26

Ich hörte draußen vor dem Haus die Polizeisirenen einsetzen. Die lauten Töne jagten mir einen kalten Schauer über den Rücken. Sie klangen wie die Posaunen am Tag des Jüngsten Gerichts, die zur allerletzten Plenumssitzung bliesen.

Bertelsens Blick ließ mich nicht los. Als die Sirenen nicht mehr zu hören waren, sagte er leise: »Was wolltest du bei Laura Ludvigsen, Veum?«

Ich sah ihn an. »Das weiß ich nicht mehr.«

»Du gibst also zu, daß du da warst?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte jetzt an andere Dinge zu denken.

»Ja?« Seine Stimme war in eine höhere Tonlage gerutscht.

»Also gut!« sagte ich. Er warf einen raschen Blick zu Iversen hinüber. Iversen blickte triumphierend zurück.

»Ich warte, Veum. Auf eine Antwort. Was wolltest du bei Laura Ludvigsen?«

»Ich … Sie fragen, ob ihr noch mehr eingefallen war, zu dem Abend.«

»Mit anderen Worten – du hast Nachforschungen angestellt! Du wolltest rausfinden, was die dummen Esel bei der Polizei nicht auf die Reihe kriegen, stimmt’s? Ich habe eindeutige Auskünfte über dich bekommen Veum – von meinen Kollegen in Bergen. Ich weiß genau, wie du vorgehst. – Na, und was hast du gehofft rauszufinden?«

Ich hatte mir vorgenommen, so ruhig und locker wie möglich zu antworten. In einem Ton, der fast blasiert klingen mochte, antwortete ich: »Ich habe keine Nachforschungen angestellt. Als ich dorthin kam, war die Dame schon – jenseits aller Fragen. Wer keine Fragen stellt, der stellt auch keine Nachforschungen an. – Also …«

»Also glauben wir hier wohl noch an den Weihnachtsmann?! Ich könnte dich einsperren, Veum. Ich sag’s noch mal, ich könnte …« Er biß sich auf die Zunge. Mit ein paar wütenden Bewegungen räumte er ein paar Papiere zur Seite. Als er wieder aufsah, war er ruhiger. »Aber wir sind nicht so dumm, wie du glaubst, Veum. Wir haben selbstverständlich mit Laura Ludvigsen gesprochen, schon gestern nachmittag. Wir haben alles über diese Feier erfahren …«

»Ach ja?«

»Was sie davon wußte.«

»Na, gut, aber warum sitzen wir dann hier?«

»Weil Laura Ludvigsen tot ist. Weil du an dem Ort herumgeschnüffelt hast, an dem sie – gefunden wurde.«

»Sie wurde also ermordet?«

»Sie wurde – gefunden. Mit gebrochenem Genick. Es könnte ein Unfall gewesen sein, im Suff. Oder – tja.« Er blätterte in dem Haufen vor sich, zog einen großen, braunen Umschlag hervor. Mit langen Fingern zog er zwei Bilder aus dem Umschlag. Er saß da und sah die beiden Bilder an. Dann reichte er mir das eine.

Ich sah es mir an. Es war das Portrait eines Mannes. Er hatte dünnes Haar, war glattrasiert und hatte breite, struppige, aber sehr helle Augenbrauen, eine Art blonder Breschnew. Die Augen wirkten dunkel und melancholisch. Seine Haut hatte traurige Furchen, und er wirkte nicht sonderlich glücklich.

»Na?« sagte Bertelsen. »Kannst du ihn einordnen?«

»Ich hab ihn noch nie gesehen. Wer ist das?«

Die kalten Augen antworteten nicht. Der Mund blieb geschlossen.

»Lächel-Hermannsen?« fragte ich.

Er streckte die Hand nach dem Foto aus, ohne zu antworten. Nachdem ich noch einmal darauf gesehen hatte, gab ich es ihm zurück.

Er gab mir das andere Foto. Sie war jünger und hübscher als der Mann auf dem ersten Bild, und wenn man die Augen zukniff, hätte sie vielleicht sogar glücklich aussehen können. Es lag ein kleines Lächeln um den breiten Mund mit den vollen Lippen, aber das Lächeln hätte die Augen nie erreicht. Sie waren hell und grauweiß, wie Kieselsteine. Das Haar war blond, die Schultern waren nackt. Es war nichts auf dem Bild, das zeigte, was für Kleidung sie trug. Vielleicht hatte sie überhaupt nichts an, und vielleicht war das genau der Eindruck, den sie erwecken wollte.

Das Gesicht war etwas zu breit und etwas zu flach, aber das konnte durch die grelle Beleuchtung so wirken. Es war ein schlechtes Foto, und sie mußten es ganz hinten in irgendeiner Schublade gefunden haben. Sogar auf der Kopie war deutlich ein Eselsohr zu erkennen.

»Und?« sagte Bertelsen.

»Ist das …?«

»Kennst du sie?« fragte er knurrend.

Ich schüttelte langsam den Kopf und sah lange auf das Bild.

»Das tätest du aber gern, was? Sie ist dein Typ, stimmt’s? Genauso wie – die andere.«

»Aber seid ihr so sicher, daß …«

Auch der Standhafteste gerät ab und zu ins Schwanken. Er konnte es nicht lassen, ein bißchen zu prahlen. In nüchternem Ton sagte er: »Irene Jansen. Prostituierte. 28 Jahre alt. Wohnhaft in Stavanger seit einem halben Jahr. Wir haben ihre Wohnung untersucht. Sie ist leer. Es stellte sich heraus, daß niemand sie seit vorigem Mittwoch gesehen hat.« Er sah einen Augenblick auf, um sich zu versichern, daß ich begriffen hatte, worum es ging. »Wir ermitteln jetzt in Oslo.«

»In Oslo?«

»Da kommt sie her. Leute von der Kripozentrale überprüfen ihre Wohnung dort, versuchen, einen Arzt oder Zahnarzt zu finden, der bei der Identifizierung helfen kann …«

»Zahnarzt? Ist das nicht ein bißchen – daneben? Ich meine … Oder habt ihr vielleicht den Kopf gefunden?«

»Nein«, sagte er kalt. »Wir haben den Kopf nicht gefunden. Noch nicht. Aber in dem Augenblick, wo wir ihn finden, wird ihre Zahnarztakte von großem Nutzen sein. Zusätzlich zu den Informationen aus der Krankenakte. Wir planen ein wenig voraus in unserem Fach, verstehst du, Veum? – Ein wenig, verstehst du?«

»Und sie ist verschwunden – wie eine Seifenblase?«

»Sie ist verschwunden wie – Arne Samuelsen. Und ebenso Lächel-Hermannsen.«

»Verdammter Sauhaufen!«

»Kurz gesagt: so ungefähr der einzige, der da ist, bist du. Und aus dir etwas rauszubekommen, ist ja unmöglich.«

»Aber …«

»Doch, wir haben eine Fahndung eingeleitet, nach allen dreien. Sogar international. Arne Samuelsen, Irene Jansen und Lächel-Hermannsen. Aber ich befürchte langsam, daß – tja.«

Iversen platzte plötzlich dazwischen. »Lächel ist aber gesehen worden.«

Ich drehte mich zu ihm herum. »Ja?«

»Mehrere Zeugen haben ausgesagt, daß sie ihn getroffen hätten, besoffen, unten in der Stadt, in den letzten Tagen, und daß er …«

Bertelsen unterbrach ihn schroff r »Das reicht, Iversen. Wir verteilen hier keine Bonbons. Heute nicht. Wir haben sowieso schon mehr als genug gesagt.« Ohne Überleitung sagte er plötzlich: »Hast du was von ihm gehört, Veum?«

»Von wem?«

»Von Arne Samuelsen.«

»Wieso sollte ich? Er hat keine Ahnung, wer ich bin, hat keine Ahnung, daß ich hier bin, daß seine Mutter …«

»Und wer hat dich dann gestern im Hotel angerufen?«

Mir wurde heiß. »Gestern – im …«

»Der Portier hat erzählt, du hättest einen Anruf bekommen – und daß es ein kleines Intermezzo gegeben hätte, oben in deinem Zimmer.«

»Ich verstehe …«

»Na endlich.«

»Ich verstehe, daß ihr jedenfalls nicht auf der faulen Haut liegt. Aber warum interessiert ihr euch für mich? Irgendwem gefiel es nicht, daß ich in Stavanger bin. Das wart nicht zufällig ihr? Sie haben mich im Bad eingesperrt, als ich duschte, und nachdem ich wieder rausgekommen war, riefen sie mich an und baten mich, die Finger von der ganzen Sache zu lassen, und besonders von Arne Samuelsen. Das klang wirklich nach euch

»Laß die Witzelei. Warum hast du uns das nicht eher erzählt? Warum hast du uns nicht angerufen?«

»Ich – dachte nicht …«

»Daß es uns interessieren würde? Es macht dir wohl Spaß, im Bad eingesperrt zu werden und übers Telefon Drohungen entgegenzunehmen, was? Oder ist das nur was, was du dir jetzt ausdenkst, um zu vertuschen, daß es wirklich Arne Samuelsen war, der angerufen hat?«

Ich wurde langsam sauer. »Ich sag doch – weshalb zum Teufel sollte Arne Samuelsen mich anrufen, wenn er keine Ahnung hat – wenn ich wüßte, wo er ist, dann …«

Bertelsen beugte sich über den Schreibtisch. Es blitzte in seinen Augen, und das Gesicht war weiß. »Ich hab so das Gefühl, daß sich Arne Samuelsen in unmittelbarer Nähe befindet. Daß er hier in Stavanger ist und eine Art – Blinde Kuh spielt, mit uns. Wenn wir ihn nicht finden, bevor er …« Er machte eine ausladende Armbewegung. »Irene Jansen, Laura Ludvigsen. Was ist mit Lächel-Hermannsen? Und was ist mit den anderen Gästen?«

Ich sah ihn an, und er sagte: »Ja, was ist mit den anderen, Veum? Wer waren sie? Hast du das vielleicht herausgefunden?«

Ich sagte: »Es waren noch zwei, stimmt’s? Zwei Männer? Und einer von ihnen trug einen Cowboyhut?«

»Aha?«

»Der einzige, den ich in Stavanger getroffen habe, der einen Cowboyhut trug, ist ein Typ namens Carl B. Jonsson, und der ist Sicherheitschef bei der Gesellschaft, bei der Arne Samuelsen angestellt ist.«

Er sah mich skeptisch an. »Du bist noch nicht lange hier, Veum. Ab und zu hab ich das Gefühl, daß halb Stavanger mit Cowboyhut herumläuft. Wie paßt dieser Jonsson ins Bild?«

Ich hob hilflos die Arme. »Keine Ahnung. Frag ihn.«

Er sah nachdenklich drein. »Auf Grund der Tatsache, daß er einen Cowboyhut trägt. Wenn er einen von seinen blöden Anwälten mitbringt, dann lachen die sich tot über uns, und andere mit. Ich muß was Konkretes haben, Veum – das verstehst du doch.«

Ich hob die Schultern. »Mehr hab ich nicht zu erzählen.«

Wir hörten eilige Schritte draußen auf dem Flur. Jemand klopfte heftig an die Tür und kam herein, ohne auf Antwort zu warten. Es war Lauritzen, der zurückkam. Er sah erregt aus. Er stammelte: »Sie – sie …«

Bertelsen und ich fragten im Chor: »Ja?«

Er schluckte und rang nach Luft. »Wir kamen hin. Keiner machte auf. Holten den Hausmeister. Es war – niemand da.«

»Niemand da?« wiederholten Bertelsen und ich wie aus einem Munde, wie in einer einstudierten Revuenummer.

Er redete jetzt in etwas vollständigeren Sätzen. Der Atem ging ruhiger. »Wir gingen durch die Wohnung. Im Wohnzimmer gab es Zeichen dafür, daß es einen Kampf gegeben haben könnte. Die Sessel standen durcheinander, und eine leere Blumenvase lag auf dem Boden. Und im Bad …«

»Ja?« wiederholten die Gebrüder Brothers monoton.

»Jemand hatte mit Lippenstift auf den Spiegel geschrieben, unten in der linken Ecke … Sir. Mit großen Buchstaben. SIR.«

»Sir?« wiederholte Bertelsen, allein dieses Mal. »Weiter nichts?«

»Es war ein merkwürdiger Kringel unten am R. Sie wurde sicher unterbrochen.«

»Sir?« sagte Bertelsen grübelnd vor sich hin. »SIR?« Er wandte seinen Blick wieder zu mir. Ich starrte stumm und nachdenklich zurück, ohne etwas zu sagen.