56

Erst war es nur ein Gefühl. Sein Kopf pochte, er schien mit so viel Blut gefüllt zu sein, dass es Mike vorkam, als könnte er jeden Moment explodieren. Staub auf seiner Zunge. Ein Brett aus gepolstertem Plastik drückte gegen sein Gesicht und zog seine Gesichtszüge zur Seite. Mit jedem seiner rasselnden Atemzüge sog er den Geruch von Fäulnis ein.

Dann hörte er etwas, auch wenn die Geräusche zu ihm drangen wie durch einen Filter. Platschendes Wasser. Schlurfende Stiefel. Dann Williams Stimme. »Jetzt hab ich die Technik raus. Ich hab mir extra diese Anhörung im Senat noch mal angeschaut. Warum? Wie magst du es denn am liebsten?«

»Die Finger«, kam es von Dodge.

»Knöchel für Knöchel, wie Burt Reynolds in Sharky und seine Profis? Nein, ich finde, wir sollten diese Methode mal ausprobieren. Ich meine – das ist immerhin vom Militär perfektioniert worden.«

Nichts davon schien Mike zu betreffen, es kam ihm vor, als würde er ein altmodisches Hörspiel im Radio verfolgen, in dem fiktive Charaktere über fiktive Ereignisse redeten. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. So klein diese Bewegung war, sie jagte einen bohrenden Schmerz durch seinen Hinterkopf. Aber schließlich konnte er doch etwas sehen. Es fühlte sich an wie eine Wiedergeburt, wie er einen Sinn nach dem anderen zurückgewann.

Der Raum rotierte einen Moment um seine Achse, und langsam begriff Mike, dass er rücklings mit dem Kopf nach unten auf einer schrägen Liege lag. Das Gesicht hatte man ihm zur Seite gedreht. Es dauerte ein paar weitere Minuten, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten und die weißliche Scheibe scharf sehen konnten, die anderthalb Meter vor ihm schwebte und ihn anstarrte. Es war Hanks Gesicht, das eine äscherne Farbe angenommen hatte. Seine Lippen waren blutig und marmoriert und wie zu einem letzten Kuss gespitzt.

Der Name seiner Tochter brauste ihm durch den Kopf. Kat. Ich muss die Erinnerung an ihren Aufenthaltsort aus meinem Gehirn wischen, damit ich ihnen nichts sagen kann, egal, was sie mit mir machen.

Als er sich bewegte, schoss ihm Feuer durch den Brustkorb und die Arme. Seine gefesselten Hände waren ein gefühlloser Knoten in seinem Kreuz, und sein Schädel brüllte auf. Er bewegte die Handgelenke und nahm durch seine Benommenheit wahr, dass sich die Fesseln, die über sein rohes Fleisch rieben, wie Baumwollstoff anfühlten. Seine Oberschenkel brannten, und seine Waden und Füße steckten in irgendeiner Vorrichtung. Langsam aber sicher konnte er erkennen, dass er auf einer schrägen Sit-up-Bank lag.

Die Stimmen tönten weiter, wie ein leises Grollen. Standen Dodge und William hinter ihm?

Mit großer Anstrengung drehte er seinen Kopf, die dunkle Decke glitt vorbei, und dann blickte er in die andere Richtung. Er befand sich in einem Kellerraum, der nur von dem Licht erhellt wurde, das durch die offene Tür am Ende einer splitternden Holztreppe hereinfiel. Zwischen Mike und der Treppe stand Dodge, von dem man bloß einen Streifen von Schulter, Wange und Stirn sah. Nachdem Mike ein paar Mal geblinzelt hatte, konnte er den Keller noch ein wenig deutlicher sehen, und William löste sich aus der Dunkelheit neben dem großen Mann. Gerade hatten sie die Köpfe zusammengesteckt, um sich zu beraten. Mikes Blick blieb an dem viereckigen Stück Sackleinen hängen, das auf dem Zementboden lag und auf dem diverse Werkzeuge aufgereiht waren wie die Gerätschaften auf einem Tablett für medizinische Instrumente. Dahinter stand eine große altmodische Holzwanne von der Art, wie man sie auf Kindergeburtstagen benutzt, wenn ohne Einsatz der Hände Äpfel aus dem Wasser gefischt werden sollen. Das Wasser, das bis zum Rand darin stand, sah schwarz und furchteinflößend aus.

Staub tanzte in der Lichtsäule, die durch die offene Tür hereinkam.

»Oh, du bist ja wach.« William kam auf ihn zugehinkt. In jeder Hand hielt er einen leeren Plastikkanister.

Mike drehte den Kopf weg, die einzige Bewegung, zu der er in der Lage war, und prompt schaute er wieder Hank ins Gesicht. Sein Körper lag in einem verdrehten Winkel zu seinem Hals, eine Plastikplane bedeckte seine untere Körperhälfte. Ein Fuß ragte darunter hervor, und die fadenscheinige schwarze Socke wirkte irgendwie falsch in diesem Zusammenhang. Der Streifen schuppiger weißer Haut an Hanks Fußknöchel unterstrich den grausigen Anblick, die Vergänglichkeit menschlichen Lebens, das trotz allem Schweiß und aller Arbeit und allen noch so ausgeklügelten Plänen in einem fensterlosen Keller enden konnte, zur Hälfte in eine Plastikplane eingerollt.

Neben der Leiche lag eine weitere Plane, und Mike wurde klar, dass sie für ihn reserviert war.

Als er den Kopf wieder zurückdrehte, sah er Dodge, der sich gerade ein Frotteehandtuch um die Faust wickelte, über sich aufragen. Sein Hemd war aufgeknöpft und gab den Blick auf sein Feinrippunterhemd frei, das schon so abgetragen war, dass es fast durchsichtig schien. William ging in die Hocke, stöhnte kurz vor Schmerzen und begann dann die Kanister mit dem Wasser aus der Wanne zu füllen. Die Luftblasen erzeugten ein leises, comicartig gleichmäßiges gluck gluck gluck.

»Okay«, sagte Mike, der immer noch zu verstehen versuchte, was hier eigentlich los war. »Okay.«

William richtete sich wieder auf, in jeder Hand eine tropfende Flasche. Mike starrte zu den Gesichtern hinauf, die über ihm schwebten – das von Dodge leicht zurückgezogen, mit glänzenden Augen im breiten Gesicht, und daneben das von William, der leicht krumm stand, um seine rechte Seite zu entlasten, mit schütterem Barthaar und vorgeschobenen Lippen. Mike spürte, wie irgendetwas in seinem Inneren aufbrach und Hitze verströmte.

»Es ist schon Jahre her, dass ich zum ersten Mal von dir gehört habe«, erklärte William. »Von meinem Onkel Len. Du warst der Einzige, der davongekommen ist. Der Job. Aber der Boss hätte die Sache ruhen lassen. Der hätte nicht weiter gesucht. Dem war das irgendwann egal. Der dachte sich, egal, was für ein Leben du dir aufgebaut hast, du wirst dir sowieso nie zusammenreimen können, was da eigentlich abgegangen ist. Aber dann hat dein Kumpel Two-Hawks ins Wespennest gestochen und deinen Namen auf dem genealogischen Bericht gefunden. Der Boss hat Wind davon gekriegt und rate mal, was dann passiert ist? Na, prompt warst du wieder aktuell.«

Er trat näher. »Hier sind ein paar Hochglanzbilder von Ted Rogers, dem Typen, der die Unterlagen für Two-Hawks gestohlen hat.« Er zog ein paar Fotos aus der Tasche und hielt sie Mike vor die Augen. Die weiche rosa Haut eines Mannes mittleren Alters in verschiedensten Verrenkungen. William blätterte mehrere Bilder durch, die innerhalb derselben Kellerwände gemacht worden waren, bis Mike irgendwann den Kopf abwandte und würgte. William beugte sich über ihn und sein Atem strich Mike übers Gesicht. »Mein Onkel hat deinen Vater damals auch ein bisschen bearbeitet. Neben dem, was dein Vater damals durchgemacht hat, sieht das hier aus …« Er wedelte mit den Fotos. »… wie ein müdes Kitzeln. Aber weißt du was? Wozu soll ich lang rumreden, wenn ich’s dir doch einfach zeigen kann?«

Das Grauen kam über Mike wie eine gezähnte Klinge, die sich durch seinen Schock sägte.

»So«, sagte William sanft und Dodge senkte das Handtuch auf Mikes Gesicht.

Mike schnappte instinktiv nach Luft, aber das Handtuch klebte auf seinem Mund. Er spürte, wie William sich ganz nah zu ihm herabbeugte, und dann wurde der Stoff nass und schwer. Wasser lief ihm in die Nase, erst nur ein dünnes Sickern, dann drang es durch den Frottee und ließ gar keinen Sauerstoff mehr durch. Die Wirkung setzte sofort ein. Mike zuckte und schrie und schüttelte den Kopf, aber das Handtuch klebte auf seinem Gesicht wie ein nasser Film. Seine Lungen und seine Kehle verkrampften sich vergeblich. Als er gerade dachte, dass er das Bewusstsein verlieren würde, wurde das Handtuch von seinem Gesicht gezogen, und er schnappte keuchend und würgend nach Luft. Dodge starrte auf ihn herab, während das Wasser vom Handtuch auf den Boden tropfte.

Mikes Schultern knackten in ihren Gelenken, und er merkte, dass er sich in sitzende Stellung hochgestemmt hatte. Und dass er schrie. Zwei Beine der Sit-up-Bank erhoben sich kurz und knallten dann wieder auf den Zementboden. Es hörte sich an wie das Klappern von Pferdehufen auf Kopfsteinpflaster. Er knallte mit der Schulter auf den Boden und blieb erschöpft liegen. Die Schmerzen waren so überwältigend, dass er nur noch verschwommen sah.

Dodge bückte sich und hob Mike so mühelos hoch, als wäre er eine Einkaufstüte. Er legte ihn wieder auf die Bank und bewegte seine Beine und seinen Oberkörper mit effizientem Ernst, völlig von seiner Aufgabe in Anspruch genommen. Als Dodge seine Füße wieder durch die vorgesehenen gepolsterten Halterungen schob, bäumte Mike sich noch einmal auf, doch Dodge drückte ihm einen Daumen gegen den Brustkorb und beförderte ihn wieder in Rückenlage. Das Blut flutete Mike erneut in den Kopf. Sein Brustkorb hob und senkte sich mühsam unter dem Druck.

Schließlich war Dodge mit Mikes Füßen fertig und nahm den Daumen weg. Mike schnappte nach Luft. Seine Rippen schmerzten.

»Du hast Informationen, die du nicht mit uns teilen willst, stimmt’s?«, begann William. »Also müssen wir sie aus dir rausholen. Das wird nicht einfach – weder für dich noch für uns. Das müssen wir jetzt einfach zusammen durchstehen.«

Mike machte ein ersticktes Geräusch.

Williams Augen zuckten hin und her, als wäre sein Blick unstet, auch wenn er es nicht war. »Wo ist Katherine?«

»Ich weiß nicht, wo sie …«, sagte Mike.

William kniete sich mit einer schmerzlichen Grimasse vor die Wanne. Gluck gluck gluck – der Klang der zweiten Runde.

Es war vorbei, das wusste Mike. Er würde sterben. Er musste nur noch einen Weg finden, wie er sie dazu bringen konnte, ihn zu töten, bevor sein Durchhaltevermögen am Ende war. Vor seinem inneren Auge sah er Kat, wo er sie zurückgelassen hatte, wie sie auf der kleinen Bank hinter dem Haus der Pflegemutter saß, und wie ihre aufgegangenen Schnürsenkel den Boden streiften. Bitte, Daddy.

»Wir wissen, dass du sie irgendwo in Sicherheit bringen wolltest«, sagte William. »In irgendein Versteck. Aber für den Boss ist es wichtig, dass ihr beide von der Bildfläche verschwindet, sowohl du als auch sie.«

»Shep hat eure Adresse von Graham gekriegt«, sagte Mike. »Wenn ich mich nicht bei ihm melde, wird er die Bullen rufen und hier aufkreuzen.«

William schüttelte enttäuscht den Kopf. Dann nickte er leicht, und das Frotteehandtuch landete wieder auf Mikes Gesicht. Sein panisches Einatmen saugte das Handtuch in die Mundhöhle und in die Nasenlöcher, doch dann flutete das Wasser wieder über sein Gesicht und ertränkte ihn halb, bis er sich nur noch lautlos krümmen konnte. Seine Schenkel brannten in den Beinhalterungen, aber als er versuchte, sich aufzurichten, drückte Dodges Daumen ihn wieder nach unten. Er spürte Feuer und Agonie, und der nasse Stoff klebte an ihm wie ein Seegetier, das einen stetigen Strom von Wasser in ihn abgab und ihm das letzte bisschen Atem in die Kehle zurückdrängte.

Schließlich schmeckte er wieder Sauerstoff und spürte das Licht auf seinem Gesicht. Seine Lider flatterten, als William sich über ihn beugte und ihm seinen sauren Atem über die Wangen blies.

»Autsch, ich weiß, Kumpel. Tut mir leid. Ich weiß.« William musterte ihn aus nächster Nähe und sein Gesicht sah so sanft aus, als hätte er tatsächlich Mitgefühl. »Aber weißt du, ich bin ein Fachmann. Ich habe schon viele Menschen an den Rand des Erträglichen getrieben. Ich hab das alles schon mit angesehen. Und du nicht. Deswegen weiß ich auch, was für Geschichten sie dann erzählen und was für Lügen sie sich ausdenken. Weißt du, da steckt ein richtiges Muster dahinter. Die falschen Antworten, das Geld, das sie einem versprechen, der Freund, der die Polizei alarmieren wird.«

»Okay …«, keuchte Mike. »Ich hab gelogen, was Shep angeht.«

»Wo ist Katherine?«

»Ich … Ich weiß es nicht.«

William hob einen vollen Kanister. »Bereit für die nächste Runde?«

»Nein«, sagte Mike. »Nein nein nein.«

Aber sie kam trotzdem. Das Wasser, das ihm gleichmäßig durch die Nase floss, das erstickte Würgen und Schnappen, das blinde Kopfschütteln – eine Hölle aus Feuer und Schwefel, die wie aus einem längst vergangenen barbarischen Zeitalter geholt schien.

Irgendwo zwischen lautlosem Schreien und drohendem Bewusstseinsverlust schaltete sich plötzlich der Instinkt ein, den er seit seiner frühesten Kindheit gepflegt hatte, der Instinkt des Loslassens und Distanzierens.

Er glitt aus sich heraus und beobachtete das Geschehen von außen. Er machte sich selbst unempfindlich. Er war eine Ansammlung von Einzelteilen, von Knochen und Fleisch. Er war ein Fels. Ohne Gedanken. Ohne Gefühle.

Als Dodge das Tuch wieder von seinem Gesicht ziehen wollte, biss Mike sich darin fest, und es riss leicht ein. William lachte. »Beißt er da rein, oder was?« Im nächsten Moment traf Dodges Faust Mikes Stirn wie ein Rammbock, und der Stoff wurde ihm aus den Kiefern gerissen.

»Sind wir ein bisschen kampflustig, hm?«, fragte William.

Mike spuckte und sabberte Wasser. Da er mit dem Kopf nach unten lag, lief es ihm die Wangen hoch, über die Augen, durchs Haar und tropfte von dort auf den Zementboden.

»Wo ist deine Tochter?«, fragte William.

»Ich habe keine Tochter«, sagte Mike, und irgendetwas in seiner Stimme ließ William zurückweichen. Vor Schock oder vielleicht sogar ein wenig Respekt.

Dodge runzelte ungeduldig die Stirn, und William nickte. Ein übler Gestank drang auf Mike ein, und im ersten Moment dachte er, dass er sich in die Hose gemacht hatte. Doch dann wurde ihm klar, dass es der Verwesungsgeruch von Hanks Leiche war, der in der feuchten Kellerluft rasch stärker wurde.

Sie absolvierten noch eine Runde. Und noch eine. Er wäre lieber gestorben, und genau das war die Absicht, die dahintersteckte – ihn so weit zu bringen, dass er um die erlösende Kugel flehte.

Als er das nächste Mal wieder zu sich kam, atmete er, aber William und Dodge standen mit verschränkten Armen vor ihm, und Williams Miene sprach von einem Frust, der Mike unter anderen Umständen gefreut hätte. Das Handtuch hing in Dodges Hand wie ein Geschirrtuch, und Mike stellte befriedigt fest, dass es an mehreren Stellen eingerissen war. Er musste noch ein paar Mal kräftig zugebissen haben. Der Geruch von Hanks Leiche war mittlerweile noch schlimmer geworden und mischte sich in dem luftlosen Raum mit dem Gestank von Schweiß und Angst. Mike lag auf der Trainingsbank und hustete Wasser aus Mund und Nase. Seine Kehle war wund, sein Brustkorb ein einziger ununterbrochener Schmerz. Seine auf dem Rücken gefesselten Arme waren taube Pfähle.

Dodge holte zwei Zigaretten aus der Tasche und steckte sie sich zwischen die Lippen. Dann fischte er ein billiges Plastikfeuerzeug aus seiner Hemdtasche und steckte die Zigaretten an, wobei er gewohnheitsmäßig den Kopf schräg legte und eine schützende Hand vorhielt. Eine davon reichte er William, der die Augen schloss, als er einen langen Zug nahm.

»Verdammt, hier drinnen stinkt’s vielleicht.« William wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. »Wir sollten uns lieber noch mal kurz mit dem Boss kurzschließen, bevor wir einen Schritt weitergehen.« Sein linkes Bein zitterte. »Ich hol mal schnell das Handy.«

Er quälte sich die Treppe hoch und kam wenige Minuten später zurück. Sein Gang war von den Mühen des Treppensteigens noch schlimmer geworden. Er zog seinen Sichelfuß nach. Als er bei Mike war, ging er in die Hocke und hielt ihm das Telefon ans Ohr.

»Sie ist in einem Pflegeheim, stimmt’s?«, hörte man Brian McAvoys glatte Stimme.

»Wer?«, fragte Mike. Die Silbe fühlte sich an wie eine Klaue, die ihm über die Kehle fuhr.

McAvoy lachte. »Was glauben Sie eigentlich? Bei dem Geld, das hier auf dem Spiel steht, werden wir jedes Pflegeheim in diesem Staat auf den Kopf stellen. Und dann gehen wir weiter zum nächsten Staat. Und dann zum nächsten.«

»Es geht also bloß ums Geld?«, fragte Mike.

»Glauben Sie etwa, ich wäre nur ein Casino?«, fragte McAvoy. »Ich bin eine Nation. Ich habe etwas erschaffen, wo vorher nichts war. Meine Tochter hat ihre Initialen in die erste Stufe geritzt, als wir das Fundament gelegt haben. Ich weiß, dass Sie Ihr Leben und das Leben Ihrer Tochter für furchtbar wichtig halten. Aber wenn es um die Grundlagen einer Nation geht, nimmt man schon einiges an Kollateralschäden in Kauf. Es gibt keine andere Wahl. Daran bin ich nicht mehr schuld als Sie. Oder Katherine. Also kommen Sie, wir wollen diese Angelegenheit hinter uns bringen wie Männer. Männer, die eine Entscheidung zu treffen haben. Hier ist mein Vorschlag: Sie verraten uns, wo sie ist, und wir werden es human machen. Jetzt für Sie. Und, was noch viel wichtiger ist: auch für Ihre Tochter.«

Mikes flache Atemzüge strichen über den Hörer. »Nein.«

»Wir finden sie so oder so. Wenn Sie sich jetzt richtig entscheiden, ersparen Sie ihr bloß das verängstigte, jämmerliche Dasein, das sie führen wird, bis wir sie gefunden haben.«

»Nein.«

»Was haben Sie denn dann vor?«, fragte McAvoy. »Wollen Sie meine zwei Jungs überdauern?«

»Ja.«

»Sie durch schiere Willenskraft in die Knie zwingen?«

»Klar«, sagte Mike.

Brüllendes Gelächter. McAvoy hätte gern verächtlich geklungen, aber es schwang auch ein Hauch von Überraschung mit. »Und dann?«

»Sind Sie als Nächstes dran«, sagte Mike.

Eine lange Schweigepause. Dann hörte er McAvoy: »Sagen Sie William, dass ich ihn sprechen will.«

Mike wandte den Kopf. »Will … dich … sprechen.«

William stand auf, hielt sich das Telefon ans Ohr und sagte mit der Zigarette zwischen den Lippen: »M-hm. M-hm. M-hm.«

Dann klappte er das Handy zu und warf es Dodge zu, der es in die Tasche seiner Cargohose gleiten ließ. Die beiden tauschten einen Blick, dann ging Dodge in die Hocke, hob den Schlosserhammer von seiner Unterlage auf und schlug sich damit locker in die riesige Handfläche.

»Warum entsorgst du nicht erst unseren Kumpel da drüben?«, schlug William vor. »Von dem tränen mir langsam schon die Augen.«

Dodge schlurfte zu Hank, wickelte seine Leiche noch ein paar Mal in die Plane und wuchtete ihn sich auf die Schulter. Mike starrte auf die zweite Plane, die er in nicht allzu ferner Zukunft beanspruchen würde.

»Lass mir das Handtuch da«, sagte William.

Dodge warf es ihm zu, und William hielt es sich vors Gesicht, so dass seine kleinen Augen und der schüttere Bart durch die Löcher zu sehen waren. Er blies den Zigarettenrauch durch den Stoff und sagte: »Das hier wird nicht mehr funktionieren.«

Dodge setzte Hanks Leiche schwungvoll ab. Sie landete so hart auf dem Boden, dass die Sit-up-Bank vibrierte. Dann zog er sein Hemd aus, tauchte es in die Wanne. Seine Schultern und sein Bizeps wölbten sich unter dem Feinrippunterhemd. Auf dem Weg zurück zu Hanks Leiche ließ er das tropfnasse Hemd auf Mikes Gesicht fallen.

Dunkelheit. Mike hatte noch schnell einatmen können, bevor sich das Hemd über ihn legte, und er kämpfte mit Mund und Zunge gegen den nassen Stoff und bewegte ihn hin und her. Das Atmen fiel ihm zwar schwer, aber solange kein weiteres Wasser durch den Stoff lief, konnte er zumindest ein wenig Luft holen.

Williams Stimme drang zu ihm herab. »Ich frag mich, ob du wohl meinen Bruder treffen wirst, wenn wir mit dir fertig sind. Wenn ja, sag ihm bitte, dass es mir leidtut. Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen, so wie er auf mich aufgepasst hat. Sag ihm, dass wir dich geschickt haben.«

Mike hörte die schweren Tritte von Dodges Stiefeln auf den Stufen, während er die Leiche nach oben trug. Dann hörte er Williams Knie knacken, als er in die Hocke ging und erneut gluck gluck gluck die Kanister befüllte. Von oben hörte man leise das Klingeln eines Telefons, dann die kreischenden Geräusche eines Faxgeräts. Einen Moment später tönte Dodges Stimme von oben herunter – »Schau mal« – und etwas Weiches fiel auf den Kellerboden. Man hörte das Rascheln von Papier, das auseinandergefaltet wird, dann lachte William schrill auf.

»Wow«, sagte William. »Nun schau sich einer das an. Okay, kümmer du dich um die Leiche, und ich bring unseren Freund hier auf den neuesten Stand, und dann sehen wir zu, dass wir die Sache hier über die Bühne bringen.«

Schwere Schritte über ihnen, dann knallte eine Fliegengittertür zu. Mike manövrierte das Hemd weiter in Position. Seine Zähne verbissen sich in den Stoff, er stieß kräftig den Atem aus und konnte wieder ein paar Tröpfchen Luft einsaugen. Dann machte er wieder weiter und bewegte das Hemd zentimeterweise über sein Gesicht.

Eine Singsangstimme. »Hier, schau mal, ich muss dir was zeigen.« Noch ein Lachen. »Sieht aus, als hätte ein Polizist, der mir noch einen Gefallen schuldig ist, tatsächlich Glück gehabt. Der hat ein kleines Mädchen gefunden. In einem Pflegeheim. Er war so nett, mir ein Foto durchzufaxen, damit wir ihm die Identität bestätigen können. Bevor wir … du weißt schon, bevor wir uns aufmachen und die ganze Strecke nach … Arizona fahren.«

Die Hitze breitete sich in Mikes Brustkorb aus und brandete ihm in alle Gliedmaßen. Ein nadelartig stechendes Gefühl von Panik, in die sich blanke Wut mischte. Bilder von Dodge und William flackerten durch seine Dunkelheit – wie sie in ihrem Pick-up angefahren kamen. Wie sie Kat vom Spielplatz entführten. Wie ihr kleiner Körper kämpfte und sich in Panik wand. Er zwang sich, sich wieder auf das nasse Hemd zu konzentrieren. Die ersten Tropfen fielen auf den Stoff und vergrößerten den Druck auf seine Nase, dann floss das Wasser in einem stetigen dünnen Strahl. William spielte mit ihm. »Na, willst du’s sehen?«

William griff nach dem Hemd, dann verschwand das Gewicht von Mikes Gesicht. Ein Grinsen um eine Zigarette. »Ta-daaa!«

Mike erhaschte einen Blick auf das auseinandergefaltete Fax in Williams Hand – ein Foto von Kat im Garten des Pflegeheims. Das Bild war nachts gemacht worden, das Blitzlicht war grell und Kat erschrocken zurückgewichen. Ihre Haut wirkte kränklich weiß im hellen Licht.

Mike atmete durch die Nase. Seine Nasenflügel blähten sich, sein Mund hielt die scharfe Flüssigkeit zurück, die ihm auf der Zunge brannte.

Der Zigarettenrauch waberte neben Williams Gesicht hoch, als er einen Blick auf den kleinen Gegenstand warf, der mit einem klackernden Geräusch aus dem nassen Hemd auf den Boden gefallen war.

Ein billiges Plastikfeuerzeug.

Aufgebissen.

Die Spitze seiner Zigarette glühte auf, als er erschrocken einatmete, und William hob gerade den Blick, als Mike sich zu einem verzweifelten Sit-up aufbäumte und ihm einen Sprühregen aus Feuerzeugbenzin ins Gesicht blies.

Die Glut sprühte Funken und glühende Stückchen flogen William in die Augen und in den Bart. Eine Seite seines Gesichts fing Feuer, Haarbüschel verbrannten knisternd und verbreiteten einen stechenden Geruch. William schrie, ein hohes, schrilles Aufheulen, dann stolperte er blindlings zur Wanne. Das brennende Fax flatterte hinter ihm durch die Luft.

Mike brauchte all seine Kräfte, um aufrecht sitzen zu bleiben, bis William seinen Kopf in die Wanne steckte. Dann ließ sich Mike von der Bank fallen und landete auf Williams Schultern. Die Bank kippte mit ihm um, weil er mit einer Wade an der Beinhalterung hängen geblieben war.

William schüttelte sich und kämpfte, während Mike alles daransetzte, ihn mit seinem Gewicht niederzuhalten, damit Williams Kopf unter Wasser blieb. Doch ohne die Hilfe seiner Arme konnte Mike ihn nur für eine begrenzte Zeit festhalten. Dann arbeitete sich William unter ihm heraus und blieb spuckend und stöhnend auf dem Rücken liegen. Mike rollte sich ebenfalls von der Wanne und zu dem Stoffstück mit dem bereitgelegten Werkzeug. Während ihm die Stofffesseln in die Handgelenke schnitten, tastete er hinter seinem Rücken nach den Werkzeugen und ließ die Finger nervös über Metallstäbe und Gummigriffe gleiten. William wand sich auf dem Boden, hielt sich die Augen und zappelte verzweifelt. Da stach Mike irgendetwas in den Finger, und er griff erneut danach und versuchte die Klinge festzuhalten, obwohl sie ihm den Daumenballen aufschnitt. Mit äußerster Willenskraft setzte er sich über das taube Gefühl in seinen Fingerspitzen hinweg und drehte das Messer so, dass er die Klinge über seine Fesseln bewegen konnte. Panisch zuckte sein Blick zwischen William und der Kellertür hin und her.

Inzwischen hatte sich William wieder in sitzende Position hochgehievt. Seine Zähne sahen aus wie ein heller Streifen, den man aus rotem Fleisch und schwarzem, gelockten Haar herausgegraben hatte. Er rappelte sich auf die Füße und taumelte auf Mike zu.

Der schaukelte mit dem ganzen Oberkörper vor und zurück, um die Bewegung der Klinge zu unterstützen. Seine verkrampften Hände konnten das Messer nur noch mit letzter Kraft festhalten. Er begriff, dass die Zeit nicht mehr ausreichte, um die Fesseln ganz durchzuschneiden, denn William war fast schon über ihm, also rollte er zur Seite, zog die Beine so weit wie möglich hoch und versuchte, seine gefesselten Handgelenke unter den Füßen hindurch nach vorne zu bugsieren. Die Stofffesseln blieben an seinen Schuhsohlen hängen, und er zog fester, bis seine Hände freikamen und nach vorne schossen. Er konnte sich gerade noch auf die Füße rappeln, bevor William mit der Faust ausholte.

Mike duckte sich unter dem Schlag weg, packte dann die Rückseite von Williams Hemd und riss es nach oben und über seinen Kopf, um ihm die Arme zu blockieren – ein alter Pausenhof-Trick. Dann presste er seine Fäuste zusammen und drosch damit auf Williams Gesicht ein. Ein blutiges Band rollte über den Beton, und William ging über dem Stoffstück auf alle vieren. Mike zerrte seine Arme auseinander, so fest er konnte, und tatsächlich gaben seine Fesseln mit einem nassen Reißen nach, gerade als William sich hochstemmte und Mike ein Messer in die Seite stieß.

Die Bewegung war lautlos und geschmeidig gewesen. Kein Schmerz, nur Druck, wie ein Hai, der durchs Wasser schießt.

Und dann drehte William die Klinge um.

Das Gefühl hatte etwas Elektrisches. Mike krümmte sich wie ein Fisch am Haken und der Schmerz schoss ihm so heiß und intensiv durch die linke Körperseite, dass er einen Moment glaubte, er hätte irgendwie Feuer gefangen.

Er stolperte einen Schritt zurück, dann noch einen. William ging mit ihm, das Messer immer noch in der Hand. Die verkohlten Bartreste um seine Lippen bewegten sich flatternd unter seinen Atemzügen. William stach erneut zu, und Mike machte einen Satz rückwärts, woraufhin der elektrische Schmerz wieder lebendig wurde und ihm einen lauten Aufschrei entlockte. Mike nahm seinen Gürtel aus der Hose und wickelte sich das weiche Ende um die Faust. Als William den nächsten Angriff startete, wich Mike aus und schlug mit der Gürtelschnalle zu, die William seitlich auf den Kiefer traf und ihn so schnell und heftig nach vorne schnellen ließ, dass sein linkes Bein nicht rasch genug ausgleichen konnte. Er stolperte und fiel auf ein Knie.

Rasch fädelte Mike das Gürtelende wieder durch die Schnalle und streifte William die entstandene Schlinge über den Kopf. Er riss an der improvisierten Leine und schleifte den würgenden und schreienden William über den Boden bis zu dem ausgebreiteten Stoffstück mit den Werkzeugen. Doch kurz vor seinem Ziel ging er selbst in die Knie, zum einen, weil William heftigen Widerstand leistete, zum anderen, weil ihm der schneidende Schmerz seiner Stichwunde zu schaffen machte. Williams Hände tasteten sich zu seiner Kehle und lockerten den Gürtel. Als er sich umdrehte, um Mike einen Schlag zu versetzen, griff der sich das erstbeste Werkzeug, das ihm in die Hände fiel, einen Schlitzschraubenzieher, und rammte ihn seitlich durch Williams linkes Knie. Der spröde Knochen zersplitterte und William heulte auf. Die Venen an seinem Hals traten hervor, als er sich hustend und heulend auf dem Boden krümmte.

Es dauerte einen Moment, bis Mike sich hochrappeln konnte. Er stieg über William hinweg und ging auf die Treppe zu. Sein Ellbogen streifte die Wunde und das Blut strömte ihm außen am Bein herunter. Er hinterließ einen dunkelroten Fußabdruck auf der untersten Stufe. Nach ein paar Schritten verlor er fast das Bewusstsein und musste seine blutigen Knöchel gegen die Wand stemmen, um das Gleichgewicht zu halten.

Er setzte sich auf eine Stufe und driftete einen Augenblick zurück in die Shady Lane. Charles Dubronski mit seinem dicken Tyrannenkopf auf dem untersetzten Hals wartete in der Dunkelheit, aber diesmal grinste er nicht höhnisch auf Shep herunter, sondern auf Mike. Bleib liegen, du Zwerg. Bleib liegen.

Irgendwie hatte Mike nun auch noch die letzten Stufen geschafft und stolperte in die verdreckte Küche, wo er schockiert feststellte, dass bereits das erste Tageslicht durch die staubigen Fenster fiel. Der Gestank nach altem Fett schnürte ihm die Kehle zu. Jede Oberfläche war bedeckt mit verfaultem Obst, Töpfen und Tablettenschachteln – schrecklich vielen Tablettenschachteln. Aber weit und breit kein Dodge. Das Haus fühlte sich leer an, die Wände verströmten eine Alte-Damen-Atmosphäre. Geblümte Tapeten, die sich stellenweise von der Wand lösten. Alte Fotos in rosa Porzellanrahmen. Ein Strauß aus künstlichen Blumen, auf dessen karierter Schleife der Staub schon richtige Krusten bildete. Mike stieß gegen den Tisch, so dass diverse Zettel durch die Luft segelten, und rannte einen Stapel alter Zeitungen um. Sein Batphone lag zerlegt auf dem Tisch. Den Fragen nach zu urteilen, die sie ihm gestellt hatten, waren sie nicht in der Lage gewesen, sich die gewünschten Informationen aus seinem Handy zu beschaffen. Er drehte seinen bleischweren Kopf und hielt Ausschau nach einem anderen Telefon. Da entdeckte er ein Ladegerät, das noch eingesteckt war, und ihm fiel wieder ein, wie Dodge sich vorhin ein Handy in die Tasche geschoben hatte. Keuchend lehnte er sich an die Arbeitsplatte und kam dabei auf Augenhöhe mit einem Faxgerät, das auf einer kaputten Mikrowelle thronte.

Es hatte keine Telefonfunktion, aber auf dem Blatt im Papiereinzugsschacht stand Mikes Sozialversicherungsnummer und wieder einer dieser seltsamen Codes – FST14U. Er griff nach dem Blatt und hinterließ dabei blutige Schmierer. Darunter lag noch ein weiteres Blatt, mit einer weiteren Sozialversicherungsnummer – wahrscheinlich Hanks – und einem weiteren Code: 6D8BG. Soweit Mike überhaupt noch denken konnte, dachte er: Das war’s dann also.

Williams Stöhnen drang aus dem Keller zu ihm, aber der konnte unmöglich aufstehen und fliehen. Als Mike sich zum Gehen wandte, entdeckte er in dem ganzen Papierchaos auf dem Küchentisch auch den großen grauen Umschlag, den Two-Hawks ihm gegeben hatte. Der Inhalt war halb herausgezogen worden, so dass man den Stapel mit den kopierten Seiten aus McAvoys handschriftlicher Buchhaltung sah. Er befahl sich, das Kuvert an sich zu nehmen, und eine Minute später gehorchte er sogar. Er stolperte über die zerbröselnden Fliesen im Flur und hinaus in den strahlend hellen Tag. Er stand auf einer Bergkuppe, eine große Wiese erstreckte sich vor ihm und der Wind pfiff ihm um die Ohren. Auf der anderen Seite des Hügels lag ein Schrottplatz, von dem das tiefe Dröhnen von Maschinen herüberdrang, begleitet von einem hellen Geräusch wie von einem Schmiedehammer.

Er verlor den Halt auf der Verandatreppe und klammerte sich ans Geländer, wobei er befürchtete, dass seine Eingeweide gleich aus ihm herausquellen und auf der rostroten Erde landen könnten. Doch dann fand er sein Gleichgewicht wieder und ging vorsichtig, wie über ein Drahtseil, durch das offene Tor zum Schrottplatz. Seine Kehle und seine Nase brannten immer noch, salzige Nässe biss ihm ins wunde Fleisch. Er spuckte eine Mischung aus Blut und Feuerzeugbenzin aus. Das Gewicht des Umschlags, den er in der linken Hand hielt, erinnerte ihn jede Sekunde an seine Stichwunde.

Der Weg wollte kein Ende nehmen, und der Wind frischte auf und hörte sich an wie eine Meeresbrise. Am Himmel erschienen violette Flecken, und der Glanz der Sonne verwandelte sich in einen fünfzackigen Stern. Das hell hämmernde Geräusch brach nicht ab – da schlug Metall auf Metall – und während das mechanische Dröhnen lauter wurde, identifizierte Mike es als irgendeinen großen Dieselmotor.

Er trat auf den Schrottplatz, schmeckte den Rost, der in der Luft lag, und folgte dem kling kling kling durch zwei Reihen von Autos, die bereits in der Schrottpresse zu Würfeln gepresst worden waren und hier so hoch gestapelt waren, dass sie den Zaun überragten. Dann trat er auf eine freie Fläche. Sein einer Arm war taub, seine Beine zitterten.

Ein riesiger Kran mit einer elektromagnetischen Hebevorrichtung ragte vor ihm auf, und man sah, dass der riesige runde Lasthebemagnet am Ende des Kranbaums gerade genutzt worden war, denn er schwang immer noch leicht hin und her. Unten wartete ein zerbeulter, rostiger Kombi, der sich vor dem Kran ausnahm wie eine Ameise vor einem erhobenen Stiefel. Das altmodische schwarz-gelbe Nummernschild hing gerade noch an seiner Halterung – FST14U – der Code, der auf dem Fax in der Küche neben Mikes Sozialversicherungsnummer gestanden hatte. Mike hatte einen kurzen Aussetzer und starrte auf das Nummernschild, während die Hitze der Erde durch seine Schuhsohlen drang. Da riss ihn neuerliches Hämmern aus seinem Trancezustand.

Er lief weiter auf das Geräusch zu, das von einer alten Schrottpresse kam, die von oben beladen werden musste – eine Kreuzung aus einem riesigen Müllcontainer und einer Bärenfalle. Ein dickes Kabel verlief über die Erde und verband die beiden Maschinen, so dass ein Mann die Schrottpresse direkt aus der Krankabine bedienen und so die Arbeit auf dem Schrottplatz auch ganz allein besorgen konnte. Aus der Presse ragten Dodges massive Schultern auf. Er schlug mit seinem Schlosserhammer auf ein Metallstück ein, dass er aus den metallenen Kiefern der Presse befreien wollte.

Mike, der keine zwanzig Meter entfernt war, blieb wie angewurzelt stehen. Aber Dodge achtete gar nicht auf seine Umgebung, die vom Dröhnen des Kranmotors und den Schlägen seines Hammers ohnehin ausgeblendet wurde. Irgendwann war er offenbar zufrieden mit dem Ergebnis seiner Bemühungen, hörte auf und bückte sich, so dass er hinter den hohen Seitenwänden der Schrottpresse verschwand. Einen Moment später kam er wieder in Sicht und hatte sich Hanks Leiche über die Schulter geworfen. Erst rückte er das Gewicht zurecht, dann ließ er den Körper wieder hinuntergleiten. Dann stützte er die Hände in die Hüften, versuchte wieder zu Atem zu kommen und betrachtete sein Werk.

Mike warf den grauen Umschlag zur Sicherheit durch das offene Rückfenster des Kombis, wobei die Blätter herausfielen und sich über den ganzen Rücksitz verteilten. Er stolperte um das Heck herum, stieg über die Reifenspuren, die sich in die lose Erde gegraben hatten, und taumelte direkt hinter Dodge vorbei und zum Kran. Seine eine Körperseite war ganz warm, und in seinem linken Schuh quatschte es nass bei jedem Schritt. Er musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien, als er sich in die Kabine hochzog und dabei seine Wunde noch ein Stück weiter aufriss. Sein Hemd, das ihm blutverkrustet am Körper klebte, fühlte sich schwer an, und seine Schmerzen, als die Krankabine rumpelnd nach oben fuhr, waren mörderisch.

Von seinem höheren Aussichtspunkt konnte er von oben in die Schrottpresse blicken und sich zusammenreimen, was passiert war. Dodge hatte ein Auto – einen Käfer Baujahr ’68, wie das Nummernschild behauptete – in die Presse gelegt, aber es hatte sich verkeilt, so dass der Wagen beim Pressen in Schräglage geraten war und die Leiche plötzlich zur Hälfte aus dem zerbrochenen Fenster ragte. Dodge war in die Schrottpresse geklettert, um das verkeilte Auto wieder freizubekommen und die Leiche ins Wageninnere zurückzuschieben.

Mike griff nach dem Armaturenbrett und legte den Finger auf den durchsichtigen Plastikschutz, der den roten Knopf abdeckte. Unten drehte Dodge sich jetzt endlich um. Er stand hüfttief im riesigen Korb der Presse, seine Beine irgendwo im zerbeulten Schrott des schon halb zusammengepressten vorderen Radlaufs. Ihre Blicke trafen sich durch zwanzig Meter staubige Sonnenstrahlen.

Mike drückte den Knopf.

Die hydraulischen Zylinder erwachten brummend zum Leben, und die Presse begann sich zusammenzuziehen. Wie ein betäubtes Tier, überlegt und ohne jede Panik, bewegte sich Dodge zum Rand, um aus der Presse zu klettern. Doch auf einmal erstarrte er: Offensichtlich hatte er sich einen Fuß in einer Metallkante eingeklemmt. Während er seinen ausdruckslosen Blick auf Mike richtete, begann er nach unten zu rutschen, ohne Jammern oder Protest, er rutschte immer weiter nach unten, bis nur noch eine Hand zu sehen war, die nach oben gereckt war, als wollte sie nach einem Rettungsring greifen. Sie erzitterte einmal kurz, dann verschwand sie langsam nach unten im zerdrückten Metallhaufen.

Mike blieb über das Armaturenbrett gebeugt sitzen und drückte sich eine Hand in die Wunde. Stellenweise wurde ihm schon schwarz vor Augen, und auf einmal kam ihm in den Sinn, wie wunderschön es jetzt wäre, sich einfach schlafen zu legen. Er blinzelte immer langsamer.

Da nahm er eine schwache Bewegung in seinem schwarz-weiß-gefleckten Blickfeld wahr, und er blinzelte angestrengt, während er durchs Kabinenfenster schaute.

William.

Er zog sein linkes Bein nach. Der Schraubenzieher steckte immer noch in seinem kaputten Knie, aber er robbte mit Hilfe seiner Unterarme voran und machte unregelmäßige Fortschritte. Sein Gesicht schrammte über den Boden, sein Mund und seine Nase waren voller Staub.

Mike starrte das Bild vielleicht eine volle Minute lang ungläubig an. William setzte einen Arm vor den anderen und kroch an den Reihen der zusammengepressten Autos vorbei, bis er den kleinen freien Platz erreichte. Ab und zu hielt er inne, um wieder zu Atem zu kommen, wobei sein Kopf auf dem Joch seiner Schultern wackelte. Mikes Hände zuckten zur Konsole, über die Steuerhebel und Knöpfe. Da er schon viele große Baustellenfahrzeuge bedient hatte, fand er sich auch auf dem Armaturenbrett dieses Krans auf Anhieb zurecht. Der Lasthebemagnet baumelte ungefähr in Augenhöhe vor ihm, ungefähr zwölf Meter über dem Boden. Mike zog einen Hebel und der Kranarm bewegte sich surrend Richtung Schrottpresse.

Er musste drei Knöpfe durchprobieren, bevor er den Servomotor fand. Der ganze Kran vibrierte, als der Generator Strom durch den Elektromagneten am Kranarm schickte. Mike zog den Hebel noch ein Stückchen nach links und bewegte den Kranarm leicht nach unten. Er ließ den Magneten ein klein wenig zu früh in die Presse herunter, um die verzerrte Perspektive aus der Kranführerkabine auszugleichen, ein Trick, den er in seinen Jahren als Fahrer von Gabelstaplern und Radladern gelernt hatte. Der riesige Magnet landete mit einem metallischen Geräusch auf dem Dach des zusammengepressten VW Käfer. Mike hob das säuberliche Paket aus Metall und Fleisch aus der Presse und begann es über die freie Fläche daneben zu schwenken.

William hielt inne, um den Vorgang zu beobachten, und wandte sein verletztes Gesicht ins Licht der frühen Morgensonne.

Der rechteckige Schatten fiel über ihn, und er kratzte in der Erde, um schneller voranzukommen, doch es sah so aus, als hätte er keine Kraft mehr in den Armen.

Mike hob den Metallwürfel so hoch es ging – zwanzig Meter, fünfundzwanzig – bis er nur noch die Unterseite des Fahrzeugs sah, wo die Räder in die Karosserie gequetscht worden waren.

William lag ganz regungslos, keuchte und starrte Mike an.

Eine geraume Weile herrschte perfekte Stille.

Dann drückte Mike den Knopf, mit dem er die Stromzufuhr des Elektromagneten unterbrach. Das Auto fiel geräuschlos vom Magneten und begann in die Tiefe zu stürzen. William stieß einen gellenden Schrei aus und fand gerade noch Zeit, seinen Kopf unter den Armen zu bergen.

Eine Explosion aus Staub, der hochwölkte wie nach einer Bombendetonation. Die Wolke stieg bis auf die Hälfte der Höhe des Kranarms, dann begann sie sich langsam aufzulösen. Die Wärme der Sonne drang durch die Fensterscheiben der Krankabine, und wieder war Mike in Versuchung, seinen Kopf einfach auf die Konsole zu legen und wegzudösen.

Doch er nahm seine ganze Kraft zusammen, fuhr wieder nach unten, schob die Kabinentür auf und stolperte hinaus. Dort blieb er auf der Erde liegen und presste die Hand auf die Seite, wo er klebrig und warm sein Fleisch fühlte. Vor ihm parkte der Kombi, in dem William und Dodge ihn hatten entsorgen wollen, aber durch den immer schwächer werdenden braunen Nebel, der in der Luft lag, löste sich eine Reihe von gepressten Autos direkt am Maschendrahtzaun, die sichtbar von den anderen getrennt waren. Einige waren neuer, einige so verrostet, dass ihre Farbe gar nicht mehr zu erkennen war. Als sich der Staub weiter legte, sah er an der Vorderseite jedes säuberlichen Metallwürfels ein Nummernschild – FRVRYNG, MSTHNG, LALADY. Metallsärge, in denen jeweils eine Leiche begraben war. Nur John. Danielle Trainor. Ted Rogers.

Mikes Atem wirbelte kleine Staubwölkchen auf, rostrot und von seltsamer Schönheit. Seine Hand, die wenige Zentimeter vor seinem Gesicht lag, war mit mehreren Schichten Blut bedeckt, ganz unten trocken und schwarz, obenauf schmierig und hell.

Ein schneeweißer Fleck drängte sich in sein Blickfeld, und dann war er unerklärlicherweise wieder auf den Beinen und stützte sich auf die hohen, heißen Reifen des Krans. Er stolperte vorwärts, fiel gegen den Kombi und tastete sich dann seitlich daran entlang, wobei seine Hand blutige Abdrücke auf den staubigen Fenstern hinterließ. Die Fahrertür öffnete sich mit einem Stöhnen, und seine Beine gaben fast unter ihm nach. Als er sich auf den weichen Stoffsitz fallen ließ, seufzten die Sprungfedern unter ihm auf. Er wusste, er würde sich nicht wieder aus eigener Kraft aus diesem Auto herauswuchten können, deswegen betete er, dass dieses kaputte Scheißding noch fahrbar war. Seine Arme fühlten sich bleischwer an. Er tastete einmal, zweimal nach vorne, bis seine Finger irgendwie einen Schlüssel fanden, aber dass es auch der richtige war, glaubte er erst, als er ihn drehte und der Motor mit gereizten Geräuschen zum Leben erwachte.

In einem Kombi war er in diese ganze verdammte Angelegenheit hineingefahren, in einem Kombi würde er sie jetzt hinter sich lassen.

Den Hebel in die Fahrposition zu zwingen, war eine herkulische Aufgabe. Mit halb über den Boden schleifendem Auspuff schlingerte das Auto um den Metallballen, der einmal ein Käfer gewesen war, verließ den Schrottplatz und fuhr die steile unbefestigte Straße hinunter, die in Serpentinen nach unten führte. Jede Kurve war eine Strafe.

Er war den Hügel ungefähr zur Hälfte hinuntergefahren, als ihm bewusst wurde, dass er wahrscheinlich sterben würde.