30
Etwas Flaches und Hartes drückte gegen meine Lippen. Es schmeckte bitter nach Lack. Mein Kopf fühlte sich an wie ein mit Bleikugeln gefüllter Glasballon.
Ich lag mit dem Gesicht zum Boden. Die Stimmen, die mich erreichten, klangen gedehnt und verzerrt, und es dauerte eine Weile, bis ich einzelne Worte unterscheiden konnte.
»… jetzt?«
»Nein. Wir müssen erst mit dem Chef reden. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
»Heute morgen sollten wir ihn doch erledigen.«
»Ja, trotzdem. Willst du die Verantwortung übernehmen, wenn er seine Meinung geändert hat?«
»Nein, nein – aber …«
»Er kommt morgen vormittag. Wir brauchen nichts anderes zu tun, als zu warten.«
»Was glaubst du, daß wir … Ich meine, wie?«
»Guck mal da raus. Siehst du das Meer? Es ist hungrig. Ein Unfall schlicht und einfach. Sie ertrinken beide.«
Der Mann, der gesprochen hatte, lachte leise und heiser. »Vielleicht Selbstmord, nach der letzten Liebesnacht. Is doch richtig romantisch, Kalle?«
»Sie also auch?«
»Wieso, glaubst du, haben wir sie mit hierher genommen? Sie weiß zuviel, sagt der Chef.«
Es prickelte in meinem Nacken. Ich fühlte, wie sich meine Nackenhaare sträubten. Meine Arme waren hinter dem Rücken gefesselt. Etwas Hartes und Metallisches drückte um meine Handgelenke. Es mußten Handschellen sein. Meine Zunge war dick und trocken, und ich hatte einen bitteren Blutgeschmack im Mund.
Die Stimmen kamen wieder. Die eine war schläfrig und träge. Die andere klang hitzig und gereizt. Die schläfrige sagte: »Du -Jolle?«
Der andere grunzte.
»Wir werden doch den Leckerbissen da unten im Keller nicht die ganze Nacht unbenutzt lassen, oder?«
Ich bekam ein hohles Gefühl im Bauch.
»Die Nutte? Nein, warum eigentlich? Wenn wir nett mit ihr umgehen.«
»Nett?«
»Der Chef will sie haben – heil, sagt er.«
»Der will ja bloß selbst dran, verdammt.«
»Is das ein Wunder? Is ganz schön appetitlich, die Kleine – für ’ne Nutte.«
Ein schmatzender Laut war die Antwort.
Schwere Schritte kamen durch den Raum. Sie stoppten direkt neben mir. Ein flacher Stiefel trat mir leicht in die Rippen. »Hej, Schnüffler! Wieder lebendig?«
Ich bewegte mich nicht.
Die Stimme drüben am Fenster sagte: »Ja, am besten sperren wir ihn ein, bevor wir uns anderweitig vergnügen. Wenn er abhaut, können wir beide nach Amerika emigrieren.«
Grunz, grunz. Wieder ein Stiefel in der Seite.
Ich bewegte mich immer noch nicht. Er schob den Fuß unter mich und rollte mich herum. Mein Kopf schlug auf den Boden. Die Arme lagen unter mir eingeklemmt. Die Handschellen bohrten sich in die Haut, und ich stöhnte schwach.
Ich öffnete die Augen.
Aus der Froschperspektive sah der Mann über mir aus wie ein viereckiger Alptraum. Alles war massiv und schwer, von den Beinen bis zur Stirn. Das Haar war kurzgeschnitten, fast glattrasiert. Der Oberkörper strotzte vor Proteinen. Er trug nicht Schwarz und Weiß an diesem Abend, aber es gab keinen Zweifel, daß er zu Ole Johnny gehörte.
»Hoppla, hoppla«, sagte er. »Unser Freund ist aufgewacht, Kalle.«
Erneute schwere Schritte durch den Raum: noch eine furchteinflößende Gestalt. »Er sieht nich so ganz fit aus.«
»Er wird noch schlimmer aussehen, wenn er Ärger macht.«
»Hörst du das, Schnüffler?«
Meine Stimme klang wie zerbröckelnder Kalkstein. »Ihr macht einen Fehler, Jungs.«
Kalle trat mir hart und wütend in die Seite. Ich wimmerte. Er sagte: »Halt die Schnauze. Halt bloß die Schnauze, Freundchen.«
»Dann frag mich auch nichts«, stöhnte ich.
Ein erneuter Tritt, nicht ganz so hart, eher ein Hinweis, wer hier die Oberhand hatte.
»Los komm, Jolle.«
Sie hoben mich hoch, als sei ich ein Sack schmutziger Wäsche. Die Decke über mir schaukelte, und ich spürte, daß mir schlecht wurde.
Sie trugen mich aus dem Wohnzimmer hinaus und eine schmale Treppe hinunter. Es roch kalt nach Keller. Vor einer Tür ließ Kalle meine Beine los. Jolle faßte hart um meine Oberarme.
Kalle schob einen schweren Eisenriegel zur Seite, zog einen Schlüssel hervor und schloß eine massive Holztür auf. Sie schwang mit quietschenden Scharnieren auf. Jolle ließ mich vornüber klappen und gab mir einen harten Tritt auf das Steißbein. Ein gleißender Schmerz jagte mein Rückgrat hinauf und verteilte sich wie ein Sprühregen in meinem Kopf. Ich taumelte blind nach vorn, stieß gegen eine Mauer und glitt hilflos daran herunter, bis mein Gesicht hart auf dem feuchten Kellerboden aufschlug.
Ich ahnte eine Bewegung neben mir, hörte das schwache Rascheln von Kleidern, einen fast unmerklichen Duft von Frau, bevor sie von mir weggezerrt wurde. Ihre Hand strich mir wie ein Hauch über den Nacken, und halb fragend, halb flehend hörte ich sie meinen Namen rufen: »Varg, oh …!«
Dann wurde sie von der hitzigen Stimme unterbrochen. »Du kommst mit uns, Kleine. Der Kumpel hier braucht Ruhe. Wir …«
»Wir haben Zeit. Und einen Haufen Energie«, fügte die schläfrige Stimme hinzu.
»Nimm die Finger weg von …« Mehr konnte sie nicht sagen, eine große Hand legte sich über ihren Mund, und sie wurde hinausgezerrt. Ich hörte, wie sie um sich schlug, aber sie war viel zu leicht, viel zu zart. Die Geräusche verschwanden durch den Flur.
Ich drehte mich unter schmerzhaftem Wimmern herum. Kalle stand da und wartete. Er beugte sich herunter und schob mich an der unebenen Mauer hoch. Er hielt mich aufrecht und stieß mich mit dem Rücken zweimal, dreimal, viermal gegen die Wand. »Versuch bloß keinen Scheiß, Schnüffler. Du bist hier sicherer aufgehoben als in Ullensmo. Hier, damit du besser schläfst.« Mit einer überraschend schnellen Bewegung ließ er mich los, mit beiden Händen zugleich, gab mir erst mit der linken, dann mit der rechten eine Ohrfeige und ließ mich auf dem Boden zusammensinken wie einen Sack Kartoffeln.
Die Tür knallte. Der Schlüssel wurde im Schloß herumgedreht und der schwere Riegel vorgeschoben. Dann hallten seine schweren Schritte durch den Flur. Erst jetzt hob ich den Kopf und sagte zur Tür: »Wie Groucho Marx zu sagen pflegte … Ich vergesse nie ein Gesicht, aber bei dir bin ich bereit, eine Ausnahme zu machen.«
Ich war zu alt, um Leute so etwas direkt ins Gesicht zu sagen, und Türen schlugen selten zurück.