39

Wir saßen in Bertelsens Büro – Elsa, ich, Bertelsen selbst, Iversen und Lauritzen. Auf der anderen Straßenseite lag das Weinmonopol dunkel und verschlossen, während die rote Kirche in Flutlicht getaucht war.

Elsa hatte sich frisch gemacht, aber das Gesicht war sehr hager. Der Mund war ein Strich, die Augen dunkel.

Bertelsen starrte mich entnervt an. »Also mit anderen Worten … Aber wer konnte das wissen?«

Ich sagte: »Nein, genau … Wer konnte das wissen, daß die Frau im Kühlschrank ein Mann war. Oder umgekehrt, daß der Mann im Kühlschrank … Du verstehst, was ich meine.«

»Und wie hast du das herausgefunden?«

»Durch einen Zufall. Ich habe beim Einwohnermeldeamt in Bergen angerufen, um die Informationen zu überprüfen, die ich über Frau Samuelsen hatte. Da erfuhr ich, daß die Schwester gar nicht tot war. Und es gab niemanden in der Familie, der Arne Samuelsen hieß.«

»Und das hattest du vergessen, uns zu erzählen.«

»Ich hatte keine Beweise – und ich mußte Elsa finden.«

»Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe, Veum. Und das hätte dich und sie das Leben kosten können.«

Ich zuckte mit den Schultern, sah sie aber verlegen an. Um von etwas anderem zu reden, fragte ich schnell: »Aber diese andere Frau – Irene Jansen – hat sie euch nichts erzählt?«

Er sah resigniert zur Decke. »So gut wie nichts. Wenn ich dir meine ehrliche Meinung sagen soll, Veum, dann betrachte ich alle Personen, die in diese Affäre verwickelt sind, als schwachsinnige Idioten – dich eingeschlossen. Nein, sie war nur mitgegangen, weil sie glaubte, sie könnte dabei Geld verdienen. Sie war keinem der anderen jemals vorher begegnet, hatte nicht mal eine Ahnung, wie sie hießen. Die drei Männer, der, dem die Wohnung gehörte und noch zwei, waren in die Küche gegangen. Einer von ihnen war zurückgekommen und hatte sie gebeten, zu gehen. Sie hatte ein paar Hunderter bekommen. Sie hatte keine Geräusche aus der Küche gehört, die beiden anderen hatten solchen Krach gemacht.«

»Welche beiden anderen?«

»Laura Lüstgen und Lächel-Hermannsen, der Beschreibung nach.«

»So so …«, sagte ich.

»Und merk dir eins, Veum: Wir haben noch kein Geständnis. Sie haben überhaupt nichts gestanden! Und ich versteh noch immer nicht, warum

»Laß uns erst mit Vevang reden«, sagte ich.

»Uns?«

»Ich bin es, der den Überblick hat, glaub ich.«

»Und warum Vevang?«

»Weil er das schwächste Glied ist. Jonsson ist zäh wie ein Ochse. Aber wenn wir wissen, wo wir ihn packen können, dann … Und was das Warum angeht …«

»Ja?« kläffte er.

Ich wandte mich an Elsa. »Du hast die Geschichte von Jonsson noch nicht zu Ende erzählt. Könntest du …«

»Meinst du …?« Sie sah mich fragend an.

Ich nickte.

Sie sah Bertelsen an, während sie erzählte. »Es war in den USA. Er, Jonsson, hatte einen weiblichen Anhalter aufgegabelt, die tollste Frau, die er je gesehen hatte, um seine eigenen Worte zu benutzen – und sie erwies sich als außerordentlich willig. Sie fuhren in eine Nebenstraße und fingen an, zu – naja, sich zu küssen und zu streicheln und … Aber als er dann – als er sie richtig befühlte – da zeigte sich, daß es … Es war keine Frau. Es war ein Mann.«

Bertelsen glotzte erstaunt. »Meinst du, daß …«

»Er erzählte, hinterher hätte er sie geschlagen, ihn fast totgeschlagen, und später wurde ihm immer schlecht, wenn er nur einen Transvestiten nur von weitem sah.«

Bertelsen sah wieder mich an und sagte: »Sollte das der Grund sein?«

Ich hob resigniert die Arme. »Sodom und Gomorrha. Wollen wir runtergehen und mit ihm reden – mit Vevang?«

Er starrte mich mit schmalen Lippen an. Dann stand er auf und sagte in knappem Ton: »Ja. Komm.«

Elsa sagte dünn: »Ich warte hier, Varg.«

Ich wollte sagen: Das brauchst du nicht. Ich sagte nur: »Gut.«

Vevang saß vornübergebeugt auf der Pritsche. Er sah auf, als wir hereinkamen, und das Geräusch des Schlüssels im Schloß hinter uns schmerzte ihm offenbar in den Ohren. Das lange Haar hing in Strähnen zu beiden Seiten herunter, und die Glatze war sichtbar. Die Anspannung stand ihm förmlich im Gesicht geschrieben, und es konnte nicht lange dauern, ihn zum Zusammenbrechen zu bringen.

Bertelsen sagte: »Nun erzähl mal, Vevang, von Anfang an. Ruhig und systematisch.«

Vevang sah von Bertelsen zu mir und zu den zwei Polizisten. Seine Augen waren wässrig. »Ich – ehrlich gesagt: Ich hatte nichts damit zu tun. Es war Jonsson, der das Ganze betrieben und finanziert hat, der alles managte, Ole Johnny war nur ein Strohmann.«

Bertelsen sagte trocken: »Redest du von dieser Spielhölle?«

»Ja …«, antwortete Vevang kläglich, als gäbe es von nichts anderem zu erzählen.

»Davon reden wir nicht, Vevang«, fuhr Bertelsen fort. »Wir reden von der Frau im Kühlschrank.«

»Der Fr-Frau im …«

»Und von Laura Lüstgen«, sagte ich. »Und Lächel-Hermannsen.«

»Laura Lüstgen? Lächel-Hermannsen?« plapperte Vevang mir nach.

»Führ dich nicht auf wie ein seniler Papagei«, sagte Bertelsen. »Gib zu, daß ihr sie um die Ecke gebracht habt.«

»Um die E-e …« Das Wort blieb ihm im Hals stecken.

»Du und Jonsson«, kläffte er.

»Ich – nicht – es war ein Unfall!« schrie er mit Fistelstimme. Es war soweit. Sein ganzes Gesicht schien sich hinter den Augen zu sammeln, in einem Ausdruck von Angst und Erleichterung.

Bertelsen starrte mich einen Augenblick streng an, dann atmete er tief und sagte: »Soso. In Ordnung. Ein Unfall. Können wir dann noch mal anfangen – ganz am Anfang?«

Er schien Anlauf zu nehmen und sprudelte los. »Wir – wir waren in diesem Lokal, Jonsson und ich und Lächel, den ich kannte, und ein Mädchen, das Irene hieß und auf das Jonsson geil war. Jonsson feiert gern, und er sagt immer, daß wir rausmüssen, unter Leute, denn da kriegen wir Informationen her. Er weiß alles, der Kerl – alles, was es zu wissen gibt, über jeden in Stavanger.«

»Wir lassen uns nicht beeindrucken«, sagte Bertelsen. »Wo wart ihr – bei Ole Johnny?«

»Ja. Und dann war da ein Typ, mit dem wir ins Gespräch kamen. Er sagte, er hieße Arne Samuelsen und lud uns zu einer Art Nachspiel ein. Wir waren Kollegen, wie er sagte. Arbeitete bei der gleichen Gesellschaft. Jonsson war dabei, er ist immer dabei. Ich glaube, er – ich glaube, er durchschaute ihn, sie, Samuelsen, ziemlich schnell. Er durchschaut Leute wie kein zweiter, und ich sah es an seinen Augen – daß da was war, was er wissen wollte. Er kann der reinste Teufel sein, wenn er erst mal in Laune ist.«

»Du meinst, daß er mit zu dem Fest ging, nur weil er vorhatte …«

»Er wollte sie kleinmachen. Sie! Ich hab ihn schon vorher solche knacken sehen. Nicht Transvestiten, sondern Homosexuelle. Er …« Ein Kälteschauer durchfuhr ihn. »Er bringt mich um, wenn er zu hören kriegt …«

»Dazu kriegt er keine Gelegenheit. Weiter!«

»Dann trafen wir Laura Lüstgen unten auf der Straße, und da Lächel sie kannte, kam sie auch mit. Jonsson stieß mich in die Seite und sagte: Das paßt ja gut. Dann sind wir Paare. – Erst hinterher hab ich verstanden, was er gemeint hatte.«

Vevang starrte auf mich, als verstünde er nicht, was ich da zu suchen hatte. Er sah die zwei Polizisten an, aber die sagten auch nichts. Der Raum wirkte wirklich ziemlich überfüllt, wie ein Bus während der Stoßzeit. Und es herrschte die allseits bekannte, norwegische Stimmung: Niemand sagte ein Wort. Zum Schluß blieb sein Blick an Bertelsen haften.

Bertelsen sagte: »Als ihr da ankamt, wo Arne Samuelsen wohnte, was passierte da?«

»Wir – wir saßen eine Zeitlang da und tranken, und dann … Dann schlug Jonsson vor … Wir waren alle ziemlich voll, und Jonsson zog ein Kartenspiel aus der Tasche und sagte, daß es zu Hause in den Staaten bei solchen Gelegenheiten immer sehr lustig gewesen sein, Kleiderpoker zu spielen. Er sah Samuelsen an, als er das sagte, und ich sah, daß der blaß wurde. Ich – ist es in Ordnung, daß ich er sage?«

Bertelsen zuckte gleichgültig mit den Schultern.

Vevang fuhr fort, und jetzt sprach er schneller, wie um es hinter sich zu bringen. »Er – Samuelsen – er stand auf und ging in die Küche, entschuldigte sich mit irgendwas. Jonsson ging hinterher. Ich glaube nicht, daß die anderen was merkten. Sie waren zu besoffen, und Lächel hatte angefangen, mit Laura rumzumachen. Irene … Dann hörte ich einen dumpfen Knall draußen in der Küche. Ich ging rüber. Jonsson hielt Samuelsen am Jackenaufschlag und hatte ihn vom Boden hochgehoben. Er schlug seinen Kopf gegen den Kühlschrank. Du machst mit, du dreckiges Schwein! zischte er. Du machst mit, du verdammtes Biest! – Und dann … Ich weiß nicht, was passierte – er schlug zu hart, oder der Nacken traf verkehrt, genau auf die Kante des Schrankes. Es war in einer Sekunde passiert. Ein scharfes Geräusch, und dann hing der Kopf einfach runter, leblos, und wir sahen das Weiße in seinen Augen. Er …« Er brach ab. »Ihr wißt doch, wenn Leute sterben …«

»Das wissen wir«, sagte Bertelsen. »Und dann?«

»Ich wär beinah ohnmächtig geworden, aber Jonsson – er blieb ruhig. Wir – erst mußten wir die anderen rausschmeißen. Erst Laura und Lächel. Dann Irene. Wir zogen ihm – ihr – die Kleider aus und überlegten, was wir tun sollten. Der Kühlschrank fiel uns ein, und Jonsson nahm alle Roste raus. Wir versuchten sie reinzupressen, aber der Kopf war im Weg. Dann kamen wir auf die Idee, daß, wenn die Leiche eventuell gefunden würde – ohne Kopf – das würde die Identifizierung erschweren.«

»Und dann habt ihr den Kopf abgeschnitten?«

Er nickte und schluckte. »Ich – ich mußte festhalten. Aber ich sah weg, aus dem Fenster, die ganze Zeit. Er schnitt – mit einem Küchenmesser, einem Filetiermesser.«

»Großer Gott«, stöhnte Bertelsen. »Wie konntet ihr …«

Die beiden anderen Polizisten waren leichenblaß. Obwohl ich darauf vorbereitet gewesen war, fühlte ich, wie es in meinem Magen zu rumoren begann. Es war keine schöne Geschichte. Es war eine der schlimmsten, die ich je gehört hatte.

»Dann paßte sie rein, und dann hauten wir ab.«

»Mit dem Kopf in einer Plastiktüte?« fragte ich.

»Ja. Jonsson schaffte ihn weg, ich weiß nicht, wohin. Hinterher …«

»Ja, na los!«, klaffte Bertelsen. »Schone uns nicht!«

»Wir wollten ja auch den Rest der Leiche loswerden, bevor jemand kam und … Wir beobachteten das Haus und warteten, bis die Wirtin weg war, aber dann tauchte Veum auf und fing an, Fragen zu stellen, und gerade als wir – sie – holen wollten, tauchte er auch auf. Wir mußten … Jonsson schlug ihn nieder, aber es war wie in einem Alptraum, denn dann tauchte die Alte auf, die Wirtin. Wir mußten abhauen.«

»Und dann wurdet ihr nervös, nicht?« sagte ich und kam Bertelsen zuvor. »Da fingt ihr an, sie vom Weihnachtsbaum zu pflücken, einen Stern nach dem andern. Laura. Lächel. Warum nicht Irene?«

»Jonsson hatte ein Auge auf sie geworfen. Außerdem konnten wir sie nicht finden.« Der letzte Satz war auffallend doppeldeutig.

Ich fuhr fort: »Ihr versuchtet, mich aus der Stadt zu vertreiben. Ole Johnny und seine Leute standen stramm, wenn der Chef pfiff, was? Und dann waren da diese Tonbänder von Elsa, die plötzlich von Bedeutung sein konnten, und ihr versuchtet, sowohl sie als auch mich abzuservieren – euch muß ja völlig die Panik gepackt haben!«

»Aber ich war es doch nicht. Es war ein Unfall.« Er sah uns flehend an, wie um die ganze Schreckensgeschichte mit einer Bitte um Vergebung abzuschließen.

»Wirst du das unterschreiben?« fragte Bertelsen formell.

Er nickte stumm, mit feuchten Augen. Das Gesicht glänzte von Schweiß, das Haar war strähnig, die Augen desperat und ruhelos.

Wir ließen ihn in der Zelle zurück, allein mit sich selbst und seinen Gedanken. Danach gingen die anderen zu Carl B. Jonsson hinein. Ich ging die Treppen hinauf zu Elsa. Ich konnte das Ganze nicht noch einmal ertragen.

 

Als alles vorbei war, standen wir auf dem Gehsteig vor der Wache und warteten auf ein Taxi. Sie hatte mich untergehakt und lehnte sich schwer an mich. Es war nach Mitternacht, und der Himmel war blank, mit verstreuten Sternenflecken. Ein Auto fuhr vorbei, und durch ein halb heruntergekurbeltes Fenster hörten wir Lachen und Jauchzen.

Ich sah in ihr hageres Gesicht. Sie fing meinen Blick auf und sagte: »Ich glaube, ich werde nach Hause zurückfahren – weg aus Stavanger.« Mit einem kurzen Schulterzucken fügte sie hinzu: »Interviews hab ich genug.« Sie lächelte traurig.

Ich strich ihr über die Wange. Sie sagte: »Glaubst du, wir sehen uns wieder?«

Ich hob leicht die Schultern. »Wer weiß? Vielleicht.«

Das Taxi kam, und der Fahrer pfiff. Wir winkten ihm zum Zeichen, daß er warten sollte.

Sie sagte: »Komm mit, Varg. Komm mit – jetzt, zu mir nach Hause!« Sie faßte meine Oberarme mit ihren kleinen Händen, sah mit eifrigen Augen zu mir auf.

Ich seufzte tief. »Nicht heute abend, Elsa. Ich – ich bin kaputt. Ehrlich. Ich laufe zurück zum Hotel, dann krieg ich auch ein bißchen frische Luft.« Eine kurze, schmerzhafte Pause entstand. Dann setzte ich hinzu: »Gute Nacht, Elsa, und … leb wohl …«

Sie sah zu mir auf, tief, tief in meine Augen. Dann liefen ihre Augen über, sie streckte sich und küßte mich auf den Mund mit offenen, weichen Lippen, strich mir schnell über die Wange, wandte sich ab und lief zum Taxi.

Sie winkte mir zu als sie einstieg. Ich blieb mit halb erhobener Hand stehen und starrte dem Taxi nach, bis es verschwunden war.

Ich hatte einen dicken Kloß im Hals.

Das Leben war voller Abschiede. Es wurde langsam Zeit, wieder einmal hallo zu sagen.