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Herzinfarkte kommen oft wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Brockmüller wartete, seit er diesen Morgen am Schreibtisch saß, mit neurotischer Zwanghaftigkeit auf den Augenblick, wo sich eines seiner Kranzgefäße plötzlich verkrampfte und das Herz nicht mehr genügend Blut bekam: Herzstillstand.

Sicher, er hatte gestern bei Kuhring zuviel getrunken, aber das allein war es nicht.

Das graue Telefon schrillte. Es dauerte Sekunden, bis er begriff, daß dies eine Aufforderung war, den Hörer abzunehmen.

«Brockmüller…?»

«Ich bin’s…» Zumpe. «Hat sich unser Herr und Meister schon bei Ihnen gemeldet?»

Ein Blick auf die Armbanduhr. «Halb zehn gleich – ist er immer noch nicht da?»

«Sonst würd ich doch nicht fragen.»

«Bei mir steckt er nicht; angerufen hat er auch nicht.»

«Hm…» Aufgelegt.

Ziemlich föhnig, der Herr Zumpe. Vielleicht hatte er Sehnsucht nach Kuhring. War ja möglich.

Brockmüller wandte sich wieder der Tätigkeit zu, für die er bezahlt wurde.

Inzwischen hatte er sieben Trends herausgefunden, die als typisch für die Entwicklung der Industrieverwaltung in Deutschland gelten konnten. Schöner war’s sicherlich, wenn er Stücker zehn zu Papier brachte – der Herr Donnersmarck, der liebte glatte Zahlen… Er holte ein halbes Dutzend Bücher aus dem Regal und begann zu blättern.

Daß der EDV noch größeres Gewicht zukommen würde, hatte er schon festgehalten, ebenso die zunehmende Bedeutung des Matrix-Managements… Er dachte nach. Dann beschloß er, eine schöpferische Pause einzulegen und griff noch einmal zur Morgenzeitung.

Owis Killer war also gefaßt worden; dieser Schloo hatte aber bislang kein Geständnis abgelegt. Kam sicher noch. Es sprach ja alles dafür, daß sich Owi diesen Knaben gekauft hatte. Mannhardt, diese Perle von Oberkommissar, schien’s jedenfalls zu glauben, sonst hätte er Olscha nicht in die Keithstraße zurückgeholt. Im Augenblick patrouillierte nur noch ein einsamer Polizist vor ihrer ehrwürdigen Residenz auf und ab.

Aber wer garantierte ihnen denn, daß Owi nicht doch noch ein kleiner Gag eingefallen war? Die Herren Experten legten zwar allesamt ihre Hand dafür ins Feuer, daß sich in diesem Hause hier kein einziges Gramm Sprengstoff mehr befand, aber…

Warte mal ab, das dicke Ende kommt noch.

Brockmüller faltete die Zeitung zusammen und blätterte in einigen organisationstheoretischen Werken herum. Nach zehn Minuten hatte er zwei weitere Stichpunkte für seine Trendanalyse gefunden. Gott sei Dank! Den letzten Punkt bekam er auch noch zusammen.

Hinterher liest es doch keiner.

Es war schon schön, auf der Welt zu sein, wahrlich.

Wieder das Telefon, und wieder Zumpe.

«Ich komm mal rüber, ja?»

Komisch, der fragte doch sonst nicht.

«Oder haben Sie noch mit Ihrer Trendanalyse zu tun?»

«Ja, aber kommen Sie man.»

Zumpe erschien und sah aus wie das Leiden Christi. Wie beim Farbfernseher, wenn man Udo Jürgens langsam die Farbe wegnahm. Brockmüllers Mutter hatte so ‘n Dings, und er spielte gerne an den Reglern rum.

Brockmüller stand auf, ließ seine rückgratgerechte Sitzgelegenheit mit einem lässigen Stoß auf Zumpe zurollen und setzte sich auf die Tischkante. «Sie fürchten sich wohl allein in Ihrem Zimmer, seit Owi nicht mehr da ist?»

«Ist schon ein komisches Gefühl… Aber was anderes. Ich habe eben im Klinikum angerufen.»

«Fräulein Lux?»

«Hm, Fräulein Lux.»

«Und? Was ist?»

«‘s geht ihr ziemlich dreckig. Nicht mal die Verletzungen; der Nervenzusammenbruch.»

Zumpe saß da und starrte aus dem Fenster. Brockmüller fiel auch nichts ein, was zu bereden gewesen wäre. Schweigen wir von was anderem. Owi mußte verdrängt werden, blieb also, nachdem die Lux erledigt war, nur ihr Boss.

«Wo bleibt denn Kuhring bloß?»

«Was weiß ich…» Brockmüller zuckte die Achseln.

«Ob ich mal bei ihm anrufe?»

«Versuchen Sie’s halt.» Brockmüller schob ihm den Telefonapparat über den Tisch. Welche Liebe unter den Menschen! Zumpe, der ansonsten nur giften konnte, machte sich plötzlich Sorgen um Kuhring… Not macht nicht nur erfinderisch, sie stimmte auch versöhnlich.

«Da meldet sich niemand», sagte Zumpe.

«Der wird noch so besoffen sein, daß er nichts hört.»

«Kann ich mir nicht denken. Besoffen war er schon oft, aber deswegen kam er doch.»

«Jaaa… Ja, das stimmt. Ob er… Ich meine, sie haben zwar diesen Schloo, aber…» Brockmüller brach ab.

Hoffentlich ist er tot.

«Sie sagen das so, als ob… Mensch, das… Wir müssen jetzt was tun!»

«Rufen Sie doch mal drüben am Fehrbelliner Platz an; vielleicht sitzt er wieder bei Fräulein Gross rum. Oder wir warten bis zehn und rufen dann Mannhardt an.»

Zumpe warf den Hörer auf die Gabel und schluckte eine orangefarbene Pille. «Ich hab nicht viel Freunde – und wir beide kennen uns schon ewig. Einer hat dem anderen geholfen, die ganzen Jahre hindurch. Klar, es gab auch mal Knartsch, aber…»

Brockmüller hörte kaum noch hin. Wie würde Annelie reagieren, wenn Kuhring tot war? Die Aufregung… das Kind! Bei der psychischen Belastung jetzt…

Owi. Dieses verdammte Schwein!

Er mußte mit dem Gynäkologen reden, sie mußten die Geburt künstlich einleiten. Aber Annelie sträubte sich dagegen. Und sie haßte ihn, weil er ihr Kind gefährdete.

Hättest du Owi in Ruhe gelassen, dann wäre das alles nicht passiert. Anstatt ihm zu helfen, hast du ihn zur Sau gemacht. Da war endlich mal einer, der noch schwächer war als du – und: auf ihn mit Gebrüll! Nein, nicht mit Gebrüll, sondern mit Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung – psychologisch und mit Esprit, nicht mit dem Holzhammer. Und dafür landet unser Kind dann in der Klapsmühle. Gratulieret

Brockmüllers Herz setzte aus, er bekam plötzlich keine Luft mehr, schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen und hustete, flüchtete in einen Hustenanfall, damit Zumpe nichts merkte. Das helle Rechteck des Fensters schnellte nach oben, zuckte zur Seite, löste sich auf, floß wieder zusammen… Er griff mit kalt-feuchten Fingern zur Fanta-Flasche und trank mit geschlossenen Augen.

Nur nichts anmerken lassen!

Annelie hatte recht, und die Karre steckte im Dreck, tief im Dreck.

Wenn doch bloß erst alles aus wäre!

«Geht’s Ihnen nicht gut?» fragte Zumpe.

Brockmüller setzte die Flasche ab. «Doch, doch. Aber bei drei Stunden Schlaf die letzten Nächte…»

«Meinen Sie, bei uns ist es anders?»

«Nee…» Da war’s eher noch schlimmer, weil Zumpe mit seiner Frau offensichtlich überhaupt nicht mehr zurechtkam. Die mußten sich geradezu zerfleischen. Kein Wunder. Zumpe konnte sicherlich ‘ne Menge, aber eins auf keinen Fall: zärtlich sein. Barsch und bissig, das war er, ihnen wie seiner Frau gegenüber. In den letzten Tagen war’s ein bißchen besser geworden, aber trotzdem…

Unten an der Tür klingelte es.

«Kuhring!» rief Zumpe. «Da ist er!»

Brockmüller hatte ihn noch nie so schnell die Treppe hinunterlaufen sehen.

Aber es war nicht Kuhring, sondern Fräulein Gross. Der Abteilungsleiter hatte sie für drei Stunden herübergeschickt, um das zu schreiben, was die Lux im Augenblick owihalber nicht schreiben konnte.

Sie trug ein Kleid im Afro-Look; eigentlich kein Kleid, sondern eine selbstgebastelte Mischung aus Poncho, Überhang, Sari und Kimono. Irgendein Freund hatte ihr den Stoff aus Lagos mitgebracht. Wahrscheinlich Bastl, dieser Blödmann. Brockmüller kannte ihn vom Studium her. Entwicklungshelfer mit doppelt soviel Gehalt wie er, wegen der Auslandszulage und der Steuervergünstigung. Aber das Ding stand ihr, zumal sie sich ein paar krause Haarsträhnen zugelegt hatte.

«Sie könnten wirklich Mannequin werden», sagte Zumpe, und es klang wie ein Kompliment.

«So…» Gaby war erfreut.

Doch dann kam es säuerlich: «Ja – für Faschingskostüme.»

Zumpes Charme.

Brockmüller griff ein. «Entschuldige, wir sind ein bißchen durcheinander, weil Kuhring noch nicht da ist. Zu Hause meldet sich keiner. Sag mal, ist er bei euch rumgeturnt?»

«Nein… Bestimmt nicht…» Sie war ein wenig bleich geworden. «Sollte man nicht der Kripo Bescheid sagen?»

«Das mein ich doch die ganze Zeit!» sagte Zumpe.

«Bitte…» Brockmüller hielt ihm den Hörer hin.

Zumpe wählte Mannhardts Nummer und berichtete ihm mit knappen Worten, was bei ihnen los war. Dann hörte er ein Weilchen zu, nickte ein paarmal, bedankte sich und legte auf.

«Mannhardt schickt sofort einen Funkwagen hin. Wir bekommen dann Bescheid, wenn…»

wenn sie Kuhrings Leiche gefunden haben.

Brockmüller stöhnte. Er entschuldigte sich und stieg zur Toilette hinunter, um sich kaltes Wasser über die Stirn laufen zu lassen.

Fahr zum Flughafen, setz dich in das nächste Flugzeug und hau ab. Du hast 20 Scheckformulare bei dir, das sind mindestens 6000 Mark. Das reicht.

Er wurde abgelenkt, als draußen auf dem Parkplatz ein kleiner Bautrupp begann, den Krater zuzuschütten, den Owis erste Bombe aufgerissen hatte. Es stank auch schon nach kochendem Teer.

Er ging zu den beiden anderen zurück. Gaby saß hinter der elektrischen Schreibmaschine und versuchte, ein handgeschriebenes Protokoll von Kuhring zu entziffern und auf eine Wachsmatrize zu übertragen, während Zumpe ihre Konzentration dadurch störte, daß er Kuhrings schnelle Auffassungsgabe lobte.

«… eine Fähigkeit, Zusammenhänge sofort zu erkennen – erstaunlich…»

Brockmüller fragte sich, ob Kuhring tatsächlich schon mit Gaby geschlafen hatte, wie es der Klatsch wissen wollte. Gaby vertippte sich andauernd und fluchte, Zumpe schimpfte über den Direktor des Osnabrücker Werkes, der sich wieder mal dagegen wehrte, einen Versuch mit dem Matrix-Management zu machen.

«… beim Harzburger Modell, da hört’s bei dem auf – Delegation von Verantwortung ja, aber dann… Mensch, die müssen doch schon längst bei Kuhring in der Wohnung sein…»

«Auch ein Genie wie Mannhardt braucht seine Zeit, einen Toten zu verhören!» spottete Brockmüller.

«Daß Sie ein geistreicher Mensch sind, wissen wir Ja», erwiderte Zumpe gereizt, «obwohl wir schon alle Hoffnung aufgegeben haben, daß sich das auch mal in Ihrer Arbeit hier niederschlägt.»

«Passen Sie auf, daß es nicht bald den ersten Niederschlag hier gibt!» knurrte Brockmüller.

«Meine Herren – bitte!» Gaby stellte ihre Maschine ab. «Dabei kann doch kein Mensch arbeiten.»

«Dieses Scheißprotokoll liest ja doch kein Aas!» Brockmüller kam langsam in Fahrt.

«Ich warne Sie!» Zumpe lief rot an.

Nimm dich doch zusammen! Das hat doch keinen Sinn.

Er lenkte ein. «Mensch, wir sind doch alle überreizt. Kommt, frühstücken wir erst mal.»

Ehe Zumpe antworten konnte, bimmelte das Telefon. Er riß den Hörer hoch.

«Sondergruppe für Systemplanung, Zumpe… Ja, ja… Mein Gott… Danke.» Er legte auf.

«Was ist?» fragte Brockmüller.

«Die Wohnung ist leer. Keine Spur von Kuhring.»

Gaby begann zu weinen, und Brockmüller streichelte sie, legte ihr den Arm um die Schultern. Wie damals… Es erregte ihn.

Zumpe starrte aus dem Fenster, als hätte er noch nie Bauarbeiter gesehen. Sekunden vergingen. Minuten. Zumpe preßte die Stirn gegen das kühle Glas. Brockmüller versuchte, Gaby zu beruhigen und machte ein Liebesspiel daraus.

Nimm sie, setz dich mit ihr in ein Flugzeug, fang irgendwo anders ein neues Leben an…

Draußen lachten die Bauarbeiter; krachend flogen Steinbrocken in den Krater.

Sie schreckten erst hoch, als draußen die Tür aufgeschlossen wurde und Kuhring im Schreibzimmer stand: dröhnend, vital, ein strahlender Held.

«Mensch, was ist denn hier los!? Hat Annelie ‘ne Fehlgeburt gehabt…?»

Zumpe fuhr herum. «Wir dachten, du…»

«Ich? Was soll ich?»

«Daß Owi…»

«Mich? Dieser krächzende Eunuch? Na! – Nee, ich war beim Arzt. Mein Heuschnupfen… War ja nicht mehr zum Aushalten. Soviel Tempotaschentücher gibt’s ja gar nicht. Er hat mir ‘ne Spritze Volon A 40 verpaßt, und jetzt ist es schlagartig besser… Kommt, Kinder, macht Frühstück, ich hab Hunger!»

«Gott sei Dank», sagte Zumpe.

«Ja…» fügte Brockmüller hinzu.

Der überlebt uns alle.

Über die Strategien, die Kuhring zum Überleben entwickelt hatte, ließen sich zwei Habilitationsschriften verfassen.

Wenig später hatte Gaby das getan, was die Männer in allen großen Organisationen, gleich ob leitende Angestellte oder höhere Beamte, von ihren Sekretärinnen erwarteten: Kaffee gekocht – beziehungsweise Gesundheitstee für die Magenkranken. Brockmüller formulierte es so: Der Weg der deutschen Frau: Vom heimatlichen Herd zum dienstlichen Heißwasserspeicher. Immer im Dienst des deutschen Mannes. Blüh im Glanze dieses Glückes.

Scheiße, alles Scheiße!

Was ging ihn Gaby an – der Teufel sollte sie holen! Aber er sah seine Tochter – er war überzeugt, daß es eine Tochter werden würde – auch schon Kaffee kochen. Womöglich für den Generaldirektor Karl-Heinz Kuhring.

Sie saßen am linken Ende des großen Konferenztisches. Kuhring natürlich an der Stirnseite, wie es sich für einen Vorsitzenden gehörte. Zumpe und das Mädchen links von ihm, Brockmüller rechts. Kaffee für Kuhring, Pfefferminztee für Zumpe und Gaby, koffeinfreier Kaffee für Brockmüller.

Kuhring war froh gestimmt und erzählte von seinem letzten Urlaub auf der Insel Ägina, zwei Schiffsstunden von Athen entfernt.

«Das Wasser – Klasse! Und nach Athen nur ein Katzensprung. Akropolis, Piräus – muß man gesehen haben. Oder Delphi…»

Er hatte sich so viele Brote geschmiert, daß Brockmüller meinte, davon könnte eine Negerfamilie in Harlem eine ganze Woche lang leben.

«Wer hart arbeitet, muß viel essen… In Olympia, da hätt ich beinahe Prügel bezogen. Ich komm da an – drei Stunden Busfahrt, völlig verdreckt – und will ein Bad haben. Okay. Eine dicke Griechin schlurft herbei und zeigt mir das Badezimmer. Alles in Ordnung. Sie haut ab, und ich will das Wasser einlassen. Aber das geht nicht: Der Stöpsel fehlt. Weit und breit kein Stöpsel…» Er machte eine rhetorische Pause, um sich die Nase zu schnauben – laut, rücksichtslos. «Mensch, das stinkt ja hier nach Teer!» Ein zweites Tempotaschentuch. «Na, ich also geklingelt. Kommt ein Zimmermädchen – phantastisch gebaut, versteht aber kein Wort Deutsch. Sie traut sich gar nicht ins Bad, wir stehen draußen auf dem Gang, und ich will ihr klarmachen, daß der Stöpsel an der Badewanne fehlt. Ich mach also mit der linken Hand eine Öffnung – so…» Er machte es vor. «… und zeig ihr mit dem rechten Zeigefinger, daß da was verstopft werden soll… Da rennt sie schreiend davon, und ihr Macker kommt und will mich verprügeln – der dachte, ich wollte mal schnell mit ihr…»

Schallendes Gelächter.

Kuhring genoß seine Entertainerrolle.

Brockmüller lachte mit.

Das sind doch eigentlich alles ganz nette Leute hier… Was willst du eigentlich? Sei froh, daß du zu ihnen gehörst…

Kuhring war ein Kumpel, mit dem man Pferde stehlen konnte, und Zumpe war auch schwer in Ordnung. Klar, daß der bei einer Frau wie seiner ab und zu mal durchdrehte.

Du gehörst hierher, ganz klar.

Obwohl er keinerlei Alkohol intus hatte, war er bereit, Zumpe und Kuhring zu umarmen. Bloß nicht immer isoliert sein… So hatte der Fall Owi doch noch sein Gutes: er schmolz sie zu einer Einheit zusammen. Brockmüller war glücklich. Er hatte eine neue Heimat gefunden. Von jetzt ab: Solidarität statt Konflikt… Er wunderte sich ein wenig über diesen Stimmungsumschwung. Er wußte auch, daß es nicht anhalten würde. Aber im Augenblick empfand er es so.

Morgens um 10 Uhr 47 ist die Welt noch in Ordnung.

«Mensch, ich hab ja meine Vitaminpille vergessen!» Kuhring sah Gaby an. «Ob du mal… Rechts oben in meinem Schreibtisch.»

«Ja, Momentchen…» Gaby lief aus dem Konferenzzimmer und brachte ihm die Packung.

Kuhring nahm sie in die Hand und las wie ein Mensch vom Werbefernsehen. «NEDO-Vit ist lebenswichtig und unentbehrlich für das Fortbestehen des menschlichen Organismus… Na, bitte! NEDO-VIT behebt Vitaminmangelstörungen – schönes Wort! – bei körperlicher und geistiger Anspannung. Kann ich euch auch nur empfehlen. Mensch, und was da alles drin ist, Vitamin B6-hydrochlorid sogar – wenn das nichts ist!»

Er drückte eine der großen bräunlichen Kapseln aus der Plastikhülle, steckte sie in den Mund und spülte sie mit etwas Kaffee hinunter.

Damit war die Frühstückszeremonie beendet, und Gaby zog sich, nachdem sie das Geschirr abgeräumt hatte, in ihr Schreibzimmer zurück, während Kuhring, Zumpe und Brockmüller über die Idee diskutierten, die Donnersmarck ihnen neulich so sehr ans Herz gelegt hatte: eine repräsentative Umfrage unter allen Kunden, was sie an der EUROMAG am meisten störte – zu lange Bearbeitungszeiten ihrer Aufträge etwa, ungünstige Lage der Auslieferungslager, unfreundliche Sachbearbeiter – und so weiter. Wenn wir das wissen, können wir gezielt Maßnahmen ergreifen.

«Ja», sagte Kuhring, «und nun ist die Kacke am Dampfen. Wir müssen Fragen formulieren, das billigste Institut herausfinden, das die Interviews macht, und so weiter… Leute mit Ideen vortreten!»

Brockmüller, froh darüber, daß endlich mal sachlich gearbeitet wurde, dozierte über den Aufbau eines Fragebogens – Erinnerungen an das dritte Semester und sein Marktforschungspraktikum. Er warf nur so um sich mit Fachausdrücken: Omnibusbefragung, offene und geschlossene Fragen, Quotenauswahl, Signifikanzniveau, Interviewerfehler.

Zumpe dagegen versetzte sich in die Rolle eines Kunden und überlegte, was man alles so an Beschwerden und Problemen vorbringen konnte. Kuhring schrieb alles mit.

Kurzum, die Sache lief.

Sie mochten eine knappe Stunde diskutiert haben, da faßte sich Kuhring plötzlich an den Kopf.

«Mensch, ich hab solche Kopfschmerzen, ich weiß nicht…» Sein eben noch sonnengebräuntes Gesicht war auf einmal grünlich. Er sprang auf und taumelte.

«Mein Gott, was ist denn!» Zumpe griff zu, um ihn zu stützen.

«Vielleicht die Spritze…?» Brockmüller hatte Kuhring auf der anderen Seite gepackt.

«Nein, nein», keuchte Kuhring, «die krieg ich ja jedes… Jahr…» Er krallte die Finger in den Stoff seines Sessels. In Todesangst würgte er hervor: «Ins… Krankenhaus – schnell!»

Zumpe lief zum Telefon und rief die Feuerwehr an. 112. «Sie kommen sofort.»

Gaby kam herein, begriff sofort und rannte in die Küche hinauf, um ein Glas Wasser zu holen. Kuhrings Lippen waren blutlos und zitterten, als er zum Trinken ansetzte.

«Bleib ruhig!» sagte Zumpe. «Sie sind gleich da. Im Krankenhaus…»

Weiter kam er nicht, denn Kuhring wurde derart von Krämpfen geschüttelt, daß sie ihn in den Sessel fallen lassen mußten.

Ich kann das nicht mitansehen.

Brockmüller riß alle Türen auf, damit die Leute vom Rettungsdienst schneller reinkamen, und er rief dem Polizisten draußen zu: «Hier hat einer einen Herzanfall erlitten. Wenn der Krankenwagen kommt, winken Sie ihn ein, damit’s schneller geht!»

Als er zurückkam, wand sich Kuhring in Krämpfen, rang mit blaurot angelaufenem Gesicht nach Luft, schrie immer wieder: «Helft mir doch, Ulli, Bodo… Helft mir!»

Zumpe erbrach sich in der Ecke über dem Telefontisch.

Gaby riß die Fenster auf.

Brockmüller wischte Kuhring den Schweiß von der Stirn, band ihm die Krawatte ab, öffnete den Hemdkragen.

Der kommt nicht durch.

Brockmüllers Gefühle waren so widersprüchlich, daß er sich nur mit äußerster Kraft aufrecht halten konnte. Es war entsetzlich, und er litt mit Kuhring. Aber zugleich war er froh, daß Kuhring starb. Diese Freude wiederum empfand er als so ungemein grausam und verdammenswert, daß sich sein Mitgefühl für Kuhring ins Unendliche steigerte.

Laß ihn nicht sterben!

Kuhring war schon bewußtlos, als der Krankenwagen kam.

Und der Arzt konnte nur noch konstatieren: «Tod durch Lähmung des Atmungszentrums.»