21
Ich zog mich an, suchte zusammen, was ich an Geld hatte, steckte die Aquavitflasche in die Manteltasche und ließ den Rest im Zimmer liegen. Ich warf einen kurzen Blick durch das Zimmer, ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Ich spähte den Flur entlang. Es war niemand zu sehen. Der Snack-Automat stand da, und seine vielen, leeren Fächer gähnten mich an. Ich sah auf das Türschloß. Es waren keine Kerben drum herum. Der oder die, die in meinem Zimmer gewesen waren, hatten einen Schlüssel gehabt. Aber das ist die leichteste Sache der Welt für Profis: einen Nachschlüssel für ein Hotelzimmer anzufertigen.
Ich nahm den Fahrstuhl nach unten. Ein wenig unentschlossen blieb ich am Eingang zur Bar stehen. Der Portier betrachtete mich aufmerksam. Draußen fielen große, nasse, graue Schneeflocken von einem rußigen Himmel. Das machte die Wahl leichter, und ich ging hinein in die Bar.
Jonsson war auf dem Weg hinaus. Ich traf ihn am Kleiderständer hinter der Tür. Als ich meinen Mantel aufhängte, streckte er eine große Hand über meine Schulter und hob einen Cowboyhut herunter.
Ich blieb stehen und sah ihn an, während er sich den Hut auf den Kopf setzte. Ich sagte: »Ich meine, du sagtest – nur zu festlichen Gelegenheiten.« Ich nickte dem Hut zu.
Er grinste. »Ist dies denn keine festliche Gelegenheit?« Es glitzerte in seinen Augen, und er schien in strahlender Laune zu sein. Dann nickte er mir keß zu und verschwand in Richtung Ausgang.
Ich ging in den schummrigen Raum, hinüber zur Theke. Ich hielt Ausschau nach Benjamin Sieverts, aber er war nicht da. Ich bestellte einen doppelten Aquavit und ein Glas Wasser. Der Barkeeper sah mich säuerlich an. Es war offensichtlich, daß ihm mein Geschmack nicht gefiel, und als er die Bestellung ausführte, sah er ebenso begeistert aus wie ein Inspektor der Gesundheitsbehörde auf einem Flohmarkt. Ich spülte den Mund kräftig mit Wasser, ehe ich den Aquavit durch die Zähne und hinauf zum Gaumen strömen ließ.
Ich ließ den Blick von Tisch zu Tisch gleiten, auf der Jagd nach Gesichtern, die mir etwas sagten. Ich wurde nicht enttäuscht. An einem der Tische ganz hinten an der Wand saß Frau Anderson, zusammen mit zwei Männern. Der eine war ein dekorativer junger Mann, aber nicht der aus ihrem Vorzimmer. Der andere war Niels Vevang, Jonssons rechte Hand. Vevang saß über den Tisch gebeugt und redete eifrig. Er hielt den Kopf von mir abgewandt, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Als Frau Anderson bemerkte, daß ich zu ihnen herübersah, sagte sie etwas, und Vevang sah sich unwillkürlich um, mit einer schuldbewußten Miene. Dann ging ihm auf, daß er dabei war, einen Fehler zu machen, und er ließ seinen Blick weiter durch den Raum wandern, so als habe er mich nicht bemerkt. Ich hatte genug gesehen. Ich hüpfte vom Hocker und ging zu ihrem Tisch hinüber. Frau Anderson sah säuerlich auf. Ihr Begleiter sah durch mich hindurch. Vevang blinzelte widerwillig unter den hellen Augenbrauen hervor zu mir hoch. Mir fiel auf, daß der Tisch von Frau Anderson und ihrem jungen Begleiter gedeckt war. Vevang saß da und hielt sich krampfhaft an seinem Bierglas fest, das er offensichtlich mitgebracht hatte, als er sich zu ihnen setzte.
Ich fragte: »Redet ihr über mich?«
Es entstand eine lange, peinliche Pause am Tisch. Frau Anderson legte das Eßbesteck aus der Hand, das Messer sorgfältig auf die eine Seite des Tellers, die Gabel auf die andere. Sie nahm die weiße Serviette und wischte sich umständlich über die vollen Lippen. Dann sagte sie: »Über Sie?« Und sie schaffte es, daß es so klang, als sei das das absolut letzte Gesprächsthema, das sie sich denken konnte.
Ihr Begleiter lächelte stumm, während er weiteraß. Vevang zog eine nervöse Grimasse und sagte: »Gibt es sonst etwas, das wir für Sie tun können, Veum? Sie wirken etwas -erregt?« Die klirrende Angst wirbelte noch immer unten in meinem Bauch herum. Ich hörte sie in meiner Stimme, als ich sagte: »Tut mir leid. Stavanger scheint anzufangen, mir an die Nerven zu gehen.«
Dann drehte ich mich um und ging zurück an die Bar. Vevang sagte leise hinter mir: »Nimm einen Drink, Veum – das hilft!« Ich kehrte zurück zu meinen zwei Gläsern und klammerte mich daran wie an ein Paar Krücken. Ich war völlig fertig. Und das seit mehreren Stunden. Eine sanfte Stimme sagte neben mir: »Mensch, du siehst aus, als hättest du eine Leiche gesehen!«
Sie ahnte nicht, wie recht sie hatte. Ich drehte mich abrupt zu ihr um und roch den Duft, der mich an grüne Zitronen denken ließ. Es war kein unangenehmer Duft. Er war frisch und aufmunternd. Sie trug Gelb an diesem Abend, und das unterstrich die Bräune ihrer Haut. Das Kleid hatte hohe Schlitze an den Seiten, es saß eng über ihren Hüften, und ein entsprechender Schlitz war auch vorn, oben. Du warst schon weit draußen in den Zitronenhainen; du pflücktest wohlduftende Früchte; der Himmel flimmerte von Sonnenlicht. Ich konzentrierte mich auf ihr Gesicht, die großen, weißen Zähne, den breiten Mund, die hohlen Wangen. Ich suchte nach ihrem Namen und versuchte etwas, das ein Lächeln darstellen sollte. »Elsa – stimmt’s?« Meine Stimme klang wie von einer zerkratzten Langspielplatte.
Sie lächelte zurück. »Und du bist – Varg?« Mir gefiel die Art, wie sie meinen Namen aussprach, mit einer kleinen Pause davor. Eine andere Frau, die ich kannte, sprach ihn gewöhnlich auch so aus.
Wir saßen einen Augenblick da und sahen einander an. Sie wirkte entspannter als beim letzten Mal, nicht so abgemagert. Ihr Lächeln war weich und mädchenhaft. Aber in den großen, dunkelblauen Augen war etwas, das ich nicht ganz erfassen konnte, etwas Geheimnisvolles und Düsteres. Ich fragte mich, was sie wohl in meinem Gesicht lesen konnte. Es konnte nicht sonderlich angenehm sein.
Schließlich fragte ich: »Möchtest du etwas?«
Sie riß sich los von meinem Gesicht oder von ihren Gedanken, oder was es auch immer war, das sie zum Stottern brachte: »Ja, danke … Ein – Glas – Weißwein.«
Ich schnippte nach dem Barkeeper und bestellte. Ein Glas Weißwein – nicht wie immer heute abend.
Sie sagte: »Sag mal – was ist passiert?«
»Ist – passiert?« Ich versuchte, natürlich auszusehen.
»Es steht dir dick im Gesicht geschrieben. Hast du ihn gefunden – den, den du gesucht hast?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich hab was anderes gefunden. Und …« Ich brach ab. »Nein. Es hat keinen Sinn, darüber zu reden. Und außerdem – ich bin in der Dusche eingeschlossen worden, oben in meinem Zimmer.« Ich erzählte kurz, was passiert war.
Sie sah mich ernst an. »Ich – ich verstehe, daß du erschrocken bist. Stavanger ist –« Sie sah sich langsam im Raum um, ehe sie den Satz vollendete: »– eine gräßliche Stadt geworden.«
Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Du kannst mir ruhig glauben. Ich weiß Bescheid.«
Wieder sah sie mich mit diesem forschenden, nachdenklichen Blick an. Dann sagte sie: »Hör mal, Varg. – Warum nicht – kannst du nicht mit mir kommen, zu mir nach Hause?«
Etwas Süßes, Gefährliches rührte sich in meinem Unterleib. Ich sagte: »Du – ich – ich danke dir, aber … Ich hab doch letztes Mal gesagt …«
Ein eigentümlicher Ausdruck von Rührung huschte über ihr Gesicht, wie ein Windhauch über stilles Wasser, fast unmerklich. Sie legte eine schmale Hand auf meinen Handrücken. »Ich wollte nicht – du kannst da übernachten, wir müssen ja nicht – du sollst nicht – ich nehm mir heut abend frei!« Sie sah froh aus bei dem Gedanken. »Frei. Verstehst du?«
Ich war trotzdem skeptisch. »Meinst du, daß ich – wir …«
»Wir fahren raus zu mir, ich wohne im achten Stock in einem der Hochhäuser in Ullandhaug, und ich habe eine prachtvolle Aussicht. Wir essen etwas, trinken ein Glas Wein, sitzen und – reden. Gott, das war zu schön, Varg. Nimm es als – nimm es als einen Freundschaftsdienst.«
»Einen – Freundschaftsdienst?« sagte ich langsam. Und ganz hinten in meinem mißtrauischen Kopf war plötzlich ein Gedanke aufgetaucht: Was, wenn … Keine dumme Idee. Erst erschrecken wir ihn ein wenig, und dann bringen wir Elsa dazu, ihn hier rauszulocken, und dann … »Ich …«
»Sag nicht nein, Varg! Bitte …« Sie sah mich flehend an. Ihr Gesicht war offen, nah, ehrlich. Sie konnte mich nicht täuschen, oder …
Die Alternative war, sich ein neues Hotelzimmer zu suchen, in einem anderen Hotel, aber zu den meisten Hotelzimmern gab es Nachschlüssel, und ich wollte ruhig schlafen. Aber bei Elsa?
Ich entschied mich. »Okay. Abgemacht.« Als ich es gesagt hatte, überkam mich ein Gefühl der Erleichterung, und ich blickte ein wenig fröhlicher durch den Raum.
Die Angst war noch immer da, aber sie war blasser geworden. Aber nicht so blaß, als daß nicht ein winziges Mißtrauen genügt hätte, um sie wieder zu voller Blüte zu bringen.
Wir leerten unsere Gläser und verließen die Bar. Ein paar Kerle, die Elsa zu kennen schienen, zwinkerten vielsagend und machten ein paar unzweideutige Handbewegungen. Elsa ignorierte sie, und ich versuchte, es ihr gleichzutun. Sie warf sich einen dunklen Ledermantel über die Schultern, und wir gingen hinaus an die Rezeption und bestellten ein Taxi. Der Portier sah über meine Schulter hinweg und pfiff eine leise Melodie, die ich nicht sofort einordnen konnte. Erst als wir im Wagen saßen, ging mir auf, welche es war: Can’t buy me love …