricht: Alles nur Einbildung, alles nur Einbildung! Geisterbahn. Mausoleum. Krematorium. Irrenanstalt. Panoptikum. Alles zerfloß, sein Hirn löste sich auf wie ein Tropfen Tinte in einem Wasserglas.

«Was ist denn?» Koch stützte ihn.

«Nichts!» Mannhardt stieß ihn zur Seite. «Ich bin hier auf diesem Scheißteppich ausgerutscht.»

Es ging wieder. Es mußte gehen… Nie wieder Alkohol! Vor zwanzig Jahren hätte er nach solcher Nacht noch Bäume ausreißen können, aber jetzt… Und dann so was Blödes hier!

Koch bahnte ihm den Weg durch die Diele, und endlich konnte er einen Blick in das Zimmer werfen, in dem der Tote lag.

Ein verrücktes Bühnenbild.

Kreideweiße Wände, und alles voller Blumen. Sträuße über Sträuße; Hunderte von Nelken wohl, Rosen, Gladiolen und wie das Zeug noch hieß. Jetzt schlug ihnen süßlich-tropischer Duft entgegen.

Auf dem gewachsten Parkett ein rothaariges Männchen in einem viel zu knappen Smoking. Ein Clown mit einem Loch im Kopf.

Um ihn herum ein See aus Blut und Cognac.

Ein umgestürzter Stuhl, eine ausgelaufene Flasche und ein hoher, sehr stabiler Tisch.

An dem Tisch war ein Schraubstock befestigt, und in den Schraubstock war eine 9 mm-Parabellum eingespannt, eine Walther P 38, den Lauf nach oben geneigt. Ihr Abzug war durchbohrt, und in der Öffnung steckte das eine Ende eines dünnen Bindfadens. Das andere Ende hielt der Tote noch in der rechten Hand.

Absurd!

Er hatte alles hergerichtet und dann an der Strippe gezogen. Ein häßlicher Gnom, bucklig wohl, ein besserer Liliputaner.

Mannhardt regte sich nicht. In seinem Kopf tönte es blödsinnigerweise von einem Endlosband: Ich hab ja vieles schon erlebt, aber so etwas noch nicht, aber so etwas noch nicht… Wenn er diesen Gnom noch länger anstarrte, dann war er bald genauso verrückt.

«Plemmi-plemmi», wiederholte Koch.

Mein Gott, auch noch dieser schwachsinnige Koch mit seinem Hinterhofslang!

«Was war denn der?» fragte Mannhardt nach hinten zu seinen Kollegen. «Blumenbinder, Primgeiger, Varietekünstler – oder was?»

«Keine Ahnung…»

Die Smokingjacke klaffte auf und Mannhardt entdeckte eine Brieftasche. Er bückte sich und zog sie heraus. Zwei Fünfzig-Mark-Scheine, ein bißchen Kleingeld, ein paar Karpfenschuppen und ein Firmenausweis.

EUROMAG – EUROPÄISCHE MASCHINENBAU-AKTIENGESELLSCHAFTDienstausweis Nr. C 422 für Ossianowski, Otto-Wilhelm, geb. 25.10.1920, beschäftigt bei: Sondergruppe für Systemplanung.

«Ich werd verrückt!» sagte Koch.

Alle Mitglieder der EUROPÄISCHEN MASCHINENBAU-AKTIENGESELLSCHAFT im In- und Ausland werden gebeten, den Inhaber dieses Ausweises bei der Erledigung seiner Aufgaben zu unterstützen und ihm notfalls Schutz und Hilfe zu gewähren.

Wie schön, dachte Mannhardt, die große EUROMAG-Familie.

Ausgestellt im Juni 1970. Zwei wuchtige Stempel. Beglaubigt durch einen Generalbevollmächtigten. Ein Paßbild, Photomaton.

«Mensch, ist der häßlich», sagte Koch. «So kann doch keiner aussehen, der muß doch ‘ne Maske aufhaben.»

Mannhardt trat einen Schritt zur Seite und sah dem Toten ins Gesicht. Ein bißchen Seehund, ein bißchen Gorilla – das alles aber nicht schwärzlich-blau, sondern rosig. Dazu die rötlichen Haare. Die weiten Nasenlöcher mußten, wenn er am Tisch saß, gerade nach vorn gerichtet sein. Und Blumenkohlohren, wie bei einem altgedienten Catcher.

Aber stolzer Mitarbeiter der EUROMAG.

Gewesen.

«Auf welche Art und Weise man nicht alles Selbstmord begehen kann», sagte Koch.

Mannhardt zuckte die Achseln. «Exzentrisch war er sicher – was bleibt so einem Wechselbalg schon übrig. Aber es könnte ihn ebensogut jemand auf den Stuhl gesetzt haben und dann…»

Koch nickte, und Mannhardt sah ihm an, was er dachte: Industriespionage, Bestechung, Erpressung… Warum nicht? Auszuschließen war nur, daß ihn ein Nebenbuhler aus Eifersucht erschossen hatte; sonst war alles drin.

«Vielleicht hatte er ‘ne leichte Macke, und der Mörder hat das ausgenutzt, um uns reinzulegen», sagte Koch.

«Zu neunundneunzig Prozent ist es ein Selbstmord», sagte Mannhardt mit plötzlicher Bestimmtheit.

«Siehst du ‘n Abschiedsbrief oder so was?»

«Nein… Aber der dürfte keinen gehabt haben, von dem er sich verabschieden mußte.»

Wirklich? Hatte nicht diese extreme Häßlichkeit etwas Faszinierendes?

Ossianowski – der Name paßte wie die Faust aufs Auge. Wenn der Mann zum Film gegangen wäre, hätte er’s zu Weltruhm bringen können. Aber als kaufmännischer Angestellter…

Mord oder Selbstmord?

Wenn man diesen Gnom hier sah und sein verrücktes Haus, kam nur Selbstmord in Frage: Ekel vor sich selbst und der Welt, die ihn nicht mochte, weil er sie mit seinem Anblick störte. Aber eben weil das so offensichtlich war, konnte es jeder halbwegs vernünftige Mensch für seine Zwecke ausgenutzt haben.

Doch was gab es schon für Gründe, diesen mißglückten Homunculus hier zu ermorden?

Man mußte sehen.

Koch meldete: Bis jetzt keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens in das Haus, keine fremden Fingerabdrücke.

Hm… Mannhardt hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt. Ein Ritualmord? Eine bislang in Berlin unbekannte Sekte? Es sprach einiges dafür – auf dem Tisch stand ein siebenarmiger Leuchter mit heruntergebrannten Kerzen… Oder eine homosexuelle Beziehung? Verheiratet war er offenbar nicht. Und Geld für Strichjungen hatte er vermutlich. Ein nekrophiler Freund? Das war zu prüfen. Oder doch was Rationales: Er war bestochen worden, er hatte Interessenten Tips gegeben, er hatte Geheimnisse an Illustrierten verraten… Schließlich war er Mitarbeiter einer Stabsstelle, mit Sicherheit gut informiert…

Es gab eine Menge zu tun.

«Sonst sehen die Räume im Erdgeschoß und oben ganz normal aus», berichtete Koch. «Zwar wie ein Museum, aber…»

Mannhardt hatte gar nicht bemerkt, daß er fortgewesen war.

«In der Küche sitzt die Frau, die ihn gefunden hat», fuhr Koch fort. «Sie macht hier jede Woche einmal sauber.»

«Das ist kein Motiv.»

«Sie heißt Elfriede Kriegshammer.»

«Das auch nicht.»

Ein Quatsch, was er da zusammenredete. Total überdreht. Ja, das war er. Konnte auch nur ihm passieren – ‘ne Leiche an so ‘nem Morgen. Dem Erik Ode passierte so was nie… Scheißberuf. Fernsehkommissar müßte man sein.

Sie fanden Elfriede Kriegshammer auf einem Küchenstuhl. Sie war etwa fünfzig Jahre alt und recht adrett, aber ein wenig einsilbig.

Ja, sie habe Herrn Ossianowski gefunden, als sie im Zimmer saubermachen wollte.

Nein, letzte Woche habe sie nichts Auffälliges an ihm bemerkt.

Ja, sie mache schon seit fünf Jahren hier sauber.

Nein, verheiratet sei Herr Ossianowski nie gewesen.

Nein, Männerbekanntschaften habe er wohl keine gehabt, aber… Ja, etwas schrullig sei er schon gewesen.

Nein, einer Sekte habe er ihres Wissens nicht angehört; er sei wohl überhaupt nicht religiös gewesen.

Ja, das Zimmer, in dem er jetzt liege, habe seit Jahren leergestanden.

Nein, in ärztlicher Behandlung sei Herr Ossianowski nie gewesen, auch beim Psychiater nicht.

Nein, die Pistole habe er ihr nie gezeigt. Und da gebe es auch zwei Kellerräume, die sie nie habe betreten dürfen.

Also, das verbitte sie sich aber! Wie käme sie als verheiratete Frau dazu, intime Beziehungen zu Herrn Ossianowski…

Nein; sie wohne zwar gleich nebenan, habe aber gestern abend nichts bemerkt, was…

Nein, von einem Testament wisse sie ebensowenig wie von einem Abschiedsbrief.

Nein, Herr Ossianowski habe weder Geschwister noch Eltern oder sonstige Verwandte.

Ja, er habe ganz und gar zurückgezogen gelebt. Sie könne es noch immer nicht fassen.

Koch reichte ihr ein Tempotaschentuch, damit sie sich die Tränen trocknen konnte. Dann ließ er sich – fürchterlich korrekt – ihren Ausweis zeigen und notierte sich alle notwendigen Daten. Man konnte nie wissen.

«Hatten Sie jemals den Eindruck, Frau… Frau Kriegshammer, daß er Selbstmord begehen könnte?» Dämlicher Name.

«Nein!» kam es mit Bestimmtheit. «Mein Mann – der kannte ihn auch –, der sagte immer: Der Owi, der ist so froh wie der Mops im Paletot.»

«Owi…?»

«So nannten ihn doch alle – Otto-Wilhelm…»

«Ah, ja.»

Frau Kriegshammer war vorerst ausgepreßt, sie konnte gehen.

«Sie müssen den Mörder finden, der das gemacht hat!» schluchzte sie.

«Wenn Ihnen noch was einfällt…» Koch drückte ihr einen vorbereiteten Zettel mit seiner Telefonnummer in die Hand.

Als sie abgegangen war und die Herren vom Erkennungsdienst noch immer nichts Wesentliches zu vermelden hatten, erinnerte Koch an die verschlossenen Kellerräume, von denen die Kriegshammer gesprochen hatte.

«Du bist ein Genie», sagte Mannhardt und fügte pathetisch hinzu: «Was wird dieser Keller wohl für ‘n Geheimnis bergen?»

«Vielleicht Martin Bormanns Leiche», vermutete Koch, der regelmäßig seine Illustrierte las.

Mannhardt schickte zwei Mann in den Keller mit dem Auftrag, die Türen irgendwie aufzukriegen.

Der erste Raum enthielt überraschenderweise eine der schönsten Modelleisenbahnen, die Mannhardt je gesehen hatte. Und er verstand was davon. Da gab es absolut vorbildgetreue Weichenstraßen, Bahnhöfe, Eselsrücken, Viadukte, Drehscheiben und Lokomotivschuppen. Vom Lichtsignal bis zum Oberleitungsmast – alles astrein. Für diese Anlage hätte Ossianowski bei jedem Wettbewerb den ersten Preis gewonnen. Mannhardt hätte sich am liebsten an eines der vielen Fahrpulte gesetzt und wäre losgefahren. Eine Unmenge von Lokomotiven und Triebfahrzeugen. Eine P3, eine P6, eine E91, eine SBB-Be 6/8III, hinten eine…

Mein Gott!

Jetzt erst sah Mannhardt, was mit der Anlage los war. Auf den Bahnhof der Ortschaft ‹Glücksheim› war eine vierstrahlige Düsenmaschine gestürzt – überall verkohlte Trümmer, Tote, Verletzte, Ärzte, Krankenwagen, Feuerwehrautos. Alles maßstabgetreu und beklemmend realistisch. Und kurz vor der Tunneleinfahrt war ein TEE in einen Personenzug gerast. Zerfetzte, aufgeschlitzte Wagen, umgestürzte Lokomotiven, Rettungsfahrzeuge – ein Chaos. Schrecklich. Hinten am Fluß schleifte ein Triebwagen einen vollbesetzten Pkw über die Schienen; die Schranken waren nicht geschlossen. Auf dem Güterbahnhof wurde ein Eisenbahner zwischen den Puffern zweier Kesselwagen zerquetscht.

«Fehlt nur noch das Tonband mit den Schreien der Sterbenden», murmelte Koch.

Mannhardt war wie vor den Kopf geschlagen. Sadismus? Menschenhaß? Irrsinn? War dieser Ossianowski ein verhinderter Nero gewesen? Er wandte sich ab. Der Anblick dieses sauber gebastelten Modells einer Massenschlachtung war unerträglich.

Rechts vom vergitterten Fenster hing ein Wandregal mit etwa zwei Dutzend Fächern, wie man es in den Poststellen von Behörden und Industriebetrieben findet. Wahrscheinlich hatte es Ossianowski bei irgendeiner Entrümpelungsaktion abgestaubt. Am obersten Querbrett war ein längliches Pappschild befestigt, auf dem in flammender Schrift zu lesen stand:

 

DIE GRÖSSTEN KATASTROPHEN DER MENSCHHEIT.

Die einzelnen Fächer waren säuberlich beschriftet: Flugzeugabstürze – Schiffsuntergänge – Eisenbahnunfälle – Seuchen – Erdbeben – Überschwemmungen – Kriege – Bergwerksunglücke – Taifune-Hurrikane – Lawinen – Bergrutsche – Vulkanausbrüche – Hungersnöte – Großbrände.

Mannhardt griff in das Fach Erdbeben und zog ein dickes Bündel mit Zeitungsausschnitten und Illustriertenfotos heraus. Da fehlte nichts, was in dieser Hinsicht jemals an Schrecklichem aufgezeichnet war, weder Quito (1797) mit 40000 Toten noch Kansu (1920) mit 180000 Toten oder Agadir (1960) mit 12000 Opfern.

Unter dieser Registratur des Grauens stand ein kleiner Schreibtisch mit einer verrosteten Lampe und einem Hohlstein, in dem Bleistifte und Kugelschreiber steckten. Rechts oben lagen, schön säuberlich aufeinander geschichtet, Zeitungsausschnitte, die Ossianowski noch nicht einsortiert hatte. 156 Tote bei Flugzeugabsturz – Düsenmaschine vom Typ Iljuschin 62 mit DDR-Urlaubern nahe Königswusterhausen zerschellt. Der nächste: Todestunnel bei Soissons ist eine Stätte des Grauens – Mehr als 100 Menschen starben I Herabstürzendes Gestein verursachte Zugkatastrophe.

Mannhardt fuhr sich mit der Hand über die Augen. Wie oft in solchen Augenblicken der Erschütterung und der Ratlosigkeit dachte er in Stereotypen, die aus dem Schlager- und Chansonbereich stammten: Das ist meine Welt – und sonst gar nichts. Ein armer Kerl, dieser Otto-Wilhelm Ossianowski.

«Sieh mal!» Koch hatte inzwischen einen Leitz-Ordner voller eng betippter Schreibmaschinenseiten entdeckt. «Genau 942… Mit Register.» Er blätterte zurück, um nach dem Deckblatt zu sehen.

Da stand es:

 

DIE GRÖSSTEN KATASTROPHEN DER MENSCHHEIT VON O.-W. OSSIANOWSKI

 

«Er hat ein Buch drüber geschrieben…»

«Nie was von gehört», sagte Mannhardt, der recht viel las und sich zumindest an Hand von Prospekten über neue Autoren und Titel informierte.

Nach wenigen Sekunden hatte sich seine Vermutung bestätigt: niemand hatte das Manuskript haben wollen. In einem Aktendeckel lagen etwa zwanzig Schreiben, alle von mehr oder minder renommierten Verlagen, alle graphisch hervorragend aufgemacht und alle mit den gleichen Floskeln:… sehen im Augenblick leider keinen Platz in unserem Verlagsprogramm… Wir freuen uns, daß Sie uns einen Einblick in Ihre Arbeit gegeben haben, aber… Wir haben Ihre Dokumentation mit großem Interesse gelesen, müssen Ihnen aber leider mitteilen…

Sein Lebenswerk.

Und niemand hatte Interesse daran gehabt.

Mannhardt, dem erst neulich ein kleiner Beitrag zurückgeschickt worden war, den er für die Fachzeitschrift Kriminalistik geschrieben hatte, konnte verstehen, was in Ossianowski vorgegangen war. Jahrelange Arbeit, jahrelanges Hoffen – alles umsonst. Kein Schriftstellerruhm – noch nicht einmal ein Achtungserfolg. Der verzweifelte Versuch, seiner elenden Existenz zu entfliehen war gescheitert. Aus und vorbei. Hatte er jetzt die Konsequenzen gezogen?

Mannhardt horchte nach draußen. «Ich glaube, sie haben die andere Tür aufbekommen…»

Der zweite Kellerraum war wesentlich größer als der erste. Er enthielt auf der linken Seite ein wohlbestücktes Laboratorium mit Reagenzgläsern, Glaskolben, Bunsenbrennern und vielfarbigen Chemikalien, aber auch einige elektrische Geräte – Batterien, Voltmeter, Transformatoren und ähnliches. Mannhardt fühlte sich unbehaglich, fühlte sich an den Physik- und den Chemieraum seiner alten Schule erinnert. Die Fünfen, die er dort unter den hämischen Bemerkungen der Studienräte eingesteckt hatte, schmerzten ihn heute noch. Da war er schon wieder bei diesem verfluchten Klassentreffen!

«Mensch, guck dir das mal an!» Koch riß ihn geradezu herum.

Mannhardt erkannte an der anderen Wand eine weitere Modellanlage, aber ganz offensichtlich keine Eisenbahn, sondern… Er stutzte. Über dem Ganzen hing ein Transparent mit der Aufschrift Owis SELBSTMORD-CENTER. Ihn fröstelte, er spürte einen Anfall von Klaustrophobie. Atemnot. Nur der eine Gedanke: Raus hier!

Aber er biß die Zähne zusammen, schluckte mehrmals und atmete tief durch. Dann folgte er Koch, der schon an das Modell herangetreten war. Was er sah, war wahrhaft einmalig.

Die längliche Spanplatte, die vielleicht drei mal zwei Meter umfassen mochte, war, was die handwerkliche Fertigkeit betraf, ein kleines Kunstwerk. Figuren, Häuser, Bäume, Autos, Züge – auch hier alles maßstabgerecht. Auch hier stimmte alles bis ins letzte Detail. Ossianowski mußte jahrelang daran gebaut haben. Er hatte für denjenigen, der freiwillig aus dem Leben scheiden wollte, keine Möglichkeit außer acht gelassen.

Rings um den Rand der Platte zog sich eine Autobahn, die rechts unten in einer Landstraße auslief. Da gab es genügend Bäume, Mauern und Brückenpfeiler, gegen die man seinen Wagen lenken konnte. Einige von Owis Figuren hatten es bereits getan. Andere standen auf einer Brücke, um sich vor die heranbrausenden Lastzüge zu stürzen. Innerhalb der Autobahn verlief das Oval einer zweigleisigen Bahnstrecke, die potentiellen Selbstmördern sowohl die Gelegenheit bot, sich vor einen der Züge zu werfen als auch aus einem der Abteile zu springen. Durch die Luft wirbelnde Körper – geschickt an fast unsichtbaren Fäden befestigt – und verschiedentlich neben ödem Gleiskörper liegende, gräßlich verstümmelte Männer und Frauen zeigten an, daß man von diesem Angebot reichlich Gebrauch machte. Arbeiter in blau-weiß gestreiften KZ-Uniformen karrten menschliche Kadaver zum Krematorium, das links unten lustig qualmte. Winzige Urnen standen zum Abholen bereit. Daneben zog sich ein langgestreckter See hin, der in einen Fluß mit einigen Stromschnellen auslief. Es gab Brücken und Stege genug, von denen aus ein Sprung ins Wasser möglich war. Im Schilf treibende Wasserleichen bewiesen, daß auch hier richtig kalkuliert worden war. Nebenan auf einem kleinen Sprengplatz jagte sich gerade ein nackter Jüngling in die Luft. Weiter rechts ein kleiner Wald; an den starken Ästen hochstämmiger Bäume hing eine Handvoll Personen beiderlei Geschlechts. Die Kolonne, die die Toten zu bergen hatte, kam überhaupt nicht nach. Hier hatte Owi als Systemplaner versagt. Allerdings war sein Selbstmord-Center auch ziemlich überlaufen; fast so wie der Berliner Zoo an einem schönen Frühlingstag.

Krönung des Ganzen aber war das zwölfstöckige Hochhaus am linken oberen Rand der Anlage, dessen Vorderfront Owi weggelassen hatte, so daß man ins Innere der einzelnen Stockwerke sehen konnte. Das flache Dach war nur mit einer niedrigen Brüstung versehen und bot sich geradezu an, um von hier in die Tiefe zu springen. Tatsächlich setzte gerade ein Mann zum Sprung an, und unten waren zwei zerschmetterte Frauenkörper zu erkennen. In sämtlichen Räumen waren Menschen (maßstabgetreu!) emsig und zielstrebig damit beschäftigt, sich vom Leben zum Tod zu bringen oder doch ihren Selbstmord vorzubereiten, und zwar mit beachtlichem Erfindungsreichtum: Neben Schußwaffen, Giftstoffen (gasförmig und flüssig), Hochspannungsleitungen und altmodischen Rasiermessern gab es eine Selbstverbrennungsanlage und eine automatische Guillotine.

Die Empfangshalle unten hätte jedem internationalen Konzern Ehre gemacht. Eine mit goldenen Buchstaben verzierte Tafel verkündete Sinn und Zweck dieses Hauses:

 

Befreie die übervölkerte Erde von der Last Deiner Existenz.

Befreie Dich selbst von der Last Deines Lebens.

Morde Dich selbst und bleibe rein, ehe die Menschen Dich

zum Mörder anderer machen.

 

«Ein schöpferischer Mensch», grinste Koch.

«Ein krankes Hirn», sagte Mannhardt heiser.

In diesem Augenblick entdeckte er Owis Abschiedsbrief.

Ein schmaler Umschlag lag auf dem Dach des Hochhauses; sie hatten ihn zuerst in dem abstrusen Durcheinander nicht registriert: Ein Kuvert mit der Aufschrift ABSCHIEDSBRIEF sollte in einem Selbstmord-Center nichts Ungewöhnliches sein.

Ossianowski hatte sich zwar kurz gefaßt, aber deswegen nicht weniger deutlich:

 

Viele Menschen haben mich zu dem gemacht, was ich bin, zum Fußabtreter, aber nur wenige haben es so vollkommen getan, wie meine vier Kollegen in der Sondergruppe für Systemplanung. Ich bin in den Tod gegangen, weil ich dieses Leben nicht mehr ertragen konnte. Mein Körper ist starr und kalt. Aber ich werde mich an den vieren rächen, die mir das alles angetan haben. Noch in dieser Woche werden sie mir folgen, Sprengkörper werden sie zerreißen, wo immer sie sich aufhalten. Die ganze Welt kann ich nicht vernichten, aber die lieben Kollegen Kuhring, Zumpe, Brockmüller und Lux. Mein Einfallsreichtum ist grenzenlos.

Amen!

 

Mannhardt stand wie erstarrt; selbst Koch war das Grinsen vergangen. Sie glaubten Ossianowskis Anwesenheit im Raum zu spüren. Dieses Haus hatte sie für Augenblicke zu verschreckten Kindern werden lassen.

Mannhardt faßte sich als erster und rannte die Treppe hinauf zum Telefon.