27
Die Gedanken schossen mir durch den Kopf. Elsa. Die Erinnerung an ihren Körper war noch lebendig. War es vielleicht das letzte Mal gewesen – für sie? Ich dachte an die Kerle, die draußen vor dem Haus gewartet hatten. Waren sie zurückgefahren – und hatten sich statt meiner sie gegriffen? Oder waren sie von Anfang an ihretwegen gekommen? Ich sah verstohlen auf die Uhr. Ich hatte eine Verabredung mit ihr um sechs Uhr. Das war erst in ein paar Stunden. Vielleicht würde sie kommen. Vielleicht hatte sie nur so zum Spaß SIR an ihren Badezimmerspiegel geschrieben. Vielleicht erinnerte es sie an etwas.
Bertelsen bat mich, Elsa zu beschreiben, und formulierte eine Fahndungsmeldung. Ich hatte ein flaues Gefühl im Körper, so als hörte ich meine eigene Beschreibung.
Ich starrte aus dem Fenster. Der Betrieb im Monopol war immer noch beachtlich. Es wirkte fremd und alltäglich zugleich, dort hineinzugehen, wieder herauszukommen, eine Flasche nach Hause zu tragen, nach Hause in ein graues, durchschnittliches Dasein, wo nichts Dramatisches mehr passierte, außer daß man Kaffee auf der Tischdecke vergoß.
Bertelsen räusperte sich zaghaft. »Tja. Dann bleibt wohl nichts mehr zu besprechen, Veum. Jedenfalls nicht im Moment.«
»Soll das heißen, daß ich gehen kann?«
»Ja. Hattest du etwas anderes erwartet?«
»Na ja, ich …« Ich hob die Schultern zur Antwort. Ehe ich die Tür erreicht hatte, hielt er mich mit einem erneuten Räuspern zurück.
»Und – Veum …«
Ich drehte mich um.
»Keine privaten Nachforschungen. Versuch nicht, deine Kleine allein zu finden.«
»Ich …«
»Du weißt nichts über ihr Verschwinden? Etwas, das du in der Eile zufällig vergessen hast, uns zu erzählen?«
Einen kurzen Moment lang sah ich die beiden Pinguine in dem großen Wagen vor mir. »Frag Ole Johnny«, antwortete ich.
»Ole Johnny? Wieso?«
»Das ist die einzige Verbindung, die ich mir denken kann.« Das sollte ihm genügen. Wenn ich ihm von den zwei Kerlen erzählte, die versucht hatten, mich zu überfahren, würde ihm nur schwindelig werden. Vielleicht war das der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringen würde, und ihn dazu, mich einzusperren – zu meiner eigenen Sicherheit. Und wenn es einen Ort gab, wo ich gerade jetzt nicht sein wollte, dann war es inmitten von vier Wänden und einer Stahltür. Ich hatte eine Verabredung, um sechs Uhr. Und ich würde auf jeden Fall dort sein.
Ich ging auf die Tür zu. Sie öffnete sich und ein Polizeiwachtmeister kam hereingerauscht. Er hatte einen Fernschreiberstreifen in der Hand. »Es ist wichtig«, sagte er atemlos und reichte Bertelsen den Streifen.
Ich blieb stehen und betrachtete Bertelsen. Er überflog den Text. Die Augen weiteten sich, und der Mund wurde schmal. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Die Neugier hatte gesiegt.
Er hob den Blick und sah mich an, »Aus Las Palmas. Sie haben Irene Jansen da unten festgenommen. Ein norwegischer Tourist erkannte sie anhand der Fahndungsmeldung.«
»Irene Jansen? Aber steht da – hat sie erzählt …?«
Er blickte rasch wieder auf den Papierstreifen. »Sie sagt, daß sie die Wohnung allein verlassen hätte. Daß sie nichts weiß. Daß sie diesen Aufenthalt auf den Kanaren schon lange geplant hatte und daß sie am Morgen danach gefahren sei. Wir werden es ja hören, wenn sie kommt. Sie schicken sie morgen in Richtung Norden. Aber scheißegal, was sie zu erzählen hat: Es gibt uns ein neues Rätsel auf.«
»Genau«, sagte ich. »Es sieht aus, als gäbe es zwei große Fragen in diesem Fall: nicht nur, wer den Mord begangen hat – sondern auch, wer eigentlich ermordet wurde.«
»Wer zum Teufel kann sie sein – die Frau im Kühlschrank?« Er sah mich fast hilflos an.
Ich lächelte ein zaghaftes, schiefes Lächeln. »Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich ruhig an. Ich geh jetzt. Ich hab eine Verabredung um sechs.«
Sein Blick wurde sofort mißtrauisch. »Ach ja? Mit wem?«
»Mit mir selbst«, sagte ich und ging rasch durch die Tür.
»Veum!« rief er hinter mir her.
Ich blieb im Flur stehen und wartete.
Er erschien in der Türöffnung. »Halt dich zur Verfügung, Veum.«
»Selbstverständlich«, sagte ich, nickte kurz und verließ das Haus.
Es war eine Pause zwischen zwei Regenschauern, und weißes Licht hing über der Stadt. Ich sah die Konturen der Häuser, die Strukturen der Wände, die Risse im Holz und die abgeschlagenen Backsteinecken ebenso deutlich, wie du die Falten siehst in einem Gesicht, das so nah ist, daß du es berühren kannst. Elsa – sie hatte nicht viele Falten, noch nicht. Aber sie war so nah gewesen, nur schien es schon eine Ewigkeit her zu sein.
Ich ging an Breiavatnet entlang zum Postamt in der Kaniksgate. Ich wechselte ein paar Scheine in Münzen um und suchte eine freie Telefonzelle. Auf der Ablage vor mir lag der Zettel mit den zwei Telefonnummern, beide in Bergen.
Als erstes rief ich Frau Samuelsen an. Es dauerte lange, bis sie abnahm, und ihre Stimme war dünn und müde. »Hallo?«
»Hallo. Hier ist Veum.«
»Oh.« Sie klang nicht sonderlich erfreut. Sie zögerte einen Moment. »Gibt es etwas – Neues?«
»Nein, ich – Sie haben nichts von ihm gehört?«
Der gleiche müde Tonfall. »Von Arne? Nein.«
»Aber die Polizei – sie sind bei Ihnen gewesen, nicht? Sie haben erfahren, was passiert ist?«
»Ja.«
Stille.
Ich brach sie: »Könnten Sie – könnte ich Sie ein paar Dinge fragen, Frau Samuelsen? Es – es könnte vielleicht von Bedeutung sein für – den Fall.«
»Die Polizei hat gesagt, daß ich nicht auf Fragen antworten soll. Von niemandem.«
»Sie dachten wohl an die Presse.«
»Sie nannten speziell Sie, Veum.«
»So? Aber woran ist ihr Mann gestorben?«
»Mein Mann? Warum – er …« Stille.
Nach einer Weile sagte ich: »Hallo?«
»Ja, ich bin noch da. Ich verstehe wirklich nicht, warum, aber wenn Sie absolut … An Krebs.«
»Ich kann verstehen, daß es schwer ist, darüber zu reden, aber – Ihre Tochter – sagten Sie nicht, sie sei nur ein halbes Jahr später gestorben?«
»Doch«, antwortete sie mit dünner Stimme.
»Was – …«
»Sie wurde getötet!« unterbrach sie mich scharf.
»Getötet? Wie?«
»Es war ein furchtbarer Unfall. Sie hatte keine Chance. Sie war auf der Stelle tot, und ihr – Freund – starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Das war auf der Straße zwischen Øytese und Kvanndal, und sie wollten eine Fähre erreichen. Sie waren viel zu schnell gefahren. Es war furchtbar – sie zu verlieren, so bald nachdem …«
»Ja, ich verstehe. Ich …«
»Ich kann jetzt nicht mehr reden, Veum. Bitte – rufen Sie mich nicht mehr an. Ich – ich werde Arne nie wieder sehen, da bin ich ganz sicher!« Sie brach in Weinen aus und legte auf. Ich stand da mit ihrem Weinen in der Hand und starrte den Hörer an. Dann legte ich vorsichtig auf, wie um sie nicht noch weiter zu verletzen.
Ich stand in der Telefonzelle und sah grübelnd vor mich hin. Es war nichts Mysteriöses an den beiden Todesfällen. Sowohl Arne Samuelsens Vater als auch seine Schwester waren, was man einen natürlichen Tod nennt, gestorben. Krebs und Verkehrsunfälle gehörten zu den häufigsten Todesursachen in diesem Land. Was war es also, was mich daran skeptisch machte?
Ich wählte die andere Nummer. Es war die meiner Freundin beim Einwohnermeldeamt. Wir hatten einen besonderen Umgangston, und als ich ihre Stimme hörte, sagte ich munter: »Du errätst nie, wer hier ist …«
»Der Geist aus der Flasche.«
»Und auch nicht, woher ich anrufe.«
»Woher denn?« Sie klang nicht sonderlich interessiert.
»Aus Stavanger. Kannst du ein paar Daten für mich prüfen?«
»Warum rufst du immer an, wenn ich am meisten zu tun hab, Varg? Kannst du nicht mal in den Weihnachtsferien anrufen?«
»Hör zu – es ist wirklich ein ernster Fall. Es dauert nicht lange.«
»Na gut … Worum geht’s?« fragte sie resigniert.
Ich bat sie, die Informationen zu prüfen, die ich über Familie Samuelsen hatte. »Kannst du zurückrufen?« fragte ich und gab ihr die Nummer.
»Gib mir eine Stunde«, sagte sie.
»Ich steh in einer Telefonzelle, und hier wird nichts serviert. Können wir nicht sagen: in fünf Minuten?«
»Ich hab auch noch was anderes zu tun.«
»Du bist eine wunderbare Frau.«
»Spar dir die Rosen für jemand anderen. Ich werd’ versuchen. Tschüß.« Sie knallte den Hörer auf.
Ich blieb in der Zelle stehen. In Wirklichkeit waren wir gute Freunde. Sie hatte eine Schwester, die fünf Jahre jünger und einer meiner erfolgreichsten Fälle gewesen war, damals, als ich in der Jugendfürsorge arbeitete. Sie rief nach zehn Minuten zurück.
»Hör zu«, begann sie sofort. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Ich hab eine Menge anderes zu tun, und deine Informationen sind sehr lückenhaft.«
»Ach ja?« sagte ich.
»Erstens: Wir haben keine Daten über einen Arne Samuelsen in der Familie. Der Mann starb ganz richtig 1972, aber die Tochter ist so lebendig wie du und ich.«
»Ach!« Mir wurde schwindelig. »Aber, hör mal – was … Welche Adresse hast du von der Tochter?«
»Die Heimatadresse. Dieselbe wie die der Mutter.«
»Und sie ist das einzige Kind – ganz sicher?«
»Ja, sag ich doch!«
»Aber wer zum Teufel ist dann dieser Typ, den die Mutter Arne nennt?«
»Bist du der Detektiv oder ich? Das mußt du selbst rausfinden. Vielleicht hat die Dame einen Liebhaber?«
»So jung? Wohl kaum. Gut, ich danke dir. Du hast nicht noch weitere Asse im Ärmel?«
»Nein – und schönen Sommer, Varg. Einen richtig schönen Sommer!«
»Schönen …«
Ich legte auf, in totaler Verwirrung. Ich stand an die Wand gelehnt in der warmen, stickigen Telefonzelle. Es flimmerte vor meinen Augen, und ich fühlte mich unwohl.
Ich verließ die Zelle und ging auf die Straße. Auf dem Gehsteig vor dem Gebäude blieb ich stehen und holte tief Luft. Dann bewegte ich mich langsam wieder in Richtung Hafen, am Theater und dem fächerförmigen Bahnhofsplatz vorbei und hinunter zu den Fußgängerampeln, der Unterführung und Alexander Kielland.
Draußen am Kai strömten Menschen zusammen. Nicht weit entfernt hörte ich eine Polizeisirene einsetzen. Ich verlängerte meine Schritte und ging schnell hinunter, eine unangenehme Vorahnung in der Brust.
Ich kam gleichzeitig mit dem Polizeiwagen an. Er rollte auf den Gehsteig und hielt am Rande der Menschenmenge. Ich nutzte die Chance und ging dicht hinter den beiden Polizisten durch die Menge zur Kaimauer. Jemand hatte einen an einer Leine befestigten Rettungsring ins Wasser geworfen. Das war sinnlos, denn der Mann im Wasser konnte nicht mehr nach dem kreisrunden, weiß-roten Ring greifen. Er trieb auf dem Rücken mit dem Gesicht nach oben. Das Gesicht war grau und fahl, und das schmutzige Wasser spülte immer wieder darüber hinweg. Trotzdem hatte ich keine Schwierigkeiten, ihn wiederzuerkennen. Der Mund rang nach Luft, die er nie wieder atmen würde, und er lächelte nicht. Es war ja auch nicht das Lächeln gewesen, was dem Mann namens Hermannsen den Beinamen Lächel beschert hatte.
Ich blieb stehen und sah auf ihn hinunter, während die Angst in meinem Bauch wuchs. Dann zog ich mich langsam von der Kaimauer zurück, rückwärts durch die Menschenmenge. Ich sah niemanden an, und als ich am Rand der Menge angelangt war, drehte ich mich um und begann, halb in Trance, wieder in die Stadt zurückzugehen.
Erst langsam, dann schneller.