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Wenn er aus dem Fenster schaute, sah er auf der Mansfelder Straße einen Streifenpolizisten patrouillieren. Und unten im Konferenzzimmer wachte Olscha.
Brockmüller versuchte sich zu konzentrieren. Vor ihm lag ein Bogen Schmierpapier mit der Aufschrift TRENDANALYSE. Ihr Generaldirektor brauchte so schnell wie möglich eine Zusammenstellung aller Prognosen, die Betriebswirte und Techniker, Soziologen und Futurologen, Systemtheoretiker und Managementberater über die Entwicklung der industriellen Verwaltung in Deutschland irgendwann einmal abgegeben hatten.
Aber er hatte Kopfschmerzen, und seine Gedanken gerieten immer wieder außer Kontrolle.
Zweimal bist du davongekommen. Aber beim drittenmal?
Sicher, die Calciumspritzen und die Tranquilizer taten ihr Teil, aber auch ohne sie wäre seine Angst nicht ins Unermeßliche gewachsen. Seit dem Zwischenfall auf der Avus wußte er, wie leicht das Sterben war. Sekunden nur. Besser so, als später jahrelang an Krebs dahinzusiechen oder an Multipler Sklerose. Und den einzigen Zweck seines Lebens hatte er erfüllt: ein Kind gezeugt. Wobei die Spezies Mensch auch ohne diesen Akt nicht vom Erdball verschwunden wäre. Und wenn Anna-Lena oder Alexander ohne Vater aufwuchsen, was tat’s schon: sie hatten ihre Mutter. Eine Mutter, die binnen eines Jahres einen neuen Mann als Vater gefunden hatte, einen, der hart war und erfolgreich, einen, dessen Bankkonto wenigstens sechsstellig war. Sie war hübsch, sie war charmant, und das Kind war sicherlich kein Hindernis.
Aber für ihn hatte sie kaum einen tröstenden Kuß übrig. Wir müssen es verdrängen, Bodo, das Kind kommt sonst als Kretin auf die Welt. Was er durchzumachen hatte, war für sie nichts weiter als eine Bagatelle, kaum mehr als ein gezogener Zahn. Dabei mußte sie doch klug genug sein, um zu sehen, daß Owi nicht spaßte. Kuhrings Wagen in die Luft geflogen und Zumpes Motorboot, und er von Owis Killer gegen die Leitplanke gedrückt. Der kleine Fiat war ein einziger Schrotthaufen, und die Lux lag im Krankenhaus: Gesichtsverletzungen, Nasenbeinbruch, Gehirnerschütterung und ein schwerer Schock. Überall konnte weiterer Sprengstoff verborgen sein, überall konnte Owis Killer auf der Lauer liegen, aber Annelie lachte nur darüber und meinte, Owi habe nur noch eine einzige Waffe: die Angst.
Brockmüller wühlte in einem Ordner mit fotokopierten Zeitschriftenartikeln herum und fand die erste Überschrift: Weitere Enthierarchisierung der Industrieverwaltung. Nun mußte er sich nur noch ein paar kluge Sätze einfallen lassen und mit ein paar Zitaten mixen.
Wo mochte der Mann in dem weinroten Peugeot stecken, der ihn um ein Haar… Immerhin hatte Olscha die Nummer erkennen können.
Er griff sich an die Brust, massierte die Herzseite. Wieder diese Atemnot. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er zusammenbrach. Aber wenn er zu Hause auf dem Sofa lag, wurde es nur noch schlimmer. Und Annelies Gleichgültigkeit gab ihm den Rest. Und dabei liebte er sie, das war ja das Verrückte. Je distanzierter sie sich gab, desto verrückter war er nach ihr. Aber… Na ja. Das Leben geht weiter.
Und das Sterben auch.
Immer wieder diese Stimme. Wie bei einem Schizophrenen.
Es klopfte.
Er erschrak, er mußte sich am Schreibtisch festhalten.
«Ja… Bitte…»
An seinen Schreibtisch schwebte – mehr Fata morgana als Wirklichkeit – ein Mädchen, dessen Bild er ebenso oft verdrängte, wie er es herbeizauberte: die höhere Schreibkraft Gabriele Gross, von der Hauptverwaltung zur zeitweiligen Vertretung der Lux herübergeschickt. Sie sah so aus, wie man aussieht, wenn man zwanzig ist und nur Boutiquen und Boys im Kopfe hat. Kupferfarben das lange Haar, viel Kupfer klimpernd an den Handgelenken. Braungebrannte Schenkel, deren Anblick ihm die Gewißheit gaben, daß seine Drüsen trotz aller nervlichen Belastung noch funktionierten.
Sie warf eine abgenutzte Umlaufmappe auf den Tisch. «Das Protokoll von der letzten Vorstandssitzung. Lesen Sie’s schnell noch mal durch und unterschreiben Sie’s, Herr Brockmüller.»
Es schmerzte ihn, daß sie ihn nicht duzte. Nach dem, was gewesen war. Aber offenbar zählte so etwas für sie nicht mehr als eine Fahrt mit der U-Bahn von Möckernbrücke bis Gleisdreieck.
Er war völlig außerstande, den Text zu kapieren, den er vor sich liegen hatte. Da stand sie nun neben ihm, zum Greifen nahe. Aber wenn er’s tat, dann kreischte sie wahrscheinlich prüde wie ‘ne alte Jungfer. Und wenn Annelie jemals erfuhr, daß er…
«Nun machen Sie doch schon – ich muß zurück!»
Dieses Aas!
Er unterschrieb blindlings. «Wir sehen uns ja nachher beim Betriebsfest…» Schildhorn, das Wasser, der Wald, der Wein…
Sie grinste. «Ich glaube kaum.» Und draußen war sie.
Brockmüller starrte aus dem Fenster. Mit Anfang Dreißig war man also aus dem Rennen… Sein grauer Apparat summte. Er nahm den Hörer hoch, müde, apathisch. Kuhring.
«Komm schnell mal runter!»
«Ja.» Armleuchter.
Kuhring saß mit Zumpe und Olscha im Sitzungszimmer, Gaby war inzwischen gegangen.
«Setz dich.»
Er setzte sich. Gottergeben. Soll er doch kommandieren, wenn’s ihm Spaß macht.
«Der Wagen, der Sie gegen die Leitplanke gedrückt hat, ist gefunden worden», sagte Olscha. «Gestohlen. Gehört einem Internisten, Dr. Wendt. Keine Fingerabdrücke, nichts.»
Brockmüller nickte. Im Grunde war’s ihm scheißegal. Sollte Owis Killer machen, was er wollte… Er sah Zumpe an. Der sah aus wie ein Krebskranker drei Wochen vor dem Exitus. Dem machte sicherlich sein Magen zu schaffen.
Kuhring dagegen war geradezu aufgeblüht, strotzte vor Vitalität und Kampfeslust. Nach dem ersten Schock hatte er sich verdammt schnell gefangen. Vom Großen Kurfürsten an waren die meisten Männer in seiner Familie Soldaten gewesen – bis zur Endstation Berlin, wo mit dem Flakhelfer Karl-Heinz Kuhring eine große Tradition ihr Ende gefunden hatte. Nun, so schien es Brockmüller, hatte sich Kuhrings Landsknechtnatur endgültig durchgesetzt. Er glühte fast vor Kampfeseifer.
«Diese Schweine!» rief Kuhring, und Brockmüller dachte, er hätte wieder die Jungsozialisten beim Wickel. Aber nee, diesmal meinte er die Kollegen drüben in der Zentrale. Die hatten sich nämlich, der Betriebsrat an der Spitze, standhaft geweigert, die Sondergruppe für Systemplanung beim Ausflug nach Schildhorn mitzunehmen. Das Risiko sei zu groß, und überhaupt, das sei doch kein Betriebsfest, wenn überall Polizisten rumstehen.
«Und sonst faseln sie immer von Solidarität!» Kuhring wurde immer wütender.
«Ich kann’s ihnen nicht verdenken», murmelte Brockmüller.
«Ach nee? Na, du bist ja sowieso immer gegen uns», sagte Kuhring. «Du widersprichst reichlich viel in letzter Zeit!»
Olscha versuchte die Situation zu retten. «Keine Schlägerei, meine Herren – ich bin bewaffnet!» Er lachte schallend.
Doch die Nachfrage nach seinein dünnen Humor war gering.
Kuhring blickte auf seine Armbanduhr. «Gleich eins. Ich schlage vor, wir gehen jetzt Mittagessen, und dann kommt ihr alle mit mir nach Hause – wir feiern bei mir. Ab 14 Uhr ist sowieso für alle frei, die am Betriebsfest teilnehmen.»
Brockmüller fand den Vorschlag beschissen, biß sich aber auf die Zunge. Bei Kuhring gab’s wieder eine Riesensauferei – und niemand ist wehrloser als ein Betrunkener. Und wenn Olscha zehnmal auf sie aufpaßte.
Auch Zumpe machte ein saures Gesicht. Offenbar befürchtete er nicht nur, daß der Alkohol seinen Magen vollends ruinierte, sondern auch, daß seine Frau endgültig ihre Sachen packte und abhaute, wenn er besoffen nach Hause kam. Und Kuhring hielt jeden, der nicht mit ihm saufen wollte, für einen persönlichen Feind.
Trotzdem zögerten Brockmüller und Zumpe, während Olscha sich in Schweigen hüllte.
Kuhring sah sie mit zornrotem Gesicht an. «Meint ihr denn, ich lasse mich von Owi kleinkriegen!? Meint ihr denn, ich lasse mir vom Fehrbelliner Platz vorschreiben, wann ich zu feiern habe und wann nicht!? Die machen sich doch vor Angst in die Hosen. Und Owi mit seinen Knallfröschen – habt ihr vielleicht Angst vor diesem Hampelmann!? Los – ich lad euch ein: wir gehen jetzt essen, und dann machen wir einen drauf!» Er sprang auf, sein Stuhl kippte um. Er sah aus, als hätte er bereits drei, vier Klare intus. «Sie können gerne mitkommen, Herr Olscha, wenn Ihr Chef das unbedingt will.»
Sie fuhren zu einem China-Restaurant am Wittenbergplatz, alle in Olschas Wagen.
«Erst mal was zu trinken!» Noch während sie die voluminöse Speisekarte studierten, winkte Kuhring den Ober herbei. Er galt als großer Trinker vor dem Herrn, und Brockmüller wußte, daß er mehrmals im Jahr Kollegen, von denen er wichtige Informationen brauchte, ganz harmlos einlud, ein Glas Bier mit ihm zu trinken, und sie dann aushorchte, wenn sie total besoffen waren. Kuhring selbst konnte unheimlich viel vertragen.
Brockmüller bekam sein Pils, ebenso wie Olscha und Kuhring, während Zumpe seines Magens und seiner Galle wegen auf Apfelsaft bestand.
Kuhring hob sein Glas. «Trinken wir auf Fräulein Lux, daß sie bald wieder gesund wird; trinken wir darauf, daß alles nur ein schlechter Scherz von Owi war und jetzt nichts mehr passiert.»
Sie taten’s und bestellten dann: Kuhring eine halbe Peking-Ente, Olscha Ente süß-sauer, Brockmüller Hummer-Krabben mit Curry und Zumpe, wie nicht anders zu erwarten, nur Salat mit Hühnerfleisch.
«Mein Magen», sagte er entschuldigend. «Meine Galle.»
«Ach, hab dich doch nicht so!» dröhnte Kuhring. «Mir geht’s doch schlechter als dir: mein Heuschnupfen ist wieder im Anzug. Das gibt wieder so ‘n leichtes Bronchialasthma. Aber man kommt ja nicht zum Arzt.» Er stürzte sein Bier hinunter, ließ eine NEDO-Med im Mund zergehen, schüttelte sich und spülte das Zeug in den Magen. «Gegen die Kopfschmerzen.»
Dann kam das Essen, und Brockmüller beobachtete verblüfft, mit welch ungezügelter Gier sich Kuhring über seine Ente hermachte. Wie ein Rollkutscher… Und wenn den nicht bald mal der Schlag traf, war er womöglich in fünf Jahren Chef der EUROMAG. Amen!
Kuhring redete mit vollem Mund. Er redete viel und schoß sich langsam auf Owi ein.
«Unsertwegen will der Arsch Selbstmord begangen haben – daß ich nicht lache! Hatte doch allen Grund, uns dankbar zu sein: Bei uns konnte er in Ruhe arbeiten – andere hätten ihn im Zirkus auftreten lassen! Dreimal in der Woche hat er mir erzählt, er war mein bester Freund, jetzt sprengt er mein Auto in die Luft und hetzt ‘nen Gangster auf mich – der ist plötzlich verrückt geworden… Ober, noch ‘n Bier!» Er rülpste. «Wir waren doch so richtige alte Freunde. Kumpel waren wir. 1947 haben wir uns kennengelernt, draußen im Apparatewerk Lichterfelde, ich noch als Student. 25 Jahre sind das her, hätten wir an sich feiern müssen. Und hätt ich ihn damals nicht Nachhilfeunterricht gegeben, wär er durch seine Kaufmannsgehilfenprüfung gerasselt… Dann hat er da in der Haus- und Grundstücksverwaltung gehockt – und wer hat ihn da rausgeholt? Ich! Ich hab ihn als Sachbearbeiter im Bereich Organisation und Revision untergebracht, IV F, Organisation, EDV, Rationalisierung und so. Da war ich schon Direktionsassistent. Und als er da Mist gemacht hat und ihn keiner mehr haben wollte, da hab ich ihn in die Sondergruppe geholt. Und der Dank? Jetzt stehen wir nach draußen da wie Unmenschen.» Er sah Zumpe an. «Und du hast ihm doch auch nichts getan, oder?»
Zumpe legte einen abgenagten Hühnerknochen auf die silberne Schale. «Nicht daß ich wüßte. Ich hab ihn im Krankenhaus besucht, als er damals die Nierensache hatte; ich hab ihn in meinem Dienstwagen zum EDV-Seminar nach Bad Harzburg mitgenommen; ich hab meinen Schwager überredet, ihm bei Möbeln dreißig Prozent Rabatt zu geben…»
«… und ich hab ihm mal ein paar Tempotaschentücher aus der Drogerie mitgebracht», fiel Brockmüller ein.
Schweigen.
Kuhring funkelte ihn an. «Du stehst wohl auf seiner Seite, was?»
Olscha hörte auf zu kauen.
Zumpe faltete seine Serviette zusammen.
Ja, dachte Brockmüller, was dich angeht, da steh ich auf seiner Seite. Hoffentlich schafft er’s bei dir… Aber er sagte hastig: «Du spinnst wohl! Ich wollte bloß sagen, daß er manches anders gesehen haben muß als wir. Nu ist es zu spät…» Er bemühte sich um ein demutsvolles Lächeln. Kuhring besaß zu allen einen Draht, zum Vorstand, zum Aufsichtsrat, zum BDI, zum Betriebsrat – vier Telefonate, und sie setzten ihn vor die Tür. Unter Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Kündigungsfrist natürlich. «Klar, wenn er einem zu Dank verpflichtet war, dann dir. Das hat mir bis jetzt jeder bestätigt. Ich bin doch der letzte, der nicht weiß, daß du dich dauernd für deine Kollegen einsetzt.»
Kuhring strahlte. «Zehn Jahre im Management der EUROMAG, da schafft man schon was. Und Owi ist nie zu kurz gekommen.»
«Bei dem muß plötzlich was im Gehirn geplatzt sein», sagte Zumpe. «Was sagen denn die Psychiater?»
Olscha zuckte die Achseln. «Keine Ahnung. Wahrscheinlich sezieren sie sein Gehirn, aber das dauert wohl noch ein Weilchen…»
«Also ab morgen keinen Brägen essen!» lachte Kuhring. «Ober: zahlen!»
Sie bedankten sich bei ihm, dann fuhren sie zum Hohenzollerndamm, wo er eine geräumige Fünf-Zimmer-Wohnung besaß, deren Attraktion das Spielzimmer war. Billard, Tischfußball, Flipper und Tischtennis.
Kuhring hatte einen Kasten Bier auf dem Balkon stehen, Olscha trug ihn ins Zimmer. Brockmüller und Zumpe brachten aus der Küche Gläser und Flaschen herein – Whisky, Korn und Sprudel. Kuhring dirigierte das Ganze.
«Prost – auf euer Wohl!» Erst der Klare, dann mit Bier nachgespült. «Ich schlage vor, wir fangen mit Tischtennis an – die Platte liegt ja gerade auf dem Billard. Jeder gegen jeden, ein Satz.» Zu Zumpe gewandt: «Da liegt Bleistift und Papier, mach mal schnell Lose, damit wir sehen, wer gegen wen spielen muß, also in welcher Reihenfolge.»
Nach einigem Hin und Her stand fest, daß Kuhring gegen Zumpe beginnen mußte. Nach ein paar Bällen zum Aufwärmen legten sie los. Olscha spielte am Flipper-Automaten herum, Brockmüller machte den Schiedsrichter. Die Stimmung war gut.
War’s der Schnaps, war’s ein falscher Impuls im Großhirn, jedenfalls fand Brockmüller die ganze Szene höchst unwirklich. Sie spielten hier – und jeden Augenblick konnte etwas geschehen – etwas Entsetzliches, Tödliches. Und sie – sie steckten den Kopf in den Sand…
Es passiert bestimmt noch was.
Er sah, welche Freude Kuhring daran hatte, Zumpe von der einen Ecke der Platte zur anderen zu hetzen und dann mit gelungenen Schmetterbällen Punkt um Punkt zu machen. Nur ein Spiel? Es war mehr; Zumpes verzerrtes Gesicht bewies es.
Brockmüller spürte den Haß, den Zumpe gegen Kuhring empfand. Zu verdenken war’s ihm nicht. Wenn Brockmüller richtig informiert war, und das war er meistens, dann hatte Kuhring 1971 verhindert, daß Zumpe in Osnabrück Werksdirektor gewesen war – ein Traumziel für jeden, der als kleiner Ingenieur gestartet war. An seine Stelle hatte er einen Spezi in den Sattel gehievt, von dem er Unterstützung erwartete, wenn’s um die in zwei Jahren freiwerdende Stelle des fünften Vorstandsmitgliedes ging.
Zumpe verlor 14:21. Er verlor immer gegen Kuhring.
Sie spielen hier, dachte Brockmüller, und irgendwo…
Es passiert bestimmt noch was!
In seinem linken Ohr rauschte es; für Sekunden war ihm schwindlig. Vielleicht lag’s am Schnaps.
Er fing sich wieder, als er gegen Olscha spielen mußte und mit drei Punkten Vorsprung gewann, ebenso wie anschließend gegen Zumpe.
«Los, auf zum Endkampf!»
Kuhring, der nach Zumpe auch Olscha geschlagen hatte, wartete schon.
«Du schwitzt ja jetzt schon?» lachte Brockmüller. «Hast du Angst?»
«Macht nichts, ich bade nachher!»
Brockmüller fühlte sich zwar hundsmiserabel, aber als ehemaliger Turnierspieler hatte er keine Schwierigkeiten, Kuhring wie einen Anfänger herumhüpfen zu lassen. Bald führte er 9:1, und die alten Tricks gelangen alle. Doch dann begriff er wieder, daß dies mehr war als ein Spiel.
Kuhring war krankhaft auf Siege fixiert, brauchte das Gefühl der Überlegenheit wie andere ihr Rauschgift; Kuhring deklarierte den zu seinem Todfeind, der ihn verlieren ließ… Aber zugleich mit dem Vorsatz, dieses Match zu verlieren, wurde ihm schlagartig klar, wie sehr auch er diesen Kuhring haßte.
Während er ihn Punkt um Punkt aufholen ließ, reflektierte er mit seiner wissenschaftlichen Pedanterie, warum er Kuhring haßte.
Erstens hatte Kuhring mit einer fadenscheinigen Begründung die Veröffentlichung seines besten Artikels verhindert (Die Chancen des Management by Objektives in der EUROMAG), womit er auch die letzten Universitätsträume begraben konnte.
Zweitens ließ ihn Kuhring tagtäglich spüren, daß ein Wort von ihm genügte, um ihn auf die Straße zu setzen – fachliche Inkompetenz, keine sachliche Zusammenarbeit möglich usw. Dann war das Kind da – und er arbeitslos…
Drittens nützte Kuhring jede Gelegenheit, um ihm unter die Nase zu reiben, daß er Annelie schon lange gekannt hatte, und wie weit diese Bekanntschaft ging, bevor ein gewisser Bodo Brockmüller in ihr Leben getreten war.
Viertens schließlich hatte Kuhring ihn verführt, seine Späße mit Ossianowski zu treiben, denn Kuhrings Gunst bedeutete Sicherheit und Aufstieg. Was hatte er nicht alles angestellt, um Kuhring zum Lachen zu bringen, ihn heiter zu stimmen! Und das meiste auf Owis Kosten.
Vier Wunden, eine brennender als die andere.
«18:17 für mich!» rief Kuhring. «Aufschlagwechsel.»
Kuhring schlug auf. Immer muß er gewinnen, dachte Brockmüller, immer muß er andere quälen. Der Klare, den ich getrunken habe, läßt mich alles klarer sehen.
Ein Schmetterball. Ins Aus. 19:18 für Kuhring. 20:18. Dann paßte Brockmüller nicht auf und setzte den Ball mit einem weichen Rückhandschlag direkt hinters Netz, wo er obendrein noch von der Tischkante wegrutschte. 20:19.
In Brockmüller verkrampfte sich alles; er kämpfte gegen seinen Haß an und merkte, daß es sinnlos war.
Dann hatte er endlich verloren.
Kuhring war ausgelassen, fröhlich, herzlich, gönnerhaft. «Beim nächstenmal, mein Lieber! Die Ansätze sind nicht schlecht. Geh mal rüber ins Schlafzimmer und hol den Whisky, der steht da auf der Kommode. Und das Eis aus der Küche!» Er kommandierte schon wieder. «Wir räumen inzwischen die Tennisplatte weg und fangen mit dem Billard an.»
Brockmüller ging. Gehorsam. Ohne Widerrede.
Du mußt es schlucken, denk an das Kind!
Lieber mal was einstecken, als monatelang arbeitslos sein.
Eine Demütigung nannte man so was.
Na und…?
Er ging ins Bad und ließ sich das kalte Wasser über Stirn und Arme laufen.
Wenn bloß erst alles vorüber wäre.
Er war müde, viel zu müde zum Kämpfen. Wie denn auch? Gegen die Kuhrings war kein Kraut gewachsen. Wer so einen ausschalten wollte, der mußte genauso werden. Und viel Zeit haben… Aber inzwischen hatte Kuhring sich zum Generaldirektor hochgesoffen. Außerdem war er intelligent, ganz ohne Zweifel, bauernschlau, gerissen, ein Fuchs. Und da er nie etwas Konkretes auf den Tisch legte, konnte ihn auch niemand an seinen Fehlern aufhängen. Das Wenige, was die Sondergruppe bisher produziert hatte, stammte von Zumpe, Owi oder ihm – Kuhring hatte inzwischen Kontakte geknüpft. Wissen war Macht, aber nur, wenn man’s für sich behielt – was Kuhring regelmäßig tat.
Brockmüller trocknete sich die Hände ab. Er kannte die Wahrheit. Seit er als Kind, im Kindergarten, in der Schule, bei jeder Keilerei Prügel bezogen hatte, sehnte er sich danach, ein Typ wie Kuhring zu sein. Aber er war zu weich, zu lasch, zu schlapp. Annelie hatte es nicht nur einmal gesagt.
Er hängte das Handtuch an den Haken. Dabei fiel ihm auf, daß… Tatsächlich: ein paar Zentimeter über dem Wannenrand war ein verchromter Griff angebracht, an dem man sich aus dem Wasser ziehen konnte.
«Wo bleibt denn der Whisky?» dröhnte es aus dem Spielzimmer.
Brockmüller erinnerte sich an seinen Auftrag und ging ins Schlafzimmer hinüber.
Ein breites Bett. Wer zählt die Mädchen, nennt die Namen, die…
Annelie auch?
Brockmüller suchte, leicht schwankend, nach der Whiskyflasche. Schließlich entdeckte er sie an der Wand zum Badezimmer auf einem weißen Sideboard. Sie stand zwischen allerlei Kinkerlitzchen, die Kuhring in Kenia und Singapur erworben hatte. Neben einem Jade-Buddha summte leise ein elektrischer Wecker, Made in Japan.
Brockmüller griff sich die Whiskyflasche. Trinken und vergessen. Es hatte keinen Zweck, gegen den Strom zu schwimmen.
Er glotzte, ohne Zweifel leicht angetrunken, auf die beiden Schrauben, die dicht über dem Sideboard, etwas schräg gegeneinander versetzt, aus der Wand ragten – ja, irgendwie aus der Wand wuchsen, aus der Wand herausschossen… Es dauerte ein paar Sekunden, dann begriff er, daß sie drüben im Badezimmer den Haltegriff über der Wanne hielten. Offensichtlich hatten bei Kuhrings Körpergewicht auch die besten Dübel nichts genutzt, so daß der Klempner einfach zwei Löcher durch die Wand gebohrt hatte. Und gleich daneben…
Brockmüller starrte fasziniert auf die Verlängerungsschnur, mit der der elektrische Wecker an das Stromnetz angeschlossen war. Die Schnur war alt, war noch mit braunem Stoffgeflecht umwickelt.
Brockmüller hob den Wecker etwas an. Es stimmte: da, wo die alte Verlängerungsschnur in einen schwarzen Stecker mündete, ein sogenanntes Weibchen, lag die blanke Kupferlitze bloß.
Wenn er die blanke Kupferlitze wie zufällig auf einen der beiden Bolzen fallen ließ, die drüben im Bad den Griff hielten, und wenn Kuhring dann den Körper aus dem blauen Badewasser zog…
Ganz klar: Owi hatte es getan.