12
Sieverts klopfte an eine gewöhnliche, graugrüne Holztür. Die Tür öffnete sich, und ein breites Gesicht schaute über eine Sicherheitskette heraus. »Hallo«, sagte Sieverts.
»Hallo«, sagte der Mann. Sein schwarzes Haar war über dem einen Auge gescheitelt und über den Ohren kurzgeschoren. Er sah aus wie der Schurke in einem alten Stummfilm. »Wer ist das?« sagte er tonlos und nickte in meine Richtung.
»Mein Name ist Veum«, sagte ich. »Varg Veum.«
Die Tür ging wieder zu. Sieverts drehte sich zu mir um. »Er geht rein, um die Listen durchzusehen. Sie haben ein Verzeichnis der Leute, denen sie nicht trauen.« Er wieherte leise. »Es sind sogar ein paar Polizisten darunter. Ich hoffe, sie kümmern sich nicht weiter um solche wie dich.«
Die Sicherheitskette rasselte, und die Tür wurde geöffnet. »Ist in Ordnung«, sagte der Mann. Drinnen im Flur sahen wir, daß er ungefähr einsachtzig groß war und ebenso breit und massiv unterhalb der Gürtellinie wie darüber. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit schwarzer Fliege, elegant wie ein Pinguin in einem Kuckucksnest. Der Flur war lang und dunkel, nur von ein paar vereinzelten Kugellampen erleuchtet. Von irgendwoher hörten wir Musik, aber nicht so durchdringend, daß sie nicht aus der Nachbarwohnung hätte kommen können, wenn es eine solche gegeben hätte. »Den Eintritt«, grunzte der Mann in dem schwarzweißen Anzug.
Sieverts blätterte ihm einen Hunderter hin, und ich folgte seinem Beispiel. Die Scheine verschwanden in einer Innentasche seines Anzugs. Ich bat ihn nicht um eine Quittung. Nachdem wir unsere Mäntel in einen Kleiderschrank gehängt hatten, der schon übervoll war, wurden wir durch eine der Türen hineingeführt.
Wir kamen in einen Raum mit vielen Tischen. Der Rauch schwebte tief über den grünen Tischplatten. An den meisten Tischen wurde Karten gespielt. An einigen wenigen wurde gewürfelt. Ganz hinten im Raum war eine langgestreckte Bar installiert, und dort saßen ein paar einsame Zuschauer, die offensichtlich pleite waren. An der Bar und an einigen Tischen fand sich eine exclusive Auswahl von Frauen. Alle waren gleich gekleidet, trugen eng sitzende, lila Seidenoveralls, deren breiter, augenfälliger Reißverschluß vom Halsausschnitt bis zum Schritt reichte. Wie weit der Reißverschluß offen war, schien eine Frage des Geschmacks zu sein. Ein lila Bindegürtel betonte die schmalen Taillen und die einladenden Hüften.,
Der Rest des Personals bestand aus Männern, die ebenso gut gekleidet waren wie der draußen am Eingang, aber alle hatten große, unsymmetrische Körper, als seien sie eine Art zu groß gewachsener Zwerge.
»Wo hat er sie her?«
»Die Mädchen? Die flottesten des Landes. Du findest sie als Pin up’s in den meisten Herrenmagazinen wieder …«
»Ich meine die Pinguine.«
»Ach, die. Ole Johnny besitzt auch ein Body Building Center, zusätzlich zu allem anderen.«
»Ein vielseitiger Herr, dieser Ole Johnny, wie mir scheint.«
»Wart’s nur ab, bis du ihn triffst.«
»Das hoffe ich nicht.«
»Was?«
»Vergiß es. Was tun wir jetzt?«
Er blickte mich neugierig an. »Hast du Lust zu spielen?«
»Nein. Ich hab nicht mehr gepokert, seit ich zur See gefahren bin, und da ging es selten um mehr als ein paar Hunderter. Also, ich glaube, ich passe – wenn es erlaubt ist.«
»Aber klar doch. Es gibt ja andere – Entspannungsangebote. Wir müssen übrigens erst an die Bar.«
»Oh?«
»Alle müssen mindestens eine halbe Flasche kaufen, das ist ein Teil der Eintrittskarte.«
»Zusätzlich zu dem Eintritt, den wir schon bezahlt haben? Ich kann verstehen, daß sich Ole Johnny sowohl eine Hütte im Fjell als auch eine an der Küste leisten kann.«
»Ja, aber was du nicht schaffst, kannst du mit nach Hause nehmen. Und das Wasser dazu ist umsonst.«
»Sag bloß. Glaubst du, die haben Aquavit?«
»Die haben fast alles.«
»Gut, gut, gut.«
Wir kamen an die Bar. Einer der Pinguine thronte dahinter und fragte höflich, was wir haben wollten. Sieverts bekam eine halbe Flasche Whisky und ich eine halbe Flasche Aquavit, ohne weitere Umstände. »Ich glaube, ich bleib hier eine Weile sitzen«, sagte ich.
»Okay. Ich werd mal sehen, ob ich irgendwo einen Sitzplatz finde«, sagte Sieverts und zwinkerte mir zu. Ich folgte ihm mit den Blicken; klein und kräftig, mit schneeweißem Haar und flink wie ein Faun glitt er durch den Rauch.
Ich ließ meine Blicke forschend durch den Raum wandern. Es kam mir niemand bekannt vor. Die Klientel entsprach der, die ich ihm Hotel gesehen hatte, zum großen Teil jugendlich, und hier – abgesehen von den Lilas – zu hundert Prozent maskulin. Plötzlich fühlte ich mich völlig hilflos. Was sollte ich tun? In die Hände klatschen, um Ruhe bitten, das Bild von Arne Samuelsen herumgeben und fragen, ob jemand wüßte, wo er sich aufhielt?
Eine matte Resignation überkam mich, und ich kippte einen ordentlichen Schluck Aquavit in mein Glas. Da drang eine Stimme wie dunkler Sirup in mein Ohr. »Suchst du jemanden?«
Sie war hell und nordisch, mit goldblondem Haar und einer weitläufigen Milchstraße heller Sommersprossen über dem Nasenrücken und in einem Bogen unter den Augen. Die Augen waren groß und blau, der Mund rosa und leicht geöffnet, die flinke Zungenspitze lag lauernd zwischen den schönen, weißen Zähnen. Der Reißverschluß ihres Overalls war bis ein Stück unterhalb der Brüste heruntergezogen, die sich frei und ohne technische Hilfsmittel entfalteten. »Laila«, sagte sie und ließ es wie eine Beschwörung klingen. Sie konnte noch keine zwanzig sein. Trotzdem war etwas Resigniertes in ihren Augen, als sei sie hundert Jahre alt und nichts könne sie mehr verwundern.
»Hej«, sagte ich. »Nein, ich suche niemanden – hier.«
Sie legte einen schmalen Finger an die Lippen. »Bist du allein?«
»Meistens«, sagte ich. »Aber nicht immer.«
»Wenn du willst …« Sie hielt inne, der Wirkung wegen. Ihr Finger glitt an meinem Kinn hinunter, folgte den Linien des Halses und strich mir leicht über das Schlüsselbein. »Ich habe ein Zimmer – einen Stock höher, und wir könnten …« Sie zwinkerte mit schweren, schwarzen Wimpern, die in scharfem Kontrast zu ihrem hellen Haar standen.
»Wieviel würde mich das kosten?«
»Fünfhundert, erst einmal – dafür hast du ’ne halbe Stunde.«
»Und wenn ich Lust hätte, die ganze Nacht zu bleiben?«
Ihr Mund öffnete sich noch ein Stück, und sie sah rasch an mir herunter. »Vier – tausend«, sagte sie. »Und wir nehmen auch Geschenke an.«
»Ich fürchte, das würde für mein Bankkonto doch einen zu großen Gewichtsverlust bedeuten«, sagte ich und holte schnell das Bild von Arne Samuelsen hervor. »Aber ich kann dir ein paar Hunderter geben, wenn du mir was über diesen Typen hier erzählen kannst.«
Sie sah mich an, und ihr Gesicht bekam einen ganz neuen Ausdruck: eine Mischung aus Schläue und Berechnung. Dann spähte sie auf die kleine Fotografie. Sie sah sich im Raum um. Ich folgte ihrem Blick und sah dasselbe wie sie. Zwei der kräftigsten Pinguine bewegten sich resolut auf uns zu. Sie blieben höflich vor uns stehen, und ein schneller Blick war genug, damit die sommernachtsblonde Laila hinter die Kulissen verschwand ohne auch nur ein einziges Wort des Abschieds. Der eine von ihnen, mit kurzgeschnittenem, rotblondem Haar, sagte leise und höflich: »Der Chef würde Sie gern sprechen, Herr …«
»Veum.«
»Genau.« Er trat zur Seite und machte mir den Weg frei.
Ich sagte: »Ich kann gar nicht sagen, wie lange ich mich schon auf dieses Treffen freue. Wo ist er, der Chef?«
»Folgen Sie uns.«
Ich folgte ihnen. Über fünf Kartenrücken erspähte ich das Gesicht von Benjamin Sieverts, ich beruhigte ihn mit einem Blick. Es war auf jeden Fall gut zu wissen, daß es einen gab, der wußte, wo ich war.
Die Tür schloß sich hinter uns, die gedämpfte Musik verstummte fast, die Stimmen waren wie abgeschaltet. Ich war wieder draußen im Flur, zusammen mit zwei kräftigen Pinguinen. Der Flur wirkte plötzlich kalt und zugig. Ein Schaudern durchfuhr mich.
»Hier lang«, sagte der eine meiner Führer.