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Ich richtete mich auf und sah mich im Hof um. Das alte Autowrack hatte eine neue Bedeutung bekommen. Es gemahnte mich an das Wrack hinter der Tür. Die gestreifte Katze erhob sich, streckte sich und verließ mit erhobenem Schwanz und ohne mich eines Blickes zu würdigen den Ort, wie um ihn noch lebloser wirken zu lassen.

Ich konnte nichts tun, um zu helfen. Ich folgte dem Beispiel der Katze und verließ den Ort des Geschehens.

Zwei Frauenleichen innerhalb von vierundzwanzig Stunden: das waren zwei zuviel. Stavanger hatte den Charakter geändert. Die Häuser, die schimmeligen Holzwände auf der Rückseite der großen Lagerhäuser, die modernen Holzbalken, das abgenutzte Kopfsteinpflaster – alles bekam einen Ausdruck von Verwitterung und Tod. Ich ertappte mich dabei, daß ich auf Schritte hinter mir horchte. In den schmalen Straßen in diesem Teil der Stadt kamen die Autos in großen Abständen, und ich konnte das Echo meiner eigenen Schritte hören – oder war es das anderer? Ich blieb abrupt stehen und horchte. Das Echo verstummte, aber ich fühlte mich nicht beruhigt.

Die, die mich hatten überfahren wollen, würden es wieder versuchen, wenn sie mich fanden. Und vielleicht hatten sie beim nächsten Mal mehr Glück. Genausoviel Glück, wie sie bei Laura Lüstgen gehabt hatten?

Ich näherte mich wieder dem Zentrum. Ich entdeckte eine Telefonzelle und wählte die Nummer der Polizei. Während ich sprach, beobachtete ich aufmerksam, was draußen passierte. Ich nannte meinen Namen nicht. Ich gab ihnen Lauras Adresse und empfahl ihnen, einmal hinzufahren. Dann legte ich auf, ehe sie anfangen konnten, ihre Fragen zu stellen.

Danach suchte ich mir eine Cafeteria und überlegte unterwegs, ob ich das Richtige getan hatte. Jemand könnte gesehen haben, wie ich in den Hof ging – oder wieder herauskam. Wahrscheinlich wäre es cleverer, der Polizei gegenüber mit offenen Karten zu spielen. Aber ich war nicht als sonderlich cleverer Typ bekannt in meiner Heimatstadt, und das Milieu in Stavanger hatte daran nichts geändert.

In der Cafeteria bestellte ich ein Kännchen Tee und bekam eines mit zwei Beuteln darin. Ich zog die Beutel nach einer Weile heraus. Dünner Tee ist gut für strapazierte Nerven.

Also, Laura Lüstgen war tot. Ihre Haut war so kalt wie Eis gewesen, aber sie war jedenfalls ganz, und es hatte sich keiner die Mühe gemacht, sie in einen Kühlschrank zu stecken.

Hatten sie etwas gemeinsam – Laura Lüstgen und die mysteriöse Frau im Kühlschrank? Waren sie vielleicht Zeugen von etwas, das sie nicht hätten sehen sollen? Oder hatten sie etwas gehört, was sie nicht hätten hören sollen?

Jemand hatte zwei Frauen ermordet. Hatte Arne Samuelsen etwas mit den Morden zu tun? Und wo war er?

Ich sah durch die Fenster nach draußen. Es war dunkel geworden, obwohl es noch früh am Tag war. Vom Westen trieben die Wolken schwer wie Blei herein.

Die ersten vereinzelten Tropfen zersprangen an den Scheiben. Die Sonne hatte Stavanger vergessen.

Die Cafeteria war echt norwegisch, von dem trockenen, zähen Westlandsgebäck im Glastresen bis zur Kassiererin mit dem Zöllnerblick. Sie thronte förmlich hinter ihrer klappernden Maschine, mit Augen, die tief in die geheimsten Räume deiner Seele blickten. Es roch nach Kaffee, und die Luft war feucht und kühl. Wenn du schlau bist, behältst du deinen Mantel an. Wenn nicht, dann holst du dir eine Erkältung.

Elsa – sollte ich sie anrufen? Ihr erzählen von der Episode vor dem Hochhaus? Nur – konnte ich ihr – völlig – vertrauen?

Ein unangenehmer Gedanke. Was, wenn sie …? Ich sah auf meine Hände, dachte an die Haut, die sie gestreichelt hatten, an das Haar, durch das sie gefahren waren. Selbst wenn ich so an sie dachte, fiel es mir schwer, ihre Züge vor mir zu sehen. Ich kannte sie nicht.

Ich trank den dünnen Tee langsam. Die Kassiererin starrte mich an. Ich hatte nicht gerade einen Riesengewinn eingebracht, und sie würde mir schon was erzählen, wenn ich versuchte, etwas in meinen Tee zu kippen. Sah ich so aus? Ich strich mir diskret übers Kinn. Ich war unrasiert.

Weit entfernt hörte ich eine heulende Sirene. Was konnte das sein? Ein Krankenwagen? In dem Fall zu spät. Die Polizei? Zu welchem Zweck?

Ich fühlte mich unruhig und hilflos. Ich hatte das Gefühl, daß etwas noch ungetan war, daß ich ein Muster erkennen müßte in dem Ganzen, einen Pfad durch die Wildnis finden.

Es half nichts, hier sitzen zu bleiben.

Wenn ich zum Hotel zurückging – ob sie dort auf mich warten würden? Oder waren sie in der Stadt und suchten nach mir? Wenn Ole Johnny seine Bodybuilder auf Fuchsjagd geschickt hatte, würde es kaum lange dauern, bis ich in der Falle saß.

Ich sollte einfach das erste Schiff nach Bergen nehmen, ob es der Polizei gefiele oder nicht. Sollten sie mich doch wieder zurückholen, dann konnten sie mich beschützen. Aber dann mußte ich zum Hotel zurück, um meine Sachen zu holen.

Es führte kein Weg daran vorbei. Ich trank den Tee aus, ließ fünf Øre auf der Untertasse liegen, eine Art Witz – und tauchte wieder in der Menschenmenge unter. Mich in alle Richtungen umblickend, ging ich zurück ins Hotel.

Ich kam nicht weiter als an die Rezeption. Zwei Männer in hellen Mänteln saßen dort, jeder auf einem Stuhl, und warteten auf mich. Als sie mich entdeckten, standen sie auf, völlig synchron. Sie waren ungefähr gleich groß, aber die Gesichter waren verschieden: das eine rund und freundlich, das andere mager und asketisch. Bevor sie sich vorstellten, nannte ich sie im stillen Abbot und Costello. Es war der magere, der sprach: »Polizeiobermeister Iversen. Würden Sie uns bitte folgen?«

Ich starrte ihn an. »Diese Stadt macht mich fertig. Könnt ihr euch ausweisen?«

Das konnten sie, also folgte ich ihnen.