31
Ich ertappte mich dabei, daß ich dalag und auf Geräusche horchte. Ich konnte es nicht lassen, an Elsa zu denken und daran, was sie jetzt mit ihr taten. Und wenn sie tausendmal davon lebte, sie tat es trotz allem freiwillig und nicht – wie jetzt. Ein paarmal hörte ich Geräusche: ein Stöhnen, einen lustvollen Ausruf, einen Knall auf den Boden. Aber es war keine Struktur zu erkennen, und es war unmöglich herauszufinden, wie weit sie im Programm gekommen waren.
Meine schmerzenden Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Ich lag auf dem Boden eines kleinen, fast quadratischen Kellerraums. Er war völlig leer: kein Schrank, kein Regal. Hoch oben in einer Wand war ein kleines Fenster. Auf der Innenseite des Fensters saß ein solider Rahmen mit starkem Drahtgitter. Auf der Außenseite erkannte ich die massiven Fensterläden, die ich vorher gesehen hatte. An der gegenüberliegenden Wand war die Tür.
Es war kalt und roch moderig, und ich fühlte, daß die Innenseite der Wände beschlagen war. Ich hatte mich auf die Seite gedreht. Die Handschellen saßen sehr eng. Ich probierte vorsichtig, ob es möglich war, sie abzustreifen. Es schien unmöglich..
Ich krümmte mich in Embryostellung zusammen und hielt die Arme hinter mir ausgestreckt. Indem ich erst das eine und dann das andere Bein durch die Öffnung zwischen den Armen zwängte, bekam ich die Handschellen vor den Körper. Ich hatte schon Wundstellen an den Handgelenken, und die Handschellen sahen deprimierend eng und stabil aus.
Ich kniete mich hin, stand ganz auf und fühlte mit den Fingerspitzen an der Tür entlang. Sie saß fest im Rahmen. Die Scharniere waren an der Innenseite des Rahmens angeschraubt. Das Schloß war vielleicht aufzubekommen, wenn man die nötigen Hilfsmittel hatte, aber um den Riegel zu sprengen, brauchte man einen Elefanten.
Da war nichts zu machen. Ich war eingesperrt, hilflos wie ein aufgespießter Schmetterling, allem ausgeliefert wie eine weiße Maus im Käfig eines Laboratoriums. Es gab nur eins: warten, bis die Wachen zurückkamen.
Ich fühlte einen unbändigen Drang zu schlafen, mich einfach hinzulegen und alles zu vergessen – in einem barmherzigen Schlummer dahinzutreiben …
Aber es wäre das Allerdümmste gewesen, schlafen zu wollen. Ich mußte in Bewegung bleiben, die Muskeln hindern, sich zu verkrampfen, Kräfte sammeln, bis sie endlich kämen, wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte, den morgigen Tag zu überleben.
Ich dachte an Ronald Reagan. Es wäre eine Erleichterung, seine Regierungszeit nicht erleben zu müssen, aber trotzdem … Ich würde nicht das Leben dafür opfern.
Dann dachte ich an Solveig. Mit einem bitteren Seufzer legte ich den Kopf an die kalte Wand und dachte an ihre weiche Zärtlichkeit, ihre behutsamen Finger auf meinem Gesicht, ihre weichen Lippen an meinem Hals und meiner Brust und meinem Bauch …
Mir traten Tränen in die Augen.
Ich begann zu gehen. Ich ging auf und ab, von der einen Wand zur anderen. Ich dachte an all die Orte, wo ich gegangen war, unter freiem Himmel … auf den Hügeln um Bergen, über die Hardangervidda irgendwann vor zehn, fünfzehn Jahren, durch die Straßen von Paris, und tausendmal durch Nordnes, tausend und abertausendmal. Ich versuchte, Nordnespynten vor mir zu sehen, in einer solchen Winternacht im November. Die Bäume im Park sind fast nackt, nur die letzten braunen Blätter hängen noch. Das Seebad liegt still und ausgestorben da, und ein Schleier von Frost hängt über dem gelben Gras. Auf der anderen Seite des Byfjord liegt Askøy, flimmernd von Lichtflecken, vielleicht mit einem weißen Streifen ersten Schnees von ganz oben unter den Sternen. Der Fjord liegt schwarz und still, und du hörst leise das Wasser über den Tang spülen unten am Strand. Von Laksevåg herüber hörst du eine wütende Autohupe, von Sandviken den letzten Spätbus von Lønborg. Und du lebst. Es ist November, aber es ist nicht die letzte Nacht in deinem Leben, und du sollst nicht sterben. Du bist in Nordnes, Nordnes …
Ich betrachtete halbblind die düsteren Mauern um mich herum, die massive Holztür. Varg, Varg – sollte es hier enden? Alles? Sollte Solveig in ein paar Tagen in der Zeitung von mir lesen als von einer Leiche, die irgendwo in Jæren an den Strand gespült worden war? Sollte ich – sterben?
Ich ging immer noch. Ich hatte kein Zeitgefühl, versuchte nicht, die Minuten zu zählen. Die Dunkelheit war immer noch schwarz, die Kälte vielleicht noch beißender.
Von weit her hörte ich ein grobes Lachen, näher als vorher. Sie kamen die Treppe herunter. Ich konnte Elsa nicht hören, nur die beiden anderen Stimmen. Die schläfrige klang jetzt fast eingeschlafen, die hitzige hatte die Schärfe verloren. Sie hörten sich an wie zufriedene Pferde nach einer Mahlzeit.
Ich rollte mich am Boden zusammen, ganz hinten in einer Ecke. Ich schloß die Augen und versuchte, regelmäßig zu atmen, als würde ich schlafen.
Der Riegel wurde zur Seite geschoben. Der Schlüssel schabte im Schloß herum. Die Tür wurde vorsichtig geöffnet, bis zur Wand. Einer von ihnen sagte: »Er liegt da hinten. Ich glaub, er schläft.«
»Na, Kleine … Jetzt kannst du deinen Freund trösten, wenn du willst. Denk dran – es ist seine letzte Nacht.« Ein grobes Lachen ertönte.
»Guck mal, er hat die Handschellen nach vorne gekriegt.«
»Ach verdammt, das spielt keine Rolle, er kriegt sie ja doch nicht ab. Los komm, wir sollten uns ein bißchen hinlegen.«
»Ja, nach dem Einsatz … Dank dir, Kleine … Noch ein letzter Kuß?«
Ich hörte ein paar undefinierbare Laute und ein halbersticktes Lachen. Dann taumelte sie in den Raum hinein. Sie kam vorsichtig näher und setzte sich behutsam hin, mit bedächtigen Bewegungen, wie eine alte Frau. Die Tür schlug hinter ihr zu, und das Ritual mit dem Schlüssel und dem Riegel folgte gnadenlos. Die schweren Schritte verschwanden die Treppe hinauf.
In der Stille hörte ich ein schwaches Schluchzen. Ich hob den Kopf.
Sie saß mit dem Rücken zur Wand. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, verbarg sie das Gesicht in den Händen. Das Haar fiel nach vorn, und sie hielt die Beine gespreizt. Sie saß nur in Bluse und Unterhose da. Die anderen Kleidungsstücke – eine Cordhose und ein Pullover – lagen in einem Knäuel neben ihr. Die Schulter bebten leicht.
Ich kam wieder auf die Knie und krabbelte zu ihr hinüber. Ich konnte nicht die Arme um sie legen, aber ich legte meine zusammengeketteten Hände an ihre eine Wange und mein Gesicht an die andere. Ihre Wangen waren naß.
Ich sagte: »Nicht weinen … Nicht …«
Sie lehnte sich schwer an mich, legte die Arme um meinen Hals und schluchzte laut.
Ich ließ sie weinen. Schließlich sagte ich: »Waren sie – haben sie dir weh getan?«
Ihre Stimme klang wie durch Watte. »Nein, nein, nicht besonders … Aber es war, es war so … so erniedrigend!« Das letzte Wort kam wie ein kleiner Ausruf, und daraufhin begann sie richtig zu schluchzen.
Schließlich beruhigte sie sich. Sie wischte sich mit den bloßen Händen übers Gesicht. Dann hob sie den Kopf und blickte mir in die Augen, sah mich forschend an. »Wie – wie fühlst du dich, Varg, du siehst …« Sie sagte nicht mehr, aber ihre Hände befühlten vorsichtig meine geschwollenen Lippen. »Ohhh«, seufzte sie.
»Als wäre ich von der Straßenbahn überfahren worden, vorwärts und rückwärts«, sagte ich.
Sie zog sich an, mit müden Bewegungen.
Wir saßen eine Weile still da. Sie legte ihr Gesicht an meine Schulter. Mir kam ein Gedanke, und ich sagte: »Hast du zufällig einen Lippenstift?«
Sie sah mich erstaunt an. »Meinst du, ich soll mich anmalen?«
»Nein, aber ich wäre gern diese Handschellen los.«