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Nichts liegt mir ferner, sehr verehrter Herr Kommissar, als Ihre bekanntermaßen wertvolle Zeit über Gebühr in Anspruch zu nehmen, obschon sie ja für eben diese Inanspruchnahme nicht gerade gering besoldet werden. Ihnen wird unschwer verborgen bleiben, daß ich diese und die nachfolgenden Sätze um einiges später zu Papier gebracht habe als diejenigen, welche Ihnen bereits vor Augen gekommen sind, denn meine Handschrift wirkt nun um vieles kräftiger als ehedem.
Möglicherweise werden Sie inzwischen auch die Bekanntschaft der Herren Kuhring, Zumpe und Brockmüller gemacht und auch das Fräulein Lux persönlich kennengelernt haben. Ohne Sie mit diesem meinem Urteil der Naivität oder gar der Komplizenschaft zeihen zu wollen, darf ich annehmen, daß Sie von meinen vier Kollegen ein durchweg positives Bild gewonnen haben, erscheinen sie doch dem unbefangenen Beobachter allezeit höflich und taktvoll.
Ich allerdings behaupte: man hätte sie alle ohne Widerstand ihrerseits in Auschwitz gebrauchen können, die Gaskammern zu beschicken. Aus diesem Holz sind sie geschnitzt.
Wohl, und darin befinden wir uns sicher im Konsens, wäre diese Seite ihres Wesens nie zum Vorschein gekommen oder jedenfalls verblaßt, wenn nicht ausgerechnet ich, Otto-Wilhelm Ossianowski, ihnen als Gefährte zugeordnet worden wäre. Lassen Sie mich aus dem Spiegel vom 26. Juni 1972 einen Satz des Gerichtsreporters Gerhard Mauz zitieren, um zu verdeutlichen, was ich Ihnen sagen will: «Es schaudert einen, wenn man – immer wieder – Menschen begegnet, die, ein jeder für sich, schuldlos geblieben oder nur läßlich schuldig geworden wären; die jedoch einander begegnen und dadurch einen Ablauf auslösen, der die Unaufhaltsamkeit eines physikalischen Prozesses hat.»
Wir sind uns nun, welch Spiel der Kräfte, in dieser billig erworbenen Villa in der Mansfelder Straße begegnet – und nichts ist in der Lage, den Prozeß, der vor Ihren Augen abläuft, noch aufzuhalten.
Überfliege ich meine erst gemachten Notizen, so vermisse ich die zweckdienlichen Hinweise darauf, warum wohl meine vier Kollegen heutigen Tages derart verbittert sind, daß sie ihr seelisches Gleichgewicht nur wiedergewinnen konnten, indem sie mich zu Tode neckten.
Beginnen darf ich, Ihre gütige Erlaubnis vorausgesetzt, mit dem Kollegen Karl-Heinz Kuhring, dessen Name in seinem ersten Teil schon das Programm seines Wesens verrät: das Viehische. Nur vordergründig ist er Schönling, ist er Playboy. Ist diese Maske fortgerissen, erscheint der wahre Kuhring: grobschlächtig und dröhnend, saufend und hurend. Sehen Sie doch, wie seine Züge den Landsknecht offenbaren, den ewigen Landsknecht, der auf der Bühne des Jahres 1972 mit Schlips und Kragen als Führungskraft erscheint und doch derselbe ist, der dreihundert Jahre früher in Wallensteins Lager die Szenerie beherrschte. Als Beute nicht mehr die Schätze geplünderter Häuser, sondern den Rang des Hauptabteilungsleiters. Jedem Feinen, jedem Intellektuellen zutiefst abhold, besitzt er neben einem hohen Intelligenzquotienten die beneidenswerte Gabe, Kumpane zu finden, was ihn indessen nicht davor bewahrt, stets von Feinden umzingelt zu sein, da andere Landsknechte mit ihm wetteifern, die wiederum ihre Kumpane haben, aber auch ehrenwerte Männer, die ihn voller Abscheu treffen. So hat er in einem unserer jetzigen Aufsichtsratsmitglieder einen sehr intimen Feind, der seinem und meinem Chef nahegelegt hat, Kuhrings unaufhaltsamen Aufstieg vorerst zu stoppen, und Donnersmarck trotz aller Verbundenheit nicht anders konnte, als ihn aufs Abstellgleis zu schieben. So wurde die Sondergruppe für Systemplanung gegründet, um Kuhring, wie man sich bei uns allgemein auszudrücken pflegt, «aus dem Verkehr zu ziehen». Weder ein Sitz im Vorstand noch der begehrte Posten in New York, weder ein Platz im Aufsichtsrat einer unserer vielen Töchter noch eine Kandidatur für den Bonner Bundestag sind ihm zuteil geworden, sondern man hat ihm lediglich die Leitung einer Arbeitsgruppe übertragen, die, wie alle wissen, lediglich für den Papierkorb produziert. Mit ihr allerdings mußte er abgefunden werden, weil im anderen Falle ein Amoklauf seinerseits zu befürchten gewesen wäre, woran seinen Freunden bei der Fülle ihrer Skandale wenig gelegen sein konnte. So ist Kuhring, mag er noch so sehr als Mensch erscheinen, der vor Fröhlichkeit schier birst, mag er bei den Frauen noch so viele Erfolge feiern, zutiefst verbittert. Nimmt man seine hochgesteckten Ziele als Maßstab, so ist er gescheitert. Weshalb und warum man an der Spitze seiner Clique wohl beschlossen hat, Kuhring von den industriellen wie von den parlamentarischen Fleischtöpfen fernzuhalten, ist mir als Außenstehendem natürlich weithin verborgen geblieben; es gibt Gerüchte, denen zufolge er unserem jetzigen Aufsichtsrat ehemals bei der langangelegten Aufnahme von Kontakten zum Osten politisch in den Rücken gefallen ist – sieht er doch in jedem, der auch nur mit Sozialisten spricht, den ärgsten Staatsfeind. Ich vermute jedoch eher, daß man im Spitzenclan Kuhring als Führungskraft nicht akzeptieren will, da sein erstarrtes Denken dort ebenso bekannt sein dürfte wie seine Anfälligkeit für Bestechungen. Jedenfalls ist Kuhring in seiner Clique – wie man in Berlin heute sagt – völlig unten durch. Unübertroffener Meister des betrieblichen Dschungelkampfes ist er wohl, nur – man hat ihn höherenorts langfristig an die Kette gelegt.
Anders dagegen erklären sich die Frustrationen des Kollegen Ulrich Zumpe, die nur zum Teil, wie man heute zu sagen pflegt, strukturbedingt sind, zum anderen aber im persönlichen wurzeln. Mit Sicherheit werden Sie, sehr verehrter Herr Kommissar, inzwischen auch schon in Erfahrung gebracht haben, daß Zumpe als einziger von uns wirklich Beachtliches für die EUROMAG geleistet hat. So ist das Entstehen unseres Werkes in Santander, Spanien, einzig und allein seiner Tatkraft zuzuschreiben, ebenso wie die Tatsache, daß man heute in Dublin unter unserem Firmennamen Druckmaschinen baut. Doch besondere Vorteile sind ihm aus seiner großartigen Leistung bislang nicht erwachsen, und es schmerzt ihn sehr, nur graduierter Ingenieur zu sein, ohne Abiturium und Universitätsbesuch, ohne Protektion und Sinn für Eigenwerbung. So beruht seine psychosomatische Erkrankung nicht zuletzt darauf, daß er ständig Kollegen mit geringerem Leistungsstandard an sich vorbeiziehen sieht und von ihnen auch noch mit spöttischen Bemerkungen bedacht wird, weil es allenthalben zu Verärgerungen kommt, wenn er seinen größeren Praxisbezug und seine Erfahrungen in den Vordergrund stellt und den anderen gegenüber so auftritt, als sei er der Magister und sie die Schüler, die sich seiner Durchlaucht voller Demut zu nähern hätten.
Doch dies allein hätte ihn niemals so gallig werden lassen, wie Sie ihn derzeit finden. Ewig unzufrieden und schimpfend, ewig mit Gott und der Welt zerfallen, scheint seiner Frau seit geraumer Zeit das Leben mit ihm unerträglich zu werden, und sie trägt sich zumindest seit Anfang des Jahres mit dem Gedanken, ihn mitsamt beider Tochter eines anderen Mannes willen zu verlassen. Obwohl eigentlich sie den entscheidenden Schritt vollziehen wird, so zweifelt doch niemand, daß sie das Kind behalten darf; und für Zumpe ist es schier unerträglich, an den Verlust des Mädchens zu denken, hängt er doch an der Kleinen mit aller Liebe, deren er fähig scheint. Kurzum, so wie die Dinge derzeit stehen, läßt sich vom Inhalt seines Lebens nichts anderes sagen als das: unwiederbringlich dahin. Was Wunder, daß er sich da auf einen stürzt, der noch ärmer dran ist als er: auf mich, für den es nicht einmal die leuchtenden Tage gegeben hat, über deren Verlust sich später weinen ließe.
In Erstaunen wird Sie allerdings versetzen, daß man auch vom Kollegen Brockmüller in der gemeinten Hinsicht nichts anderes berichten kann, obwohl er doch in seinem Namen den Titel des Dr. rer. pol. zu führen berechtigt ist und auch ansonsten einen ganz reputierlichen Eindruck macht. Nun, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich ihn ebenfalls zu denen zähle, deren erträumtes Ziel so weit vom erreichten Heute und Hier entfernt ist, daß man ihn getrost zu denen rechnen kann, die gescheitert sind – nicht gescheitert in den Augen ihrer Umwelt, aber doch gescheitert vor sich selber. Wie Sie wissen beziehungsweise wissen sollten, ist er Diplom-Kaufmann, also Betriebswirt, und spezialisiert auf die betriebswirtschaftliche Organisationslehre, braucht also zur Karriere die deutsche Industrie als Feld. Dummerweise aber ist er in einer streng sozialistisch denkenden Familie aufgewachsen, so daß seine Schriften – Diplomarbeit, Dissertation und einige Veröffentlichungen – allesamt mit antikapitalistischen Bissigkeiten aufgeladen sind, etwa wenn er in seinem Aufsatz Konzentration als Totengräber der sozialen Marktwirtschaft gegen die deutschen Konzerne vom Leder zieht. Müßig zu sagen, daß ihm seine Arbeitgeber nach solchen Attacken wenig Sympathie entgegenbringen und lieber konservativer eingestellte Spezialisten in die Führungspositionen hieven. Blieb für Brockmüller die Hoffnung einer Universitätskarriere, die sich nach seinen langen Assistentenjahren in Mannheim und Hamburg auch anzubieten schien. Zu seinem Unglück aber halten alle Berufungskommissionen, denen er seine Bewerbung um einen freien Lehrstuhl in regelmäßigen Abständen vorlegt, sein Hauptwerk, das dickleibige Buch ‹Organisation ohne Führung?›, für unsystematisch und utopisch. Da er sich zu allem Überfluß auch noch wegen seines Vorwurfes, sie täten nichts weiter als zur Stabilisierung des spätkapitalistischen Systems beizutragen, mit den Leitern gewerkschaftlicher Bildungs- und Forschungsinstitutionen zerstritten hat, blieb ihm, wollte er nicht auf der Straße liegen, zu guter Letzt nichts weiter, als die jämmerliche Stelle bei dieser sogenannten Sondergruppe für Systemplanung, die ihm seine Frau durch ihren Kontakt zu Kuhring zuschanzen konnte. Das ist er, der Dr. Bodo Brockmüller – ein Stern, der niemals strahlen konnte.
Von der Kollegin Gisela Lux ist nur zu berichten, daß sie zu gerne Kinderärztin geworden wäre, wegen der begrenzten finanziellen Mittel ihrer Eltern aber nur die Handelsschule besuchen und neben nie Gebrauchtem das Schreibmaschineschreiben lernen konnte. Anstatt, von allen geachtet, Menschen zu helfen, ist sie nun Tippse und überträgt allzuviel Handschriftliches in die Maschine, von dem sie weiß, daß es sinnlos, daß es nutzlos ist. Und von ihrer nicht vorhandenen Schönheit und Anmut werden Sie sich schon durch eigenes Augenmerk überzeugt haben, Herr Kommissar, ohne allerdings zu wissen, wie sehr sie sich nach einem Ehemann und zwei, drei Kindern sehnt. Doch ihr Pech ist, daß sie keinen Mann bekommt, der ihren zu hochgeschraubten Ansprüchen genügt, und alle die verachtet, Arbeiter und Unscheinbare, die sie akzeptierten und, möglicherweise, auch in Grenzen lieben würden. Es ist ein Teufelskreis; in ihrer Verzweiflung über ihre Mißerfolge läßt sie sich immer stärker gehen und legt immer weniger Wert auf ihr Äußeres – und geht damit der letzten Chance verlustig, zum Mann ihrer Sehnsucht zu kommen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird sie schon zu trinken angefangen haben und, intelligent wie sie ist, ahnen, wie es weiter bergab gehen wird.
Doch lassen Sie mich nun, Herr Kommissar, zu gleichsam Konkreterem kommen, nämlich zur Rache des Otto-Wilhelm Ossianowski. Sie werden es nicht für möglich halten, was ich Ihnen nun mitzuteilen habe, aber es ist, ich schwöre es Ihnen, an dem: Ich habe nirgendwo weiteren Sprengstoff versteckt. Sie würden mich zutiefst beleidigen, wenn Sie mir zutrauten, meine Feinde auf keine andere als auf diese so überaus plumpe Art und Weise zur Strecke bringen zu wollen, zumal der Tod ja alles andere ist als eine Strafe. Nein, Tote leiden nicht – ich aber will sie leiden sehen, will sie an ihrer Angst erkranken und verrecken sehen, bis auf einen. Dieser eine allerdings wird sterben, weil ich ihm nicht einmal diese winzigen Sekunden gönne, die man auch als Kranker oder gar Gefangener glücklich und zufrieden sich fühlen kann.
Aber nun – denn die Zeit verrinnt – will ich mein Geplantes spezifizieren, und sie werden mir in dem einen Falle eine gewisse Genialität zugestehen müssen.
In den Fällen Zumpe und Lux spekuliere ich darauf, daß die von mir erzeugte Angst in ihnen wirkt wie ein injiziertes Gift. Bei Zumpe wird das größte seiner Geschwüre durch die Magenwände brechen, und durch das so entstandene Loch wird sich dessen Inhalt in die freie Bauchhöhle ergießen: unter stärksten Schmerzen und allen Anzeichen eines Schocks bricht er zusammen. Sollte ihm eine schnelle Operation das Leben retten, was durchaus geschehen könnte, wird ihm ein längerer Krankenhausaufenthalt Zeit zur Besinnung geben. Die wird er doppelt nötig haben, da seine Frau vermutlich die Gunst der Stunde nutzen und endgültig zu dem Mann ziehen wird, an dem sie hängt. So wird Zumpe, sollte er tatsächlich genesen, in eine leere Wohnung kommen und seine Tochter höchstens mal am Monatsende sehen. Was ihm bleibt, das ist der Alkohol, das ist ein Ende, an das ich ganz genüßlich denke.
Das Fräulein Lux hingegen wird, wenn meine Prognose stimmt, nichts weiter davontragen als einen Nervenschock und erhebliche vegetative Störungen. An mehr will ich nicht denken, denn schließlich mag ich sie – trotz allem. Allerdings sollten Sie ihr, sehr verehrter Herr Kommissar, deutlich zu verstehen geben, daß es meine Rache nie gegeben hätte, wenn aus ihrem stolzen Nein ein Ja geworden wäre – und sei es nur aus Mitleid. Letztlich ist sie in erheblichem Maße an allem schuld, und sie wird schwer daran zu tragen haben. Vor allem auch an Kuhrings Tod.
Ja, der Herr Hauptabteilungsleiter Karl-Heinz Kuhring wird sterben, wenn auch nicht durch meine, sondern durch Brockmüllers Hand.
Ihr Erstaunen amüsiert mich, Herr Kommissar, erscheint mir aber verständlich, da Sie nicht wissen können, daß der Doktor seinen Chef aufs höchste haßt und schon lang beschlossen hat, ihn auf raffinierte Art zu töten. Nun wird er von mir mit der Chance des perfekten Mordes sozusagen reich beschenkt – oder kurz gesagt: so gerissen, wie er ist, wird er Kuhring töten, weil unter den Umständen, die hier obwalten, jeder tote Kollege automatisch auf mein Konto kommt, auf das Konto des pathologischen Industriekaufmanns Otto-Wilhelm Ossianowski. Die Frage nach Brockmüllers Motiv, die sicher zuvörderst Ihr Interesse finden dürfte, kann ebenfalls mit einem schlichten Satz erschöpfend beantwortet werden: das Kind, das Annelie – wie Sie wissen, Brockmüllers Frau – unterm Herzen trägt, das stammt von Karl-Heinz Kuhring! Und das ist etwas, das Brockmüller – seine Worte klingen mir noch heut im Ohr – um nichts auf der Welt ertragen kann. So wird er handeln, wie es ihm sein Naturell befiehlt: vom Gefühl getragen und doch berechnend. Nur die Art und Weise, wie er es vollbringen wird, vermag ich jetzt noch nicht zu ahnen, doch gelingen wird es ihm.
Indem ich Ihnen viel Freude beim Beschauen dessen wünsche, was man Kuhrings sterbliche Hülle nennt, und mich abschließend vielmals für Ihre Mühe und Geduld bedanke, verbleibe ich für heute bis in alle Ewigkeit
als Ihr Ihnen sehr ergebener
Otto-Wilhelm Ossianowski
(genannt Owi)