5
Das schmale Holzhaus lag in einer recht steilen Seitenstraße zum Banavigå hinunter. Im Osten erhob sich Bybrua. Die Brückenpfeiler glichen einer Reihe von A’s, als sei die ganze Brücke ein gigantisches Wahlversprechen der Arbeiterpartei. Über die Häuser auf der anderen Straßenseite schaut man hinunter auf die Bebauung entlang der Bucht, wo die Möwen gegen den grauweißen Himmel aufstiegen und wieder herabschwebten. Es roch nach Salz, und die weiße Hausfassade war von Feuchtigkeit graugrün gemustert. Das Haus mußte dem Wetter stark ausgesetzt sein, wenn der Nordwind wehte.
Die grüne Tür war schief, und sie hing schwer in den Angeln, als ich sie öffnete und in den dunklen Hausflur trat. Ich suchte nach einem Lichtschalter. Ich fand einen und drückte darauf, ohne daß etwas passierte.
Die Briefkästen links waren vom altmodischen Typ mit Luftlöchern unten, so daß man sehen konnte, ob etwas darin war, ohne das Türchen zu öffnen. Auf einem der Briefkästen stand der Name Arne Samuelsen. Auf einem anderen T. Eliassen.
T. Eliassen wohnte im Erdgeschoß, hinter einer Tür rechts neben der schmalen Treppe, die nach oben führte. Hinter einem schmalen Türfenster war Licht. Ich ging darauf zu und klingelte. Die Tür wurde augenblicklich geöffnet, als hätte die Frau in der Wohnung dahinter gestanden und gewartet. »Ja?« sagte sie, ehe ich den Mund aufmachen konnte. »Was wünschen Sie?«
Sie war ziemlich klein, Ende Fünfzig und trug ein großgeblümtes Schürzenkleid. Sie war recht zierlich gebaut, und die großen Blumen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Büste für eine Frau von völlig anderen Ausmaßen gedacht war.
Das Gesicht wurde beherrscht durch die Augen. Sie waren dunkel, stechend und neugierig. Mit einem raschen Blick hatte sie mich wahrscheinlich sowohl einer Kategorie zugeordnet, als auch zum späteren Gebrauch archiviert. Der kleine Mund bewegte sich fast unmerklich, als würde sie den Wortlaut meiner zukünftigen Beschreibung repetieren und strahlte dabei einen merkwürdigen Eifer aus, der mich an einen kleinen Nager denken ließ. Das Haar war dunkelblond und hochgesteckt. Die Haut im Gesicht war fahl und trocken, und als sie sich schnell in die Unterlippe biß, sah ich, daß die Zähne die gleiche, gelbweiße Färbung hatten.
»Frau Eliassen?« fragte ich vorsichtig.
Sie nickte kurz.
»Meine Name ist Veum. Ich komme aus Bergen. Es geht um Arne Samuelsen.«
»Haben Sie die Miete dabei?« kläffte sie. »Er hat sich noch nich sehen lassen, und es is mehrere Tage über …«
»Da wird sich schon eine Regelung finden«, sagte ich höflich. »Wenn ich nur einen Blick in …«
»Sind Sie von der Polizei? Wird er etwa gesucht?«
»Nein, nein. Ich bin – ein Freund der Familie. Ich mußte sowieso in diese Gegend, und seine Mutter hat mich gebeten, hier vorbeizugehen und zu sehen, ob ich herausfinden könnte, wo er sich aufhält. Sie – macht sich Sorgen – wie Sie vielleicht verstehen.«
»Ja, Sorgen. Und ich, ich mach mir Sorgen um meine Miete!« Sie klimperte mit dem Schlüsselbund in einer der Schürzentaschen und sah mich mit abschätzendem Blick an, als taxiere sie den Inhalt meiner Brieftasche.
»Wenn ich mich nur ein bißchen in seiner Wohnung umsehen könnte, dann …«
»Ja, ich komm mit«, sagte sie bestimmt. »Nich deswegen – ich hab schon nachgeguckt. Die Mutter bat mich am Telefon drum – aber da is nichts. Man könnte meinen, es wohnt überhaupt niemand da!« Sie warf einen raschen Blick in ihre Wohnung. Dann schloß sie die Tür hinter sich und rüttelte daran, um sicherzugehen, daß sie verschlossen war. »Es is im ersten Stock«, sagte sie und trat auf die Treppe.
»Er wohnt hier nur, wenn er nicht auf der Plattform ist, oder?«
»Jaja. Ich hab es so am liebsten, dann hat man nich so viel zu tun mit den Mietern. Sie bezahlen ihre Miete, aber sind selten da. Und wenn es Ärger gibt, dann fliegen sie raus. Ich laß mir keine Sperenzchen gefallen.«
Sie kam außer Atem; ob es an der Treppe oder an ihrer Redeflut lag, war schwer zu sagen.
»Also gab es keinen Ärger mit – Samuelsen?«
»Nee.« Das Wort kam gedehnt. »Nich bis … Er war ein ordentlicher und höflicher Junge, gab nie Ärger mit ihm. Er war auch meistens allein und abends viel unterwegs. Kam immer allein nach Hause, bis …«
»Bis …?«
Sie blieb auf dem Absatz im ersten Stock stehen. Sie holte das Schlüsselbund hervor und suchte es durch. Dann fand sie den richtigen Schlüssel, steckte ihn ins Schloß und drehte ihn herum. Sie blieb in der Türöffnung stehen. »Nee, nich bis vor ein paar Tagen abends. Da war plötzlich ein Höllenspektakel bis spät in die Nacht. Jedenfalls is jetzt Schluß. Ich war oben, um es ihm zu sagen, schon am Tag danach. Aber er machte nich auf. Ich dachte, es wär ihm peinlich, und ich behielt die Tür im Auge. Ich hör es immer, wenn jemand auf der Treppe is. Aber er – er muß wohl nachts weggegangen sein, in der Nacht – da war so viel hin und her, und ich konnte nich alles mitkriegen. Weil danach, da – ja, da is er nich mehr hiergewesen. Und mir soll’s egal sein, denn raus soll er, aber nich eher, als – die Miete gezahlt is.« Sie sah mich mit schmalem Mund und entschlossenem Blick an.
»Ich werd mich darum kümmern«, sagte ich und griff in die Innentasche meines Mantels, wie um Geld herauszuholen, aber ohne die Handlung auszuführen. Das war ein Kniff, den ich von ein paar meiner Klienten gelernt hatte, und er hatte sich als effektiv erwiesen. Für sie.
»Na ja«, sagte Frau Eliassen, gab die Tür frei und ging voraus in die Wohnung.
Wir kamen direkt ins Wohnzimmer. Es erinnerte mich an mein eigenes. Zwei schmale Fenster zur Straße hin, und durch ein kleines Erkerfenster sah man auf das Nachbarhaus, zu dem der Abstand nur anderthalb Meter betrug: eine graugrüne, fensterlose Holzfassade.
»Ja, es is nich gerade groß, aber es reicht doch gut für eine – Einzelperson«, sagte Frau Eliassen hastig, als würde sie mir die Wohnung anbieten.
Die Möblierung war auch nichts Besonderes: ein flacher Tisch, vier Stühle, ein verbeultes Sofa, ein Farbfernseher, eine abgenutzte Kommode und ein Kleiderschrank. An den Wänden hingen keine Bilder, außer der Anschauungstafel einer Bohrinsel, mit drei Heftzwecken befestigt, so daß die linke Ecke sich langsam hochrollte. Die Tafel zeigte im Querschnitt, wie die Bohrinsel von innen aussah. Der Text war auf englisch.
Der Raum war absolut aufgeräumt. Es war, als sei er von persönlichem Besitz gereinigt worden. Nicht eine Zeitung lag unter dem Tisch, nirgends war ein Kleidungsstück zu sehen.
Durch eine halboffene Tür konnten wir in die Küche sehen. Dort brummte schwach ein Kühlschrank. Ich streckte den Kopf in den Türspalt und sah mich um. Eine leere Saftflasche auf der Anrichte, eine Streichholzschachtel und ein Wischtuch. Auf der Fensterbank lag eine alte, vergilbte Zeitung, die offensichtlich als Keil benutzt wurde, wenn das Fenster offenstand.
»Das Schlafzimmer is da drin«, sagte Frau Eliassen hinter mir.
Wir gingen durch die Küche und rechts hinein. Das Schlafzimmer hatte die Größe einer alten Speisekammer und wurde von einem einfachen, schmalen Bett fast ausgefüllt. Neben dem Bett stand ein Nachttisch, die oberste Schublade stand etwas offen. Ich sah hinein und fand ein Postleitzahlenverzeichnis, die Broschüre einer Versicherungsgesellschaft und einen Roman, einen Western.
Das Bett war frisch gemacht, das Bettzeug wirkte sauber. »Ich stell das Bettzeug«, informierte mich Frau Eliassen eifrig. »Sie haben’s lieber so, bezahlen lieber einen Aufschlag auf die Miete. Junggesellen.«
»Haben Sie vielleicht das Bettzeug gewechselt – nachdem …«
Sie nickte. »Selbstverständlich, wenn jemand gekommen wär und geguckt hätte … Dann …« Sie sah beinah schuldbewußt aus. »Aber – es war nichts – Besonderes. Es war sogar fast überhaupt nich dreckig. Er war ja bloß einen Tag zu Haus gewesen, und er …« Sie vollendete den Satz nicht.
Ich sah mich noch einmal um. Dann gingen wir wieder hinaus in die Küche. »War es wirklich so ordentlich?« fragte ich.
Sie ging weiter ins Wohnzimmer. »Ja. Ich hab sonst überhaupt nichts angerührt. Er hatte es so. Sehn Sie nur hier.« Sie ging zur Kommode und zog die oberste Schublade heraus. Hemden und Unterhemden lagen in peinlich exakten Stapeln übereinander. Sie öffnete die nächste Schublade. Unterwäsche und Strümpfe. Sie ging weiter und öffnete den Kleiderschrank. Anzüge, Jacken und Hosen hingen fein säuberlich auf ihren Bügeln. Ein Paar Stiefeletten und mehrere Paar Schuhe standen ordentlich nebeneinander auf dem Boden des Schranks.
»Er ist offenbar nicht endgültig ausgezogen«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie frostig. »Noch nicht.« Sie saugte mit einem schmatzenden Laut Luft durch ihre Zähne. Wir blieben ungefähr in der Mitte des Zimmers voreinander stehen. Sie war eineinhalb Köpfe kleiner als ich. »Erzählen Sie, was passiert ist«, sagte ich.
Sie bewegte den Kopf mit einem kleinen Ruck. »Es is nich meine Art, mich zu beklagen«, sagte sie.
Ich lächelte verständnisvoll. »Natürlich nicht.«
»Und er hat sich so tadellos aufgeführt bis jetzt, aber – man muß schließlich auf seine Nachbarn Rücksicht nehmen.«
»Wohnen in diesem Haus denn noch andere?«
»Nein. Seit ein paar Jahren nich mehr. Bevor mein Mann starb, hab ich nich vermietet, aber dann wurd es – schwieriger mit dem Geld. Ich brauchte alles, was ich kriegen konnte, und es kostete mich nich so viel, nach unten zu ziehen.« Sie sah sich in dem kleinen Wohnzimmer um. »Konrad und ich, wir hatten hier unser Schlafzimmer.«
»Ach ja«, sagte ich in interessiertem Tonfall. »Wie lange vermieten Sie schon?«
»Seit Konrad – seit 1975. Erst warn es ein paar Studenten, aber in den letzten Jahren waren’s Ölleute. Es hat sich ja ’ne Menge verändert, hier in Stavanger.«
»Ja, ich hab es gesehen. Ich bin hier mal zur Schule gegangen.«
»Ach, wirklich?«
»Fachschule für Sozialwesen.«
»Ach so.« Es sah nicht so aus, als mache das einen positiven Eindruck auf sie.
»Vielleicht sollten wir uns setzen«, schlug ich vor.
»Wir können ruhig stehenbleiben«, antwortete sie. »Es wird nich lang dauern. Wie gesagt – er hat sich tadellos aufgeführt bis zu dem Abend, als …«
»Wann war das eigentlich?«
»Das war – vor sechs Tagen. Er war am Abend davor an Land gekommen, und da kam er immer kurz rein und sagte guten Tag, damit ich auch sah, daß er es war, der da kam, wenn ich hörte, daß sich – da oben was rührte. Außerdem sah ich ihn immer, von meinem Küchenfenster aus. – An dem Abend war’s ganz ruhig bei ihm, ich hörte, daß er sich Essen machte, daß er den Fernseher einschaltete und zum Schluß – daß er ins Bett ging. Nich, daß es hier so besonders hellhörig wär, aber sonst steht das Haus leer, und wenn dann plötzlich über einem Leben is, dann merkt man das schon, nich?«
»Das ist nur natürlich«, antwortete ich.
»Tja«, sagte sie, ging zu einem der Stühle und setzte sich doch. »Am Abend danach ging er aus, so gegen halb acht. Und als er wiederkam, nach zwölf, da war er nich allein.« Das letzte sagte sie mit einer Miene, als sei es eine Todsünde.
Ich setzte mich vorsichtig auf die Kante eines Stuhls und sagte höflich: »Aha? Hatte er – mehrere bei sich?«
»Also, ich hab nun nich in der Tür gestanden und nachgezählt, aber …« Schnell sagte sie: »Samuelsen selbst, drei andere Männer und zwei – Frauen.« Das letzte Wort kam in einem Tonfall, als sei ihr da eine ganz spezielle Sorte Ungeziefer ins Haus gekommen.
»Sechs Leute also?«
»Ja … So ungefähr.« Sie betrachtete mich mit einem mißbilligenden Zug um die schmalen Lippen. »Und es waren nich gerade Damen, sag ich Ihnen!«
»Nein? Hatte er öfter …«
»Nie. Ich hab ihn nie mit irgendwem zusammen gesehen. Aber eins können Sie mir glauben: Man is ja schließlich nich von gestern und weiß, wie der Igel läuft!« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Oder so ähnlich.«
»Tja, sicher. Soll das heißen – soll das heißen, daß Sie diese – Frauen – kannten?«
Mit Eis in der Stimme antwortete sie: »Nein, ich kannte keine von ihnen. Aber es war offensichtlich, was sie für welche waren. Und die eine … Ich kann Ihnen sagen: Es herrschen neue Zeiten in Stavanger, im Guten wie im Bösen, und hier sind jetzt so viele merkwürdige Menschen und Frauen … Aber die eine, das is ’n Gewächs von hier, mal so gesagt. Sie kommt von hier unten aus der Straße. Laura Lüstgen.«
»Lüstgen? Heißt sie …«
»Naja, Ludvigsen eigentlich, aber sie hieß nie anders als Lüstgen. Sie war ein paarmal verheiratet, aber jetzt is sie schon drei, vier Jahre geschieden, also zur Zeit is sie nur …« Sie suchte nach dem richtigen Wort.
»Eine Freiberufliche?«
»So was ähnliches. – Ich könnt Ihnen erzählen … Aber sparn wir uns das für ein andermal. Sie war jedenfalls dabei.«
»Und die anderen? Kannten Sie die auch?«
»Nein. Die waren mir nich bekannt. Bis auf die andere Frauensperson waren’s sicher alles Ölleute. Die sahn so aus. Der eine hatte einen Cowboyhut auf.«
»Einen Cowboyhut?«
»Ja, das is auch nich so selten in Stavanger heutzutage. Das nächste sind dann wohl die Hottentotten.«
»Sie wissen nicht zufällig, wo ich diese – Laura Lüstgen finde?«
»Nein! Das weiß ich nun wirklich nicht!« schnaubte sie. »Das müssen Sie schon selbst rausfinden. Aber interessiern Sie sich nun für Laura Lüstgen oder für Arne Samuelsen?«
»Samuelsen«, sagte ich eilfertig.
»Also. Und dann gab es eben eine fürchterliche Feierei in der Nacht.« Es war offensichtlich, daß sie nicht das geringste dagegen hatte zu erzählen.
»So?«
»Ja. Ein richtiger Radau. Da klirrten Flaschen, und sie lachten und lärmten und fielen auf den Boden, und überhaupt, es war ein furchtbarer Krawall. Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und am Ende – ich glaub, sie fingen an, sich zu prügeln, jedenfalls fielen plötzlich Stühle um, und es gab ein Geschreie und Geheule, und dann fiel irgendwas auf den Boden, mit ’nem Knall. Und dann wurd’s still. Und gleich danach polterten sie die Treppe runter, die meisten jedenfalls.«
»Wer? Wie viele?«
»Keine Ahnung. Ich war im Bett, tief unter der Decke. Ich hab nich mal gewagt rauszugucken. Aber ich hab gehört, daß noch welche da waren, weil sie noch hin und her gingen da oben, noch eine Stunde danach. Dann gingen die auch. Ich – ich ging zum Fenster.«
»Ja? Haben Sie gesehen, wer es war?«
Sie schüttelte beschämt den Kopf. »Nein. Es war zu spät. Und es war dunkel. Die Uhr war – fast sechs in der Früh. Aber es waren jedenfalls zwei Leute, mindestens. Zwei oder drei.«
»Aber hören Sie – als da so ein Krach war, haben Sie da nicht daran gedacht, hochzugehen und ihnen was zu erzählen?«
»Denen was erzählen? Sind Sie verrückt, Mann? Wissen Sie, was einer Wirtin passiert is – das stand sogar inner Zeitung –, die können ganz schön ungemütlich werden, diese Kerle … Sie ging rauf, um sich über den Krach zu beschweren. Es waren Ausländer, natürlich. Sie zogen sie in die Wohnung, und – alle miteinander – obwohl sie ’ne ältere Dame is –, und selbstverständlich haben sie ihre Strafe gekriegt, hinterher, aber was glauben Sie, was die Leute über sie reden, hinter ihrem Rücken, in dieser Stadt? O nee, da bleib ich lieber unter der Decke liegen.«
»Aber die Polizei – Sie hätten doch die Polizei rufen können.«
»Die Polizei«, schnaubte sie verächtlich. »Bis die gekommen wärn, wär ich schon ermordet gewesen, und dann hätt’s nich mehr viel geholfen. Mir, mein ich.«
»Nein, das klingt logisch, ja.«
Wir saßen einen Augenblick lang da und sahen einander an. »Tja.« Sie machte eine resignierte Armbewegung. »So sieht’s aus in Stavanger. Und nun muß er jedenfalls raus, ob er will oder nich!«
»Aber erst müssen wir ihn finden.«
»Also – das is Ihr Problem, oder?« sagte sie aufmunternd.
»Wann fiel Ihnen ein aufzuschließen und in die Wohnung zu gehen?«
Sie sah bestürzt drein. »Erst als die Mutter angerufen und mich drum gebeten hat. Ich komm doch nich auf die Idee …«
»Aber, Sie müssen doch gehört haben, daß er nicht hier drin war. Oder daß er – sich nicht rührte jedenfalls. Er hätte ja krank sein können, oder es hätte ihm was passiert sein können.«
»Ich dachte … Also, am ersten Tag, am Tag danach, da war ich so aufgeregt, daß ich gar nicht die Ruhe hatte zu horchen, ob er da war. Ich hab da so beruhigende Pillen, die der Arzt mir gegeben hat für den Blutdruck, verstehen Sie, und davon hab ich ein paar genommen. Und dann hab ich mich hingelegt, im Wohnzimmer, aufs Sofa, für den Fall, daß jemand kommen würde, mit einem kalten Lappen auf der Stirn und die linke Hand in einer Schale mit Salzlauge. Das hilft, sagt man.«
»So, so.«
»Und am Tag drauf rief die Mutter aus Bergen an, und ich hab es ihr gesagt, wie es war, daß ich ihn seit mehreren Tagen nich gesehn hatte. Und ich hatte nich das Herz, ihr von all dem – Krach zu erzählen.«
»Und dann bat sie Sie, nachsehen zu gehen?«
»Ja.«
»Und was fanden Sie vor?«
»Was ich vorfand? Nichts. Sie sehen ja selbst!«
»Soll das bedeuten, daß es trotz all der Feierei und des Krachs, den Sie in der Nacht hörten, genauso sauber und ordentlich war, wie es jetzt ist?«
»Ja, das kann ich Ihnen schwören. Das einzige, was ich angerührt hab, ist das Bettzeug. Ich weiß nich, wieso, aber ich glaub, ich hab vielleicht gedacht – diese beiden Frauenspersonen … Ich hab das Bettzeug nich mal selbst gewaschen. Ich hab’s zur Reinigung gegeben.«
»Nicht ein Glas, nicht eine leere Flasche?«
»Nein. Nichts. Nich mal ’ne Zigarettenkippe im Aschenbecher.«
»Die Gäste haben also hinter sich aufgeräumt?«
»Ja, finden Sie das so merkwürdig?«
»Ja. Gerade das finde ich äußerst – verdächtig.«
»Verdächtig?« sagte sie nachdenklich.
»Ja, oder komisch eben«, sagte ich schnell.
Ich suchte das Foto von Arne Samuelsen hervor und zeigte es ihr. »Um Mißverständnisse zu vermeiden – es ist dieser Kerl, von dem wir reden, nicht?«
Sie blickte neugierig auf das Bild, drehte es um, um zu sehen, ob irgendwelche interessanten Informationen auf der Rückseite stünden. »Ja. Das is er. Aufs Haar genau«, sagte sie kurz.
»Na, dann also gut.« Ich erhob mich. »Ich glaube, ich sollte Sie nicht länger aufhalten. Jedenfalls für heute. Wenn es sich ergeben sollte, daß ich mir seine Wohnung noch einmal ansehen muß …«
»Wird das denn nötig sein?«
»Seine Sachen durchsehen, versuchen, eine andere Adresse zu finden, einen Ort, wo er sich möglicherweise aufhält, damit …«
»Aber …«
»Und dann werde ich das nächste Mal die Miete mitbringen, ja?«
»Aber Sie hatten versprochen …«
»Ich muß es erst mit seiner Mutter absprechen. Der Ordnung halber.«
»Sie können bei mir unten telefonieren.«
»Ich muß auf jeden Fall erst zur Bank. Um welchen Betrag handelt es sich?«
Ihr Blick flackerte in den Raum hinein und wieder zu mir zurück. »Nur zwölfhundert. Das is noch billig.«
»In Stavanger heutzutage? Ja, ich kann es mir denken.«
Wir hatten einander nichts mehr zu sagen. Sie folgte mir nach unten, wie ein losgelöster Schatten. »Und Sie kommen wieder?« fragte sie, als ich ging.
Ich nickte bestätigend. Aber nur, wenn es unbedingt sein muß, sagte ich leise zu mir selbst und trat auf die steile Straße hinaus. Die Pflastersteine unter meinen Füßen waren rund und glatt, und es roch stark und faulig nach Meer, so wie es öfter riecht, an feuchten Tagen im November. Die Schatten von Bybrua fielen dunkel und düster über die Dächer, wie die Ankündigung eines Unwetters.