12

 

 

 

Es war eine verzwickte Sache, und wie er’s auch anfing, nie ging es auf. Mannhardt zerknüllte einen karierten DIN-A-4-Bogen und begann von neuem. Lilo – wer sonst? – hatte ihn heute früh angespitzt, mal so nebenher zu versuchen, die Zahlen von 1 bis 9 derart in einem Quadrat mit 9 Kästchen anzuordnen, daß die Summe der Zahlen sowohl in der Vertikalen und der Horizontalen als auch in der Diagonalen jeweils 15 ergab.

Es war ein blödes Spiel, zugegeben, aber gerade das Richtige, um den ganzen Mist hier zu vergessen. Doch der Gedanke an Kuhring war, so jedenfalls sein Vergleich, wenn er mit Koch darüber sprach, wie ein Korken, den man ins Wasser warf: er kam immer wieder hoch.

Kuhring war tot. Punkt und aus. Und einen Mörder gab es nicht zu jagen; der lag schon im Krematorium Wilmersdorf und wartete darauf, via Verbrennungsofen in die Urne zu kommen. O wie schön!

Scheiße! Soweit stimmte es, aber von links unten nach rechts oben ergab’s nur 12.

Sogar dazu war er zu dämlich.

Dr. Weber war mit ihnen Schlitten gefahren, ganz großer Krach. Mannhardt hatte zwar mit der Durchsuchung der Villa in der Mansfelder Straße nicht viel zu tun gehabt, aber nichtsdestoweniger sein Fett abbekommen. Bis jetzt hob ich nicht ans Peter-Prinzip geglaubtjetzt glaube ich ganz fest daran. Nach dem Peter-Prinzip stiegen die Leute so lange auf, bis sie die höchste Stufe ihrer Inkompetenz erreicht hatten. Weber wäre liebend gern Kriminaldirektor geworden, aber nun hackte die ganze Berliner Presse auf ihm herum, insbesondere natürlich das führende Law-and-order-Blatt. SO LÄSST DIE KRIPO MORDEN! Kein Wunder, daß ihm da der Kragen platzte! Olscha hatte er derart zur Sau gemacht, daß der sich mit dem Gedanken trug, als Werkschutzmann zu Siemens zu gehen. Olscha hatte nämlich den Auftrag gehabt, sich die einzelnen Büroräume in der Mansfelder Straße noch einmal ganz genau anzusehen.

Aber wer hatte schon daran gedacht, daß Ossianowski mit Giften arbeiten würde – alle waren doch auf Sprengstoff fixiert gewesen. Menschenskind, das war doch bloß Taktik von ihm, um uns in die Irre zu führen! Ja, hinterher war man immer klüger. Olscha jedenfalls behauptete steif und fest, nur eine Packung NEDO-Vit in Kuhrings Schreibtisch gesehen zu haben, die noch nicht angebrochen war. Die Aussage von Fräulein Gross stützte ihn hundertprozentig: Sie habe, und das könne sie beschwören, für Kuhring eine völlig fabrikfrische Packung aufgerissen. Verdammt noch mal das war doch für Ossianowski eine Kleinigkeit, die Multivitaminkapseln und die Verpackung wieder original herzurichten, nachdem er je ein Zehntelgramm Zyannatrium in drei der Kapseln praktiziert hatte. Schon, aber sie hatten eben alle wie hypnotisiert mit einer weiteren Sprengladung gerechnet und nicht mit Zyannatrium, zumal man in Ossianowskis Keller nicht die geringste Spur von Gift gefunden hatte. Kunststück – wo es schon in den Vitaminkapseln steckte! Was Ossianowski da gemacht hatte, erforderte eine unglaubliche Geschicklichkeit, aber mit Geduld, geübten Fingern und den notwendigen Instrumenten war es durchaus zu schaffen.

Aber eines mußte man Weber lassen: nach außen hin hatte er sie prächtig verteidigt. Am Schluß seiner Ausführungen den Polizeireportern gegenüber hatte der Satz gestanden: Hanc veniam petimusque damusque vicissim – diese Nachsicht fordern wir selbst und gewähren sie anderen. Seinen Horaz beherrschte er. Mochte er eitel und aufgeblasen sein und seine Bildung mit unerträglicher Arroganz an den Mann bringen, eines konnte man ihm nicht nachsagen: daß er seine Untergebenen in die Pfanne haute, um selber Karriere zu machen.

Kuhring war tot, da ließ sich nichts mehr machen. Aber was hatte dieser ebenfalls tote Ossianowski noch alles in petto? Es war grotesk. Kein Mensch wußte, was von dem noch alles programmiert worden war, ehe er sich die Kugel in den Kopf gejagt hatte… Und dieser Schloo, den er sich aller Wahrscheinlichkeit nach gekauft hatte, schwieg immer noch. Wenn nicht…

Geschafft!

Wie er’s auch rechnete, es ergab 15:

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Er war richtig stolz drauf. Ob er den neuen Schwung nicht nutzen und den widerlichen Schloo nochmals durch die Mangel drehen sollte?

Nee, im Augenblick hatte er keine Lust dazu.

Mit der Jenny Treibet war er auch am Ende; der sechste Fontane konnte abgehakt werden. Außerdem haßte er den Roman geradezu, nachdem Dr. Weber ihm und den Kollegen empfohlen hatte, sich den letzten Satz zur Maxime ihres weiteren Berufslebens als Kriminalisten zu machen: Wir wollen nach Hause gehen. Das war ganz süffisant gekommen: Das, meine Herren, ist doch der erste und einzige Gedanke, den Sie morgens haben, wenn Sie in die Keithstraße kommen.

Warum das ganze Theater?

Die Erde war rettungslos übervölkert. 3,6 Milliarden Menschen, allein in der Bundesrepublik 60 Millionen – was kam’s da schon darauf an, ob solche Pfeife wie dieser Kuhring noch lebte oder nicht? Außerdem war er selber schuld: Was mußte er diesen armen Teufel von Ossianowski zum Narren halten? Wenn’s so was wie einen gerechten Mord gab, dann war dies einer…

Mannhardt erschrak. Das eben Gedachte laut verkündet, hätte ihn den Job kosten können. Aber was half’s, er konnte weder, wie gefordert, Abscheu vor der heimtückischen Tat eines pathologischen Menschen, empfinden noch Mitleid mit dem Opfer. Zumindest längst nicht soviel Abscheu wie vor Leuten, die dafür verantwortlich waren, daß Menschen in manchen Gegenden mit importiertem Kriegsgerät aufeinander losgingen. Nach allem, was er von Kuhring wußte, war dessen Tod kein allzu großer Verlust für die menschliche Gesellschaft… Im gleichen Augenblick fand er sich ziemlich widerlich, weil er das dachte.

Scheißspiel.

Vielleicht kam er mal mit sich ins reine, wenn die Kripo zur Heilung von Verbrechern einen ‹sozialtherapeutischen Dienstzweig› einführte, wie er diesem leitenden Kriminaldirektor in Wuppertal vorschwebte. Das wäre was für ihn gewesen: nicht nur Tatermittlung und Jagd nach dem Täter, sondern Erforschung der Täterpersönlichkeit, Beratung bei seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft… Aber das war vorläufig noch Utopie.

Koch kam herein und brachte zwei Pappteller mit Bockwürstchen, Senf und Weißbrot mit.

Mannhardt staunte.

«Zum Mittagessen kommen wir doch nicht», sagte Koch. «Weber schickt uns gleich einen lieben Gast rüber – diesen Schloo. Wir sollen ihn ausquetschen, und wenn’s bis Mitternacht dauert. Er hat Angst, daß sie ihn zum BKA nach Wiesbaden abschieben, wenn’s Zumpe und Brockmüller auch noch erwischt.»

«Von wem haste ‘n das?»

«Von Ranow.»

«Hm…» Mannhardt unterdrückte eine bissige Bemerkung. Rannow war gestern zum Hauptkommissar befördert worden, obwohl er, Mannhardt, nach Ansicht aller Kollegen viel eher dran gewesen wäre.

Koch verzehrte sein Würstchen mit einer Verzückung, als wär’s Gänseleberpastete. «Schade um den Kuhring – war schon ‘n toller Hecht. Was der alles für Bienen vernascht hat… Bin ich der reinste Waisenknabe gegen.»

«Vielleicht kannste seine Erbschaft antreten; sieh doch mal in seinem Notizbuch nach.»

Koch grinste. «Du bist ‘n Genie!» Er nahm das zweite Würstchen und wollte gerade zu einem äußerst bildhaften Vergleich ausholen, da klopfte es kurz.

Dr. Weber stand in der Tür.

Sie erstarrten. Wie Sextaner, die beim Rauchen auf dem Scheißhaus erwischt werden.

Dr. Weber lächelte mokant. «Guten Appetit, meine Herren, bei Ihren Würstchen. Aber offenbar kennen Sie Ludwig Feuerbach nicht…?»

«Nein», sagte Mannhardt gepreßt.

«Jedenfalls nicht persönlich!» lachte Koch. «Aber das ist doch der amerikanische Kugelstoßer – Weltrekord…»

Dr. Weber schluckte. «Ich meine nicht Al Feuerbach, sondern Ludwig Feuerbach. Der hat nämlich gesagt: Der Mensch ist, was er ißt!»

Peng – das saß wieder mal.

Mannhardt wagte nicht, etwas Geistreiches zu entgegnen. Außerdem fiel ihm nichts ein. Wenn Weber auftauchte, war’s aus mit seiner Schlagfertigkeit. Völliger black-out.

Koch hingegen, das freche Aas, erinnerte sich: «Haben Sie nicht neulich von Froschschenkeln geschwärmt, die Sie irgendwo gegessen hatten?»

Weber schluckte abermals.

«Hier…» Er warf ihnen den Entwurf einer Anzeige auf den Tisch. «Das soll im Oktober in den Zeitungen erscheinen, damit wir neue Leute kriegen. Wenn Ihnen was dazu einfallen sollte – Kommentar morgen früh bei der Dienstbesprechung.» Ganz demokratisch. «Und sehen Sie zu, daß der Schloo endlich auspackt.» Draußen war er. Ohne lateinisches Zitat.

«Mensch, der hat ja fast berlinert!» Koch grinste. «Einstecken kann der auch nicht viel.»

«Bei dem bist du unten durch», sagte Mannhardt.

«Das juckt mich wenig. Mal sehen, was passiert.»

Sie beugten sich über den Anzeigenentwurf. Oben drüber ganz groß: Wäre das nicht Ihr Fall? Da wurden Männer und Frauen gesucht, die unsere Gesellschaft vor der Kriminalität schützen sollten. Dazu brauchen Sie Mut und Energie. Müssen objektiv analysieren, Zielsetzungen erkennen und in entscheidenden Situationen überlegen handeln können. Kurzum, wir suchen Menschen mit Verantwortung.

Koch grinste. «Da sie uns schon eingestellt haben, müssen wir ja logischerweise solche tollen Kerle sein.»

«Dann sag mir mal die Zielsetzung im Falle Ossianowski.»

«Weitere Morde verhindern.»

«Hm…» Mannhardt nickte. «Und das, obwohl der Mörder schon lange tot ist und sein Killer seit gestern hinter Schloß und Riegel sitzt.»

«Noch hat Schloo kein Geständnis abgelegt.»

«Den haben wir matt gesetzt, der wird’s bald zugeben.»

«Soll ich ihn holen lassen?»

«Aber selbstredend», sagte Mannhardt mit markiger Stimme und fuhr mit dem Finger über die letzte Zeile der Anzeige. «Wir sind doch von der Kripo Berlin. Menschen, die Lösungen suchen und finden.»

Koch zeigte auf den karierten Bogen, der jetzt auf Mannhardts Akten lag. «Die Aufgabe mit den neun Zahlen hast du wenigstens gelöst.»

«Paß bloß auf, daß ich dir nicht gleich mal was löse – nämlich die Schneidezähne aus dem Oberkiefer!»

Koch verschwand, um Volker Schloo zu holen und kam kurz darauf mit ihm herein.

«Setzen Sie sich, Herr Schloo…» Mannhardt wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Volker Schloo… Ein bißchen war der Lack schon ab, aber hübsch war er immer noch. Und er sah so dümmlich aus wie die Knaben, die manchmal in den Hitparaden auftraten. Aber da trog der Schein wohl ein wenig. Höchstwahrscheinlich hatte er schon mitgekriegt, daß Kuhring ermordet worden war – zu einer Zeit, da er längst im Untersuchungsgefängnis gesessen hatte. Und, das war der springende Punkt, was brauchte Owi einen Killer, wo er doch seine Morde offensichtlich und postum selber erledigte? Dieser Trumpf war so auffällig, daß er sogar einem Mann wie Schloo in die Augen stechen mußte. Mit diesem Argument konnte er Mannhardts ganze Indiziensammlung vom Tisch fegen.

Aber es sollte ganz anders kommen.

Um Schloo auf den Leim zu locken oder aber, wie man wollte, ihm die berühmte goldene Brücke zu bauen, hatte Mannhardt listig ein Protokoll formuliert, das Schloo nur noch zu unterschreiben brauchte. Er holte es aus der Schublade und begann es Schloo vorzulesen, nach ein paar einleitenden Bemerkungen natürlich.

«Hiermit erkläre ich, Volker Schloo, geboren am 17. 7.1946 in Zehdenick, wohnhaft 1 Berlin 36, Manteuffelstraße 36, von Herrn Otto-Wilhelm Ossianowski, zuletzt wohnhaft 1 Berlin 22, Gößweinsteiner Gang 185, DM 60000 erhalten zu haben mit dem Auftrag, dessen Kollegen Fräulein Gisela Lux und Herrn Dr. Bodo Brockmüller schweren körperlichen Schaden zuzufügen oder gar, wenn sich Gelegenheit dazu bot, sie zu töten. Zu diesem Zweck habe ich am 9.8.1972 in der Babelsberger Straße in Berlin-Wilmersdorf den Wagen des Internisten Dr. med. Alfred Wendt – Marke Peugeot, Nr. B-AV 2941 – gestohlen und dann am 10.8.1972 versucht, den Kleinwagen, in dem Dr. Brockmüller und Fräulein Lux zu ihrer Arbeitsstelle fuhren, auf der Avus auf Höhe des Hüttenweges bei regnerischem Wetter gegen die Leitplanke zu drücken. Nach meiner Tat habe ich den gestohlenen Wagen in der Kant/Ecke Bleibtreustraße abgestellt und einen Shell-Atlas aus dem Handschuhfach entwendet. Ich erkläre ferner, Herrn Ossianowski von unserer gemeinsamen Zeit bei der EUROMAG (1962-1964) her zu kennen und mir zur Erledigung seines Auftrages einen .38er Smith & Wesson-Revolver besorgt zu haben…» Mannhardt machte eine kleine Pause. «Berlin, den… und so weiter.»

Er sah gespannt zu Schloo hinüber. Der drückte die Zigarette aus, die Koch ihm gegeben hatte.

Es vergingen einige Sekunden, zehn, zwanzig. Alle drei schwiegen.

Mannhardt holte tief Luft und merkte, daß er den Atem angehalten hatte.

Dann machte Schloo eine hilflose Geste. «Sie haben recht…» Klang das noch resigniert, so war er sogleich wieder schnoddrig. «Geben Sie den Wisch schon her!»

Um 13 Uhr 47 war das vorläufige Protokoll unterschrieben.

Mannhardt war erleichtert, Koch strahlte. Endlich ein Erfolg, endlich etwas, womit man Dr. Weber füttern konnte. Und keine Gefahr mehr für Brockmüller und Zumpe – jedenfalls aus dieser Ecke.

Mannhardt sah schon die Balken-Überschriften der Zeitungen am nächsten Morgen: OWIS KILLER IST GESTÄNDIG. Die nannten ihn alle Owi. Gut, daß er’s nicht mehr mitbekam.

Blieb nur noch die Frage offen:

«Sie haben doch nur die halbierten Hundert-Mark-Scheine, Herr Schloo… Wie konnte denn Herr Ossianowski da sicher sein, daß Sie nach seinem Tode wirklich was unternehmen würden? Vor allem: Wer garantierte Ihnen denn nach Ossianowskis Tod, daß Sie die anderen Hälften auch wirklich bekamen? Was war denn da abgesprochen?»

Schloo verzog das Gesicht, für einen Augenblick schien er verwirrt. «Ich versteh Ihre Frage nicht…»

«Wieso – das ist doch ganz einfach: Als Ossianowski tot war, hingen Sie doch in der Luft. Und er auch…» Mannhardt brach ab und unterdrückte ein Grinsen: «Owi im Nachthemd mit Harfe, leicht mit den Flügeln schlagend…»

«Ach so!» Schloo hatte begriffen. «Owi wollte mir die andere Hälfte des Geldes geben, wenn ich… wenn ich die Tat begangen hatte.»

Koch lachte. «Als Leiche – wie?»

Schloo wurde ärgerlich. «Mensch, mir hat doch niemand erzählt, daß er sich ‘ne Kugel durch ‘n Kopp gejagt hat!»

Mannhardt stutzte. «Und Sie sollten dann später von ihm die fehlenden Hälften bekommen?»

«Ja – sag ich doch schon die ganze Zeit.»

«Und Sie haben von Ossianowskis Selbstmord nichts erfahren, obwohl alle Zeitungen voll davon sind? Lesen können Sie doch – oder? Und fernsehen und Radio hören wohl auch…?»

«Verdammt noch mal, ich hab das mit Owi schon Mitte Juli ausgemacht, und da haben wir auch den Tag festgelegt: Donnerstag, 10. August.»

Ossianowski war ein Pedant gewesen – warum sollte er darauf verzichtet haben, diesen Tag zu fixieren? Mannhardt nickte.

Schloo ließ sich auch nicht bremsen. «Und vom 1. August an war ich bei meiner Tante in der DDR, in Pritzwalk – könnse sich erkundigen… Und da oben interessiert es keinen Menschen, ob Ossianowski Selbstmord begangen hat oder nicht. Ich wär auch nie auf die Idee gekommen, daß er’s vorhat – sonst hätt ich doch nicht… Beschissen hat er mich, der Drecksack!»

Koch mischte sich ein. «Dann sind Sie also erst am Mittwochabend nach Westberlin zurückgekommen, haben in der Nacht den Wagen von Dr. Wendt gestohlen und dann am Donnerstagmorgen in Wannsee auf Dr. Brockmüller und Fräulein Lux gewartet?»

«Sie sagen es, großer Meister.»

Mannhardt zweifelte nicht an Schloos Worten, denn wenn Schloo wirklich den Fall Ossianowski in der Presse verfolgt und von den Explosionen und Morddrohungen erfahren hätte, wäre er nie und nimmer auf die Idee gekommen, ausgerechnet an diesem kritischen Morgen auf Brockmüller und die Lux zu warten: ein Mann von seiner Intelligenz mußte doch wissen, daß man die beiden bewachen ließ. Ergo war es nur allzu logisch, was Schloo da sagte.

«Dann müßten die fehlenden Hälften Ihrer Geldscheine ja noch in Owis Haus draußen liegen», folgerte Mannhardt.

«Hm, hm.» Schloo nickte. «Aber wer weiß, wo…»

«Die finden wir schon», sagte Koch.

«Und auf welche Weise wollten Sie Herrn Zumpe – na, sagen wir: eins auswischen?»

«Den wollte Owi mit seinem Motorboot in die Luft sprengen; damit hab ich überhaupt nichts zu tun.»

Richtig. Seit Wochen war Zumpe jeden Tag gegen 18 Uhr mit seinem Motorboot auf der Havel gewesen.

Mannhardt wollte noch nachhaken, doch da klingelte das Telefon.

«Ja, bitte…? Mannhardt, Mordkommission. Hallo…!?»

Eine aufgeregte männliche Stimme: «Hier ist Haupt, ich bin Zahnarzt und komme eben aus dem Urlaub zurück…»

Na und, dachte Mannhardt, soll er doch. Was geht uns das an?

«… ich habe einen automatischen Anrufbeantworter…»

Wie schön für ihn.

«… und auf Menorca hab ich das mit Herrn Ossianowski gelesen; es hat mich erschüttert… Er war seit… seit 1961 war er Patient bei mir…»

«Verzeihen Sie, Herr Haupt, aber…»

«Dr. Johannes Haupt, Zahnarzt…»

Der Zusammenhang, Mensch! Der Mann war ja vollkommen durchgedreht.

«… da komme ich nach Hause, spiele das Band ab, und… hören Sie mal!»

Mannhardt machte ein drohendes Gesicht, so daß Koch und Schloo den Mund hielten, stopfte sich den Zeigefinger ins linke Ohr, preßte den Hörer an das rechte und hörte nach einigem Krächzen mehr oder minder deutlich folgendes:

Hier telefonischer Anrufbeantworter Berlin 3642193, Dr. med. dent. Johannes Haupt, Heerstraße 192. In der folgenden Sprechzeit geben Sie bitte Ihre Adresse und Ihre Mitteilungen auf. (Rauschen, Knacken.) Guten Tag, Herr Dr. Haupt, hier spricht Otto-Wilhelm Ossianowski. Wenn Sie dieses Band abhören, benachrichtigen Sie unverzüglich die Kriminalpolizei. Ich gebe allen eine faire Chance. Irgendwo hier in Berlin sind meine Aufzeichnungen versteckt. Nur wenn man sie findet, kann das Leben vieler Menschen gerettet werden. Ansonsten habe ich noch einiges in petto. Also, lieber Herr Dr. Haupt, teilen Sie schnellstmöglich der Kripo mit, daß sie das Versteck meiner Aufzeichnungen finden kann, wenn sie in meinem Lieblingsbuch folgende, auf der Seite 76 vorfindbare Buchstaben aneinanderreiht: Zeile 8: 1-5-18-21; Zeile 9: 25-27-28-47-54; Zeile 10: 25-34-36-41-46; Zeile 11-50-58; Zeile 12: 3-6-7-18-20-24-45-55-59; Zeile 13: 21-38-39-45; Zeile 14: 6; Zeile 15: 4-32-37-53-55; Zeile 16: 4-7-19-32-42-43-49; Zeile 17: 11-15-26-45-46-47-48-49; Zeile 18: 30- 56-57; Zeile 19: 17-20 -25-26-29-37-52-53-54; Zeile 20: 13-36-42-43-44-45-46-50-51; Zeile 21: 32-46-47-50; Zeile 22: 5-6-12-14-19-38-42; Zeile 23: 24-37-38-39; Zeile 24: 18-40-50-53-59; Zeile 25: 6-16-24-25-26-39-51-52-53-55. Nur Buchstaben, Zeichen zählen nicht. Herzlichen Dank, Herr Dr. Haupt. Auf Wiedersehen. Ende!

Mannhardt hatte die Zahlen mitgeschrieben; er schwitzte. «Hallo – Herr Dr. Haupt?»

«Ja, Herr Kommissar…»

«Heben Sie um Gottes willen das Band auf – wir sind in einer Viertelstunde bei Ihnen!»

Mannhardt geriet in Panik; alles überstürzte sich. Er rief einen Kollegen an, der Schloo in seine Zelle zurückbrachte; er griff zum Telefon und informierte Dr. Weber; er schnauzte Koch an, weil der noch immer nicht ganz begriffen hatte, worum es ging; er sprang auf und riß Koch mit sich aus dem Zimmer.

«Los, nach Kladow, die Bücher durchfilzen!»

«Waaas – die ganze Bibliothek? Zwei riesige Bücherwände?»

«Leider, ja.»

«Sein Lieblingsbuch…?»

«Red nicht soviel, komm! Weber schickt uns nachher Verstärkung.»

Erst im Auto unten kam Mannhardt wieder ein wenig zur Besinnung.

«Hast du ein Tonbandgerät mit?»

Koch war verwundert. «Nein…»

«Mensch, hol das von Dr. Weber aus dem Vorzimmer! Wir müssen doch bei dem Zahnklempner da vorbeifahren und das Band abholen und dann bei Owi noch mal abhören. Ich kann mich in der Eile verschrieben haben. Es geht womöglich um Sekunden; wer weiß, was der Blödmann noch alles ausgebrütet hat!» Koch war schon halb draußen. «Und sag dem Weber noch mal, daß er uns in den nächsten zwanzig Minuten die Erlaubnis verschafft…»

«Welche Erlaubnis?»

«Daß wir bei Owi in die Bude reinkommen; dieses Scheißsiegel da…»

«Ach so!» Koch, aktiver 400-m-Läufer im Polizeisportverein, spurtete los.

Mannhardt atmete tief durch, dreimal. Das hatte ihm Lilo ans Herz gelegt. Er hatte gewaltigen Durst. Aber ehe er was Trinkbares organisiert hätte, wären weitere fünf Minuten vergangen. Scheiße! Wenigstens hatte Koch im Handschuhfach ‘ne halbe Tafel Pfefferminzschokolade liegen. Er fraß sie auf.

Endlich! Koch mit dem Tonbandgerät. Los!

Sie fuhren über den Wittenbergplatz, die Tauentzien runter, Zoo, Hardenbergstraße, Ernst-Reuter-Platz. Die Farben huschten vorbei, als würde er in einem Kettenkarussell sitzen.

Ossianowskis Lieblingsbuch.

Eines von bald zweitausend, schätzungsweise.

Seite 76.

Eine Sisyphusarbeit.

Als sie den Theodor-Heuss-Platz passierten und in die Heerstraße einbogen, war Mannhardt wieder etwas ruhiger geworden. Nerven behalten!

Dann hielten sie vor der Praxis von Dr. Haupt, und Koch eilte in das erste Stockwerk, um das Tonband zu holen. Kaum hatte sich Mannhardt eine Zigarette angesteckt, war er wieder da.

«Hier ist es.» Er warf die Spule auf den Rücksitz.

«Ab, weiter!»

Koch schlug die Tür zu und gab Gas.

«Ich tippe auf einen Roman, der von Tod, Vernichtung, Grausamkeiten, Krieg und so handelt», sagte er ohne Überleitung. «Denk doch bloß mal an sein Selbstmord-Center.»

Mannhardt verstand auch so. Sie dachten beide die ganze Zeit darüber nach, unter welchen Gesichtspunkten sie suchen sollten.

«Oder von Aufständen, Rebellionen: einer gegen alle – Spartakus oder so, Papillon oder wie der Knabe da hieß…»

«Das wäre die eine Möglichkeit; die andere hat aber zumindest ebenso viel für sich.»

«Was denn für ‘ne andere Möglichkeit?»

«Daß er an einem Roman gehangen hat, der eine heile Welt schildert, Leberecht Hühnchen oder so – ein intaktes Familienleben. So was war doch wohl seine große Sehnsucht.»

«Wir werden ja sehen…»

«Hoffentlich bald.»

Als sie dann vor Owis Bücherwänden standen, verging ihnen allerdings das Hören und Sehen. Es waren zumeist Taschenbücher, und nach dem Durchzählen der obersten Reihe schätzten sie den Gesamtbestand auf rund zweitausend Bände.

«Amen!» sagte Koch. «Da finden wir eher ‘ne Stecknadel im Heuhaufen.»

«Wenn der uns hier sehen könnte! Überschrift: Ein Toter lacht sich tot…»

«Da sitzen wir bis Weihnachten hier, ehe wir jedesmal die Seite 16 aufgeschlagen haben.»

Mannhardt suchte nach einer Steckdose. «Hoffentlich haben sie den Saft noch nicht abgedreht.»

Koch knipste die Deckenleuchte an. «Nee, Gott sei Dank nich. So schnell schießen auch die Preußen von der BEWAG nicht.»

Mannhardt schaltete das Tonbandgerät ein und legte die Spule auf, die Koch vom Zahnarzt bekommen hatte. «Wir sollten mal sehen, ob der Code stimmt, den ich mir vorhin am Telefon notiert habe.»

«Das ist kein Code, das ist Scheiße!»

«Nun red nicht soviel – hör zu und schreib mit, damit jeder die Zahlenkombination hat.»

So hockten sie in den nächsten Minuten an einem kleinen Couchtisch und lauschten Owis leicht kastratenhafter Stimme.

Irgendwo hier in Berlin sind meine Aufzeichnungen versteckt. Nur wenn man sie findet, kann das Leben vieler Menschen gerettet werden…

Koch stöhnte.

wenn sie in meinem Lieblingsbuch folgende, auf der Seite 16 vorfindbare Buchstaben aneinanderreiht: Zeile 8: 1-5-18-21…

Koch schrieb die Zahlen in sein Notizbuch, Mannhardt verglich sie mit seinen früheren Aufzeichnungen.

Nachdem sie das Tonbandgerät abgeschaltet hatten, begannen sie mit ihrer fieberhaften Suche. Noch waren sie voller Hoffnung, auf Grund ihrer systematischen Vorüberlegungen relativ schnell ans Ziel zu gelangen.

Mannhardt begann mit Hans Falladas, Kleiner Mann – was nun? Er zupfte das Buch, das er oben rechts im Regal entdeckt hatte, auf den Zehenspitzen stehend heraus, schlug die Seite 16 auf, fuhr mit dem rechten Finger auf die achte Zeile hinunter und zählte dann mit wachsender Spannung die Buchstaben: 1, 5, 18 und 21. Das Ergebnis war wenig ermutigend: H – Z – H – G. Und aus der Zeile 9 kamen noch ein I, ein S und ein O hinzu.

Fehlanzeige, ganz offensichtlich.

Koch, der bei seinem alternativen Ansatz auf Mannhardts Rat zuerst zu Stefan Zweigs Joseph Touche gegriffen hatte (die Massenexekution in Lyon!), wurde ebensowenig fündig. «E – N – E – S – I – E – N – O», buchstabierte er. «Und außerdem ist in Zeile 9 nach dem Buchstaben 48 Schluß.»

Mannhardt probierte es mit der Familie Buchholz von Julius Stinde, einer Berliner Idylle, die Ossianowski vielleicht geschmeckt haben konnte. Doch was sich auf seinem Notizblock niederschlug, ergab beim besten Willen keinen Sinn: L – Z – E – T – D – A – T.

Koch, der Thomas Manns Tod in Venedig beim Wickel hatte, wirkte ziemlich sprachgestört: «Ulrniuna… Hast du ‘ne Ahnung, wo das liegt?»

«Ein Glück, daß dieser Ossianowski schon tot ist, sonst…» Mannhardt stieß einen drohenden Knurrlaut aus.

Die nächste halbe Stunde brachte sie auch nicht weiter, obwohl sie die einzelnen Titel jetzt schon wesentlich schneller abcheckten, ganz mechanisch schon.

Guy de Maupassant, Stark wie der Tod: S – N – G – Ä und in der Zeile 9 nur 14 Buchstaben.

Henry Jaeger, Die Testung: In der Zeile 8 nur 19 Buchstaben.

Ernest Hemingway, Wem die Stunde schlägt: in der Zeile 8 nur 18 Buchstaben.

Henryk Sienkiewicz, Quo vadis: U – R – A – 1 und in der Zeile 9 nur 7 Buchstaben.

Mannhardt ließ sich resignierend in den Sessel fallen.

Koch schmiß die Christenverfolgungsstory auf den Teppich. «Da ist nix zu löten an der Holzkiste!»

«Du sagst es – wir müssen uns bald was Neues einfallen lassen.»

Es dauerte aber ein paar Sekunden, ehe Mannhardt sich wieder aufraffen konnte. Dann ging’s Schlag auf Schlag.

«Hoffentlich ist das Telefon noch angeschlossen.»

Es war, und so gab er zuerst den Code an Dr. Weber durch und bat ihn, die Presse zu informieren und die Bevölkerung mit einer entsprechenden Belohnung zur Mitarbeit zu motivieren. Vielleicht konnte auch die Berliner Abendschau des SFB Owis Zahlenkolonnen auf einer Schautafel bringen. Schließlich ging’s hier um Menschenleben, möglicherweise um eine ganze Menge. Dr. Weber unterließ jede süffisante Bemerkung, was den Ernst der Lage erst so recht unterstrich, und wollte sich auf der Stelle dranmachen, die ganze Maschinerie in Bewegung zu setzen.

Mannhardts zweiter Schritt bestand darin, Olscha aus seinem Nachmittagsschläfchen aufzuscheuchen und ihm den Auftrag zu erteilen, bei allen Berliner Leihbüchereien, Volksbüchereien, öffentlichen Bibliotheken nachzufragen, ob und was Ossianowski derzeit ausgeliehen hatte. Natürlich auch in der Werksbücherei der EUROMAG, falls es eine gab. Der Gedanke war ihm gerade gekommen.

«Außerdem fragen Sie noch mal bei Ossianowskis Reinemachefrau nach, einer gewissen Elfriede Kriegshammer – haben Sie? – , ob die sein Lieblingsbuch kennt. Adresse bei den Akten… Und dann sehen Sie zu, daß uns Dr. Weber so viele Kollegen wie möglich rausschickt, um die Bücher hier durchzuflöhen. Das hab ich eben vergessen. Okay?»

«Emwe – machen wir!»

Kaum hatte er aufgelegt, da war Weber am Apparat und versicherte ihm, daß er alle verfügbaren Kollegen und Kolleginnen nach Kladow in Marsch setzen würde.

«Dem geht wohl auch der Arsch auf Grundeis», meinte Koch, der inzwischen vergeblich weitere Bücher unter die Lupe genommen hatte. Plötzlich aber hellte sich sein Gesicht wieder auf: «Mensch – kann das nicht auch ein Fachbuch gewesen sein? Eins, das er bei seiner Arbeit gebraucht hat?»

Mannhardt sah Koch an und kaute an der Kuppe seines rechten Mittelfingers herum. «Klar, das könnte sein. Dann ist das mit dem Lieblingsbuch ironisch gemeint, dann bezieht sich das auf ein Buch, das sie im Büro haben…»

«Es ist gleich halb fünf – ob die noch da sind?»

«Such mal schnell die Nummer der Sondergruppe raus!»

«EUROMAG, E…» Koch riß die beiden Bände des Berliner Telefonbuchs unter dem Telefon hervor und machte sich an die Arbeit. Trotz der vielen Verweise war’s in drei Minuten geschafft.

Und Mannhardt hatte Glück, Brockmüller meldete sich.

«Hallo, Herr Dr. Brockmüller; ehe Sie Feierabend machen: folgendes…» Er erzählte ihm kurz, worum es ging und begann dann, Ossianowskis Code vorzulesen: «Seite 16 also. Zeile 8: 1 – 5 – 18 – 21…»