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Der November ist ein trostloser Monat. Die Herbststürme fetzen die letzten Blätter von den Bäumen, und die allerletzten Reste des Sommers liegen braun und modernd auf dem Gehsteig und den Straßen. Die Wolken ziehen schwer und tief über die Stadt, und der Regen fällt fast waagerecht in dem starken Wind. Dann hält der Frost seinen ersten Einzug, beißt in das Gras mit weißen Zähnen, überzieht die Wasserpfützen mit neuem, dünnem Eis. Selbst mitten am Tage wird der Himmel nie mehr als blaß. Die Sonne gibt keine Wärme mehr, und die Nächte sind lang und schwarz.
Aber auch der November kann eine eigene Schönheit besitzen, wenn der Himmel sich plötzlich nach Norden wie grünes Stahleis erhebt und draußen im Westen noch der Sonnenuntergang liegt wie ein schwelender Rand, oder wenn die erste Morgensonne sich golden zwischen den roten Hausdächern hindurchstiehlt und die wachsbleichen Menschengesichter erfaßt.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als ich dem Strandkai und der C. Sundsgate folgte auf dem Weg zum Westamaran nach Stavanger. Es war fast niemand draußen. Unerschütterliche Handwerker auf dem Weg zu ihrer Baustelle. Ein junges Ehepaar fuhr ein kleines Kind zur Tagesmutter. Der Markt lag verlassen, und in dem Haus, in dem mein Büro lag, war kein einziges Fenster erleuchtet. Der Wind, der durch die menschenleere C. Sundsgate fuhr, kam aus Nord und kündigte Frost an. Die nackten Straßen waren glatt. Ich schlug den Mantelkragen hoch und ging gebeugt weiter.
Wir waren zwei Passagiere zwischen Bergen und Leirvik. Ein Mann mittleren Alters mit zwei Koffern und dem Aussehen eines vom Leben ermüdeten Handelsreisenden nahm weiter vorn im Passagierraum Platz. Ich setzte mich weit nach hinten, auf die entgegengesetzte Seite des Schiffes, so wie es Norweger gewöhnlich tun.
Es roch stark nach Kaffee, und die Schiffsstewardeß hatte sich noch nicht den Schlaf aus den Augen gerieben. Ihr Rock war zerknittert, als hätte sie darin geschlafen. Das Haar hing schlapp herunter, und ihre Nase war rot. Als sie mir einen Pappbecher mit Kaffee reichte, lächelte sie müde, und ich schloß die Finger um den Becher und lächelte dankbar zurück.
Das Schiff erhob sich auf Stahlflügeln, und die Reise gen Süden begann. In dem dunklen Fenster sah ich nichts als den Reflex meines eigenen Gesichts, durchbohrt von einzelnen, verstreuten Lichtpunkten. Ich dachte an Solveig.
Die Erinnerungen an die anderen Frauen waren blasser geworden. Die Namen tauchten immer seltener in meinen Gedanken auf, und ihre Gesichter verschwanden. Nur ein Gesicht blieb zurück, und selbst mein eigenes Gesicht in der schwarzen Fensterscheibe wurde durch ihres ersetzt.
Das Schiff warf sich hin und her in dem Stück offener See vor Stord. Der Tag war dabei, die Konturen der Landschaft wieder hervorzubringen. Der Himmel war grau, und die Wolken türmten sich langsam vor den hohen Bergen.
In Leirvik kamen ein paar Passagiere dazu. Einige von ihnen gingen in Haugesund an Land, aber ab dort war das Schiff fast voll. Es war Viertel nach zehn. Die Passagiere waren Geschäftsleute, die leise Gespräche führten, mit einem scharfen Lächeln über den Aktentaschen, Mütter mit vielen Kindern und noch mehr Gepäck, eine Schulklasse mit einem aufgeregten Lehrer in grünen Gummistiefeln und Windjacke, ein paar Frauen mittleren Alters mit roten, redefreudigen Gesichtern und Augen, die ständig in Bewegung waren. Alle zusammen wurden wir mitgezogen durch den Karmsund und hinaus auf den offenen Boknfjord, wo die kräftigen Wellen uns auf ihre Schultern hoben und uns von einer Seite zur anderen wippten. Die Wellenkämme zischten weiß auf uns zu, und ich klammerte mich an das Sitzpolster, ein angestrengtes Lächeln um den Mund, als unternähme ich diese Reise jeden Vormittag, nur zum Zwecke der Bewegung.
In Lee vor Randaberg beruhigte sich die See plötzlich, und wir konnten uns darauf konzentrieren, unsere Mägen wieder an ihren Platz zu schubsen, von weit oben, wo sie sich befanden, nach unten, wo sie hingehörten. Die meisten Passagiere sahen erleichtert aus, wie nach einem langwierigen Begräbnis.
Das Schiff steuerte flink in den Byfjord hinein, und Stavanger tauchte auf mit seinem charakteristischen, flachen Profil zur Rechten und seinen hochragenden Brücken zur Linken. Die Rosenberg-Werft und die halbfertige Statfjord B-Plattform erhoben sich auf der einen Seite des Schiffes, auf der anderen Seite standen die alten Hafenspeicher mit ihren spitzen Dächern bis unten an die Hafenmauer heran. Als ich auf das Deck hinausging, wehte mir leichter Regen ins Gesicht, und ich holte den Regenhut aus der Manteltasche.
Wir legten an, und ich ging rasch die Gangway hinunter. Ich folgte dem Skagenkai in Richtung Torget, und langsam wurde mir klar, wie sehr Stavanger sich verändert hatte, seit ich hier Ende der sechziger Jahre auf die Fachschule für Sozialwesen gegangen war. Damals war Stavanger noch eine schläfrige Kleinstadt gewesen, ohne besonders viel Leben, abgesehen von dem, was die Marinebasis auf Madla mit sich brachte. Die Bethäuser prägten die Stadt stärker als die Restaurants, und die Bebauung war altmodisch, pietistisch, schön und pittoresk wie in so vielen kleinen norwegischen Städten von Hammerfest bis Fredrikstad. Jetzt befand sich an jeder Straßenecke ein Restaurant; in jedem zweiten Hafenspeicher war das Interieur zugunsten von Discotheken, Restaurants und Boutiquen ausgewechselt worden, modernistische Bauten mit Los-Angeles-Fassaden schossen zwischen den verschreckten Holzbauten in die Höhe; auf den Gehsteigen hörte man fremde Mundarten ebenso häufig wie den Stavangerdialekt. Es herrschte eine babylonische Sprachverwirrung, und Bergen war im Vergleich dazu ein Provinznest.
Auch mein Hotel war, wie sich herausstellte, ein solch moderner Betonklotz.
Im Erdgeschoß befanden sich – außer der Rezeption – ein exklusives, kleines Speiserestaurant, ein Tanzlokal und eine Bar mit einem Interieur wie in einem französischen Nickelvertrieb. In der Rezeption stand eine liebenswürdige Dame in einer adretten, rostroten Jacke und einem schwarzen Rock. Sie hatte müde Furchen im Gesicht und Säcke unter den Augen, und sie sprach mich auf englisch an, ehe ich sie davon überzeugen konnte, daß ich tatsächlich Norwegisch sprach. Dann fand sie meinen Namen auf der Liste der Reservierungen, kreuzte eine Zimmernummer an und gab mir den Schlüssel. »Im Dritten«, sagte sie mit dem schnarrenden Rachen-R, das für diese Gegend so typisch ist. »Der Fahrstuhl ist da drüben.«
Ich bedankte mich und nahm den Fahrstuhl nach oben. Gegenüber der Tür zu meinem Zimmer prangte ein gigantischer Snack-Automat. Er funkelte wie ein Spielautomat aus Las Vegas. Hinter schwarz getöntem Fensterglas lagen verführerische, in Plastik verpackte belegte Brötchen und lockten mit all ihren Kalorien. Ich widerstand der Versuchung und schloß mein Zimmer auf.
Es war ein modernes, funktionales Hotelzimmer, lang und schmal, mit Dusche und Toilette links und einem Kleiderschrank rechts. Ich durchquerte den Raum und zog die Gardinen zur Seite. Ich sah direkt auf eine alte, verwitterte Fassadenmauer mit einem halbverwischten Reklameschild darauf. Herrenkonfektion aus den frühen fünfziger Jahren. Ich begriff, warum die Gardinen vorgezogen waren.
Ich öffnete den Koffer, hängte ein paar Kleidungsstücke in den Schrank und verließ das Zimmer wieder, fast so wie es gewesen war. An der Rezeption kaufte ich einen Stadtplan. Mit Hilfe des Straßenverzeichnisses fand ich heraus, wo Arne Samuelsen seine Wohnung hatte. Ich faltete die Karte zusammen und steckte sie in die innere Manteltasche. Beim Verlassen des Hotels warf ich einen Blick in die Bar. Der Barkeeper saß hinter der Theke mit dem Gesichtsausdruck einer Wachspuppe. Links von der Theke standen zwei Jugendliche und warfen Pfeile auf eine Zielscheibe. Einige der Pfeile trafen nicht einmal die Wand. Das Geräusch der leichten Pfeile, die auf den Boden fielen, folgte mir durch die Tür hinaus.