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Obwohl es ein rauher und kalter Novemberabend war, waren eine Menge Leute unterwegs. Das abendliche Publikum auf Stavangers Straßen war jung, laut und mehr oder weniger betrunken.

»Hier steigen wir hinab ins Inferno«, sagte Sieverts lächelnd, als wir zu der Fußgängerunterführung unter Konggårdsbakken hinuntergingen. Dort unten stand eine Horde junger Leute, die Jungen in Lederjacken und Lederhosen, die Mädchen in engen Jeans und Daunenjacken. Sie starrten uns herausfordernd entgegen, als wir vorbeigingen, und wir überhörten die Zurufe, die uns durch den Betontunnel verfolgten. Unsere Schritte klangen hohl wider.

Als wir auf der anderen Seite nach oben kamen, stand dort ein kleines Heilsarmeeorchester und spielte durchdringend und falsch für eine kleine Anzahl von Zuhörern. Die Musiker hatten gerötete Hände und frostweiße Gesichter, und es blitzte kalt in ihren Messinginstrumenten. Wir gingen vorbei.

Unten am Kai hatte sich eine größere Menge versammelt. Zwei junge Leute tanzten betrunken umeinander herum und hauten schwerfällig um sich, wie Bären, die nach schwirrenden Bienen schlagen. Ab und zu trafen sie, und dann klatschte es dumpf. Die Zuschauer bildeten einen Kreis um sie. Ein paar ließen Anfeuerungsrufe los. Keiner versuchte dazwischenzugehen. Wir gingen vorbei.

In einem Hauseingang standen zwei heruntergekommene Kerle und eine noch schlimmer aussehende Frau. Sie teilten sich eine Flasche reinen Alkohols, und ihre Zungen waren schnell, wenn es darum ging, die Tropfen einzufangen, die am Mund vorbeiliefen. Die Frau fragte, ob wir auch etwas haben wollten, aber wir gingen vorbei. Wir wollten weiter.

Ich sah zurück. Das Heilsarmeeorchester hatte Pause, aber die Schlägerei am Kai ging weiter, und Alexander Kielland wachte unbeirrbar über das Ganze.

»Es sind in Stavanger«, sagte Sieverts, »in den letzten Jahren eine Menge solcher Lokale entstanden wie das von Ole Johnny – wo wir jetzt hinwollen.«

»Ole Johnny?«

»Ja, wir nennen ihn einfach so. Einer von den Ureinwohnern. Damals, in den fünfziger Jahren, als es noch mit einem gewissen Risiko verbunden war, Pornos zu verkaufen, war er einer von den wenigen in Stavanger, die das taten. Ordentliche, dänische Ware, lange bevor sie modern wurde. Er hatte einen kleinen Tabakladen – und dann erweiterte er das Angebot. Pornos, Verhütungsmittel. Alles, was in Stavanger vor zwanzig Jahren verboten war. – Aber er ist einer von denen, die durch den Ölboom wirklich nach oben gekommen sind.«

»So?«

»Ja. Die Jungs kommen von draußen an Land, weißt du. Die, die verheiratet sind und Frau und Kinder zu Hause haben, die fahren nach Hause. Aber viele sind Ausländer, die es sich nicht leisten können, nach Hause zu fahren, oder junge Kerle, die zu Hause nichts mehr verloren haben – und die sich plötzlich in der Stadt wiederfinden, die Taschen voller Geld und viele freie Tage. Was zum Teufel sollen sie anfangen? Sich bei den Pfadfindern anmelden?«

Vor einem Restaurant stand einer dieser jungen Kerle und stritt mit dem Türsteher. »Jetzt bin ich blau, weil ich da drin meine ganzn Mäuse auf’n Kopp gehaun hab, un nu lasster mich nich wieder rein, ej, wassn das für ’ne Art?« tönte es von irgendwoher weit in den Fjorden.

Der Türsteher schüttelte nur abweisend den Kopf.

Der Junge fing an, mit den Armen zu schlenkern, und plötzlich – ehe einer von uns reagieren konnte – hatte der Türsteher ihm einen Kinnhaken verpaßt, daß er rückwärts in den Rinnstein taumelte. Dort blieb er sitzen und blickte verdattert um sich.

Ich blieb stehen und sagte: »War das nicht ein bißchen zu hart?«

Der Türsteher kam zu mir herüber. Er war etwas kleiner als ich, aber ein breit gebauter, stämmiger Kerl mit einem Silberblick. »Das war Notwehr. Das hast du doch gesehn. Oder willste auch einen?«

Ich wollte keinen. Sieverts hatte dem jungen Kerl auf die Beine geholfen und ihm die Richtung gezeigt, in die er gehen sollte. Wir gingen weiter.

»Da siehst du’s«, sagte Sieverts. »Und es gibt Leute, die ganz schön Geld machen mit diesen – wie sollen wir es nennen – Freizeitproblemen. Die, die all diese neuen Läden betreiben, zum Beispiel. All die Mädchen, die hier ihrem Gewerbe nachgehen. Und dann solche wie Ole Johnny.«

»Der irgendein Lokal betreibt – wenn ich es richtig verstanden habe?«

Wir gingen ein paar Seitenstraßen hinauf, ich immer hinter Sieverts her. »Genau«, sagte er. »Das heißt – dem Anschein nach ist es eine ganz normale Wohnung in einem ganz normalen Haus. Wand an Wand mit dem Bethaus übrigens. Aber drinnen!«

»Ja?«

»Wart’s nur ab, dann wirst du’s sehen. Aber unten und im ersten Stock sind – Spielhallen eingerichtet. Unten sind hauptsächlich Automaten, aber was die einbringen, ist nicht gerade Kleingeld. Da drin hatte Ole Johnny früher seinen Tabakladen. Aber das ist noch gar nichts! Denn im ersten Stock findest du ein Spielkasino von internationalem Format. Hauptsächlich wird gepokert, zum Teil ganz schön hoch, das kann ich dir versichern. Ich hab da selbst ein paarmal mitgemischt.«

»Geld zu verdienen und Geld zu verlieren. Aber meist das letztere, natürlich, sonst würde der Laden ja nicht laufen. Aber es gibt auch Würfelspiele – und in einem der Hinterzimmer: ein richtiges Roulette. Es ist eine Menge Geld in den Laden investiert worden, und Ole Johnny hat sich damit saniert. Hütte im Fjell und Hütte am Meer: eine bei Haukeliseter und eine draußen bei Sirevåg auf Jæren. Phantastisch gelegen, beide, heißt es. Und das ist noch nicht alles …«

»Was kommt denn noch?«

»Es gibt ein paar Hausdamen. Und in den Wohnungen im zweiten und dritten Stock – ja, du kannst es dir vielleicht denken.«

»Das kann ich. Für alle Bedürfnisse ist gesorgt.«

»Und noch mehr. Schnaps kannst du auch kaufen, aber nur flaschenweise, halbe oder ganze, damit es aussieht, als hättest du sie selber mitgebracht. Es ist eine private, geschlossene Gesellschaft, verstehst du, und wenn du noch nie da warst, kommst du auch nicht rein – es sei denn, du kommst zusammen mit jemandem, der bekannt ist, der für dich bürgt.«

»Und das willst du tun – für mich?«

»Ja. Frag mich nicht, warum, aber – ja.«

»Und da hast du also Arne Samuelsen gesehen – den, nach dem ich suche – Mittwoch letzter Woche?«

»Ja. Er war da, und er hat gespielt – gewürfelt, glaube ich. Ich bin ziemlich früh gegangen, deshalb kann ich nicht sagen, ob er mit jemandem zusammen war. Ich kann dir nur erzählen, daß er da war – den Rest mußt du selbst rausfinden.«

»Und solche Läden laufen wirklich, ohne daß die Polizei eingreift?«

»Phh, die Polizei! Die haben damit zu tun, Falschparkgebühren einzutreiben und falschgeparkte Autos abzuschleppen. Ole Johnnys Lokal ist nicht das einzige – du solltest mal ein paar von den Villen sehen, die die Amerikaner außerhalb der Stadt gemietet haben. Das reinste Las Vegas, sag ich dir.«

»Und – das Sektenvolk?«

»Das Sektenvolk? Die klammern sich an die wenigen, die sie bei der Stange halten können, und kümmern sich einen Scheißdreck drum, was draußen vor ihren Fenstermalereien vor sich geht. Wir sind da.«

Wir standen vor einem vierstöckigen Stadthaus, dessen von Neonlicht umflimmerter Eingang zu einer schäbigen Spielhalle im Erdgeschoß allen anderen Etagen die Möglichkeit nahm aufzufallen. Das Haus daneben war ein weißes Holzhaus mit schmalen, hohen Bogenfenstern. Bezeichnenderweise lag es im Dunkeln.

Sieverts hatte mich in die Spielhalle geführt, wo ein großgewachsener Kerl hinter einem Tresen stand und das Ganze überwachte. Vor ihm auf dem Tresen lagen Stapel von Spielmarken. In einer Schublade hatte er reichlich Bargeld, und als er sie aufzog, sah ich den Kolben einer Gaspistole schimmern. Hier ging man kein unnötiges Risiko ein.

Sieverts beugte sich zu ihm. Er sah über die Schultern meines Weggefährten und starrte mich mit kalten Schellfischaugen an. Ich sah, daß Sieverts ihm einen Fünfziger zusteckte und daß er mit den Schultern zuckte.

Dann wies er uns durch eine Seitentür hinaus, und wir befanden uns im ehemaligen Treppenhaus, was es auch jetzt noch war, nur daß es keine Mieter mehr gab, die es benutzten. Durch ein paar vergitterte Fenster erkannte ich einen kahlen Innenhof. Ich kontrollierte schnell die Eingangstür. Sie war verschlossen und ohne Schlüssel nicht zu öffnen. Der einzige Weg nach draußen war der durch die Spielhalle – oder über den Innenhof. Die Hintertür sah aus, als sei sie undurchdringlich.

»Checkst du die Rückzugsmöglichkeiten?«

»Ich hab mir angewöhnt, vorsichtig zu sein.«

»Du – du hast doch nicht vor, Ärger zu machen, oder?«

»Nein, nein. Ich will nur rausfinden, ob mir jemand was über – Arne Samuelsen erzählen kann.«

»Na gut.« Sieverts sah aus, als bedauere er, mich mitgenommen zu haben. Wahrscheinlich war es in einem Anfall von Euphorie geschehen, verursacht durch das Braune, das er in seinem Glas gehabt hatte.

Aber es war zu spät, um umzukehren. Er führte mich eine Etage höher – zu Ole Johnnys Lokal.