28

Die Geräusche drangen durch den Schock wie gefiltert zu ihm durch. Die keuchende Annabel. Ein abgehacktes Geräusch, das nicht aus ihrem Mund, sondern direkt aus ihrem Körper zu kommen schien. Das aufgeregte Murmeln des Mannes: »Scheiße, Mann. Jetzt schau dir an, was ich wegen dir getan hab.«

Ein leichtes Knarzen des Türknaufs, den Mike immer noch umklammerte.

Und dann die Gerüche.

Spülmittel.

Männerdeo.

Kordit.

Mikes Smith&Wesson lag in Sichtweite, auf dem Teppich neben dem gemauerten Kaminsims. Der Mann, der ihm den Rücken zudrehte, schwankte leicht. Er fluchte und war sichtlich aufgewühlt. Mike konnte Annabels Kopf und Oberkörper immer noch nicht sehen. Von seinem Standpunkt aus konnte er den Mann nicht mal richtig im Profil erkennen. Aber er bemerkte, dass seine Wange Kratzspuren aufwies, Spuren von Fingernägeln, die so tief waren, dass sie aussahen, als stammten sie von einer Raubtierklaue. Das war William, aber auch wieder nicht. Seine Gesichtszüge wirkten zu gleichmäßig, die Muskulatur zu beeindruckend. Sein Arm sah aus, als hätte er einen Streifschuss abbekommen, eine bleistiftdicke Grube in der Wölbung seines Bizeps, wo Annabels Schuss ihn wahrscheinlich gestreift hatte.

Neben ihnen lag eine Plastikplane auf dem Boden. Mikes Gehirn war so überfordert, dass er sich im ersten Moment keinen Reim darauf machen konnte. Er blieb reglos stehen – mit einem Fuß stand er schon im Haus, aber seine Hand lag immer noch auf dem Türknauf hinter ihm, seine Hüfte war wenige Zentimeter von der Küchenarbeitsplatte entfernt, und der Griff der Omelette-Pfanne berührte seinen Unterarm.

Der Mann fiel auf die Knie und seine Schultern bebten einmal von der Erschütterung. Mike erhaschte einen Blick auf Annabels bleiches Gesicht über seine Schulter. Dann bewegte sich der Mann etwas zur Seite, so dass man nur ihren Arm und ihre Hüfte sah. Ihr ärmelloses Top war beim Sturz hochgerutscht, der Träger ihres BHs verrutscht. Aus einem Schlitz an ihrer linken Körperseite, direkt unter den Rippen, quoll Tinte.

»Hättest du nicht einfach auf mich hören können, dich auf die Couch setzen und auf ihn warten?« Im ersten Moment hörten sich die Worte des Mannes an wie Liebesgeflüster, aber dann hörte Mike die Anspannung – nein, es war Angst – in seiner Stimme. Der Mann streckte die Hand aus und ließ sie über den BH-Riemen gleiten, als wäre es ein Rosenkranz. Seine Haut glänzte nass, der Stress strahlte ihm aus jeder Pore. »Das ist eine Schweinerei, eine echte Schweinerei. Wir hätten warten sollen. Ich sollte nicht … Was soll ich …? Was soll ich ihm erzählen, was …?« Er kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf hin und her, es sah aus wie das vehemente Nein eines Kindes.

Insgesamt mochten vielleicht drei Sekunden vergangen sein.

Dann wurde die Stille plötzlich von einer elektronischen Version der »Schönen blauen Donau« unterbrochen. Der Mann fischte ein billiges Plastikhandy aus seiner Tasche, und der Klingelton verstummte, als er das Gespräch annahm. »Hallo?«

Seine Stimme riss Mike aus seiner Erstarrung. Er packte den Griff der Omelette-Pfanne, legte die paar Meter mit vier, fünf Riesenschritten zurück und ließ den rostfreien Stahl wie ein Tomahawk auf den Schädel des Mannes niedersausen. Der Kerl hörte Mikes Schritte zu spät, und als er einen Blick über die Schulter warf, weiteten sich seine Augen zwar vor Schreck, aber da wurde er auch schon getroffen. Er stieß einen Laut des Entsetzens aus, der sich wie ein Wiehern anhörte.

Mike erwischte ihn mit voller Wucht seitlich am Kiefer. Der Schwung des Schlages ließ den Kopf in einem unguten Winkel nach hinten prallen, und das dabei entstehende Geräusch klang wie das zehnfach verstärkte Knacken eines zerbrechenden Stockes. Der Kerl kippte um, schlug wie ein nasser Sack auf den Boden und brachte ihn mit seinem toten Gewicht zum Vibrieren.

Schluchzer zuckten über Annabels Gesicht. Ihr Mund öffnete sich, aber es kam kein Laut heraus. Aus dem Loch unter ihren Rippen drang Luft. Mike presste beide Hände auf die Wunde. Ungeschickt hob sie die Hand und versuchte vergeblich, ihn zu berühren, bis sie schließlich seinen Nacken umfassen konnte. Mike beugte sich vor und presste seine Stirn gegen ihre.

Er nahm ihre Hand und drückte sie fest auf die Wunde. »Drück da drauf. Drück ganz fest drauf.«

Neben ihr lag der Mann, der sie überfallen hatte. Seine Augen waren glasig, einer seiner Stiefel berührte ihre Wade. Sein billiges Handy, ein nicht zu ortendes Wegwerfmodell, lag auf dem Teppich, wo es ihm aus der Hand gefallen war. Mike zog sich zurück, obwohl Annabels Finger einen schwachen Versuch machten, ihn zurückzuhalten. Erst als er das Telefon aufhob, fiel ihm ein, dass ja gerade ein Anruf eingegangen war. Die Verbindung war unterbrochen worden, und er fragte sich, wer …

… aber da wählte er auch schon die 911, und es war ihm egal, wer ihn warum im Auge behalten sollte, welche Behörde ihn welcher Vergehen verdächtigte oder wie das alles weitergehen würde, ihm war alles egal außer …

»… ein Einbrecher hat auf sie eingestochen, sie blutet überall, schicken Sie jemand her, die Adresse lautet …«

… ihre Finger lagen nur noch locker auf dem Loch unter ihren Rippen, aber der Blutfluss war zum Stillstand gekommen, und dann legte er wieder seine Hände auf sie, die bis zu den Handgelenken blutverschmiert waren …

Annabel schmiegte ihre Wange in seine Hand. Er merkte, dass er gewaltsam ein Schluchzen unterdrückte und den Atem anhielt. Stöhnend drehte sie den Kopf, um den Blutsee zu betrachten, unter dem die Oberflächenstruktur des Teppichs verschwunden war. »Oh, Mann. Das wird nicht … gutgehen.« Die Worte sickerten aus ihr heraus, atemlos und heiser. Ihre Beine machten eine radfahrende Bewegung. Eine Sandale hatte sich an der Ferse gelockert, die andere hatte sie ganz vom Fuß geschleudert.

»Wo ist Kat? Ist sie …«

»Es geht ihr gut, es geht ihr bestens, sie ist noch im Auto.«

»Ich hab deine Nachricht abgehört … Es tut mir leid, dass ich … nicht auf dich gehört und … sie einfach zu Hause behalten habe.«

»Es ist nicht deine Schuld, ich hab’s nicht so gemeint.«

Oh, Gott, sie hatte seine Nachricht abgehört, in der er ihr die Schuld gab, das waren die letzten Worte, die sie gehört hatte, bevor …

»… hat gesagt, er ist Polizist …«, murmelte sie. »Ich dachte, er weiß etwas über Kat … Hab aufgemacht, um mir seine Dienstmarke anzu …«

»Ist doch alles egal, du hast nichts falsch gemacht.«

Wenn er diese verdammte Nachricht nicht hinterlassen hätte, wäre sie nicht so besorgt gewesen, dass sie dem nächstbesten die Tür aufmachte, der sich als Polizist …

»Wo ist mein kleiner Schatz?«

»Garage, in der Garage.«

»Ich will nicht, dass sie sieht, wie … dass sie sich so an mich erinnert …«

»Es ist okay, du wirst wieder gesund, red nicht so, als ob du …«

»Bring sie weg von … von allem … Fahr weg … mit ihr … jetzt. Versprich es mir.«

»Mach dir keine Sorgen, wir bringen dich ins Krankenhaus und …«

Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, und man sah, dass sie sich konzentrierte und noch einmal alle Kräfte sammelte. »Versprich es mir

»Ich verspreche es dir.«

Ihre Hände fielen wieder herab.

»Ich habe Angst«, sagte sie

Er atmete schwer und drückte seine Hand sinnloserweise weiter auf ihre Wunde. »Es ist okay, es ist okay, es ist okay.«

»Ich habe aber Angst.«

Er sah sie an. Hielt ihrem Blick stand, ihren Augen. »Ich weiß«, sagte er.

Sie sank zurück, schauderte einmal und rührte sich dann nicht mehr.

Ihre Lippen liefen bereits blau an – oder spielten ihm seine Augen nur einen Streich? Er ermahnte sich zum Atmen.

Handgelenk. Kein Puls.

Hals. Kein Puls.

Brustkorb. Kein Puls.

Es kam ihm vor, als würde sein eigenes Herz vor Mitgefühl ebenfalls stehen bleiben. Er hörte ein tiefes Heulen – kam das aus seinem Mund? – dann beugte er sich vor und übergab sich auf den Teppich.

Kein Puls.

Er drückte ihre Wangen, und ihr Mund öffnete sich mit einem leisen Geräusch. Wie war das noch – atmen, atmen, einmal auf den Brustkorb drücken? Wo zum Teufel waren die …

In diesem Moment ertönte der fröhliche Dreiklang ihrer Türglocke.

Er rappelte sich hoch, rutschte mit seinen Turnschuhen fast auf dem blutigen Teppich aus und rannte um die Ecke zur Haustür. Glassplitter glänzten auf den Fliesen. Er brauchte einen Augenblick, bis er begriff, dass das die Scherben der leeren Vase waren, die immer auf dem Beistelltischchen stand. Die Türkette war abgerissen worden und baumelte herab. Die beiden Bolzenschlösser waren offen. Annabel musste bei vorgelegter Kette aufgemacht haben – sie hatten keinen Türspion – und der Mann hatte die Tür eingetreten und dabei das Tischchen umgeworfen. Annabel war ins Hausinnere geflohen, hatte sich zu ihm umgedreht und einen Schuss abgefeuert. Und dann hatte er auf sie eingestochen. Während er über die Scherben rannte, rekonstruierte Mike die Ereignisse mit einem Teil seines Gehirns, während der Rest in besinnungsloser Panik summte.

Kein Puls.

Er riss die Haustür auf. Vor ihm stand ein Mann mit dickem schwarzen Haar und Bartstoppeln, die so dicht waren, dass es aussah, als hätte seine Haut rund um den Mund und auf den Wangen eine andere Farbe. Durchschnittlich groß, kompakte Statur, zerknitterter Anzug. Tiefe Falten durchzogen seine Stirn wie Risse. Inmitten dieses alptraumhaften Chaos waren diese Falten etwas, woran Mike sich festhalten konnte, sie sagten ihm, dass das alles real war.

Der Mann wedelte Mike mit seiner Dienstmarke vor der Nase herum. »Rick Graham.«

»Sie sind nicht der Notarzt, wo ist der Notarzt?«

»Die Zentrale hat den Notruf durchgegeben. Ich war mit meinem Streifenwagen am nächsten an Ihrem Haus.«

Mike packte ihn und zog ihn beiseite. »Helfen Sie ihr, sie liegt hier, können Sie reanimieren?«

Graham trabte an ihm vorbei ins Wohnzimmer, wobei die Schlüssel in seiner Hosentasche klirrten. Er bog um die Ecke und blieb erschrocken stehen. Als er sah, in welchem unmöglichen Winkel der Kopf des toten Mannes verdreht war, verzog er das Gesicht. »Jesus, Maria und …«

Mike zog ihn zu Annabel herunter. »Hier, sie braucht … sie braucht …«

Während Graham ihre Vitalfunktionen überprüfte, blickte Mike zur Tür, die in die Garage führte. Kat saß da draußen und schaute immer noch ihre Serie. Er sah, wie sich das flackernde Licht des Bildschirms auf der Windschutzscheibe spiegelte. Er musste das Chaos hier erst ein wenig unter Kontrolle bekommen, bevor er sie …

»Es tut mir leid.« Graham stand auf und rieb sich die Hände, eine demütige Geste, die seltsam deplatziert wirkte. Ein neues Netz aus Falten überzog seine mitfühlende Stirn. Er war älter, als er auf den ersten Blick ausgesehen hatte, vielleicht Anfang fünfzig. Sein schwarzes Haar war von grauen Fäden durchzogen, und neben den Mundwinkeln hatte er ebenfalls Fältchen. »Sie ist tot.«

»Sie ist nicht tot«, sagte Mike. »Sie hat bloß keinen Puls.« Tränen strömten ihm über die Wangen, aber seine Atmung ging nicht stoßartig, sondern ganz gleichmäßig – als wäre er eine Statue, der Wasser aus den Augen läuft. Wenn er sich nicht bewegte, wenn er nicht atmete, vielleicht war das dann alles nicht real.

»Es tut mir leid. Sie stehen unter Schock. Der Notarzt wird gleich hier sein und sich um Sie kümmern. Aber zuerst muss ich nachsehen …«

Die Stimme verklang in Mikes Kopf, als hätte jemand den Lautstärkeregler heruntergedreht. Er blickte auf Annabel herab, und sein Magen krampfte sich zusammen. Ihre Haut war auf einmal viel dunkler, ihre Fingerspitzen graulila marmoriert wie der Rand eines Blutergusses. Aus der Stichwunde unter ihren Rippen strömte jetzt kein Blut mehr, man sah nur noch ein scharf umrissenes schwarzes Loch, als hätte man an dieser Stelle eine Zigarre ausgedrückt.

Graham legte ihm eine Hand auf den Ellbogen, schüttelte ihn leicht und seine Stimme drang wieder zu Mike durch, wenn auch nur als ein blechernes Echo. »Ist sonst noch jemand hier, Sir? Ich muss wissen, ob sonst noch jemand …«

»Meine Tochter. Sie ist …«

Graham fiel ihm ins Wort. »Ich gehe jetzt besser mal das Haus sichern.«

Mike war gar nicht eingefallen, dass sich ja noch mehr Einbrecher im Haus aufhalten konnten. Ihm war überhaupt nichts eingefallen.

Graham zog eine Glock aus dem Hüfthalfter und ging vorsichtig den Flur hinunter. Als Mike ihn nicht mehr sehen konnte, drehte er sich völlig konfus einmal im Kreis. Seine Frau am Boden.

Seine Tochter, die bis jetzt von all dem nichts ahnte, immer noch in der Garage. Er blickte auf die blutigen Flecken auf seinem Hemd, seinen Händen und auf seine Hosentasche, die sich über dem Handy des Toten ausbeulte. Kat durfte das alles nicht sehen. Sie durfte das alles nicht erfahren, indem sie ihn so sah, über und über mit dem Blut ihrer Mutter beschmiert. Er riss sich von seiner Frau los und zog sein Hemd aus, während er zur Spüle hinüberstolperte. Er ließ das heiße Wasser über seine Hände und Unterarme laufen, rieb an den Flecken auf seiner Jeans herum und spritzte rundum alles nass. Das Wasser wirbelte lachsrosa über das weiße Emaille der Spüle. Neben dem Kamin lag ein zusammengeknülltes Sportshirt auf dem Telefontischchen. Er zog es sich hastig über den Kopf und riss die Vorhänge am Fenster über der Spüle beiseite. Immer noch kein Krankenwagen in Sicht.

Irgendetwas an der Szenerie vor seinem Haus kam ihm verkehrt vor, aber sein überfordertes Hirn konnte nicht konkret benennen, was es war. Er sah dasselbe wie immer – einen Abschnitt des Gehwegs, eine Reihe Zypressen, die Veranda der Martins. Er warf einen Blick auf die Uhr am Herd und stellte fest, dass tatsächlich erst sechs Minuten vergangen waren, seit er das Haus betreten hatte, obwohl es ihm vorkam wie eine halbe Ewigkeit.

Rick Graham war unglaublich schnell nach seinem Notruf hier eingetroffen.

Da wurde ihm auf einmal klar, was an der Szenerie vor dem Küchenfenster falsch war.

Auf der Straße vorm Haus parkte kein Auto.

Warum sollte Rick Graham seinen Wagen außer Sichtweite abstellen?

Mike hörte über den Flur, wie eine Schranktür geöffnet wurde. Er hätte schwören können, dass Graham ein Bulle war – zwölf Jahre in der Shady Lane hatten ihn gelehrt, diese Vibes aufzufangen. Doch was die Dienstmarke anging, die Graham ihm kurz unter die Nase gehalten hatte, konnte sich Mike nicht erinnern, zu welcher Behörde sie gehört hatte. Er wollte gerade nach Graham rufen, um ihn danach zu fragen, da durchlief ihn ein Kälteschauder, der ihm die Frage auf der Zunge gefrieren ließ.

Er griff in seine Hosentasche und zog das Einweghandy heraus, das er dem Toten abgenommen hatte. Keine Einträge im Adressbuch. Abgehende Anrufe gelöscht. Ein eingegangener Anruf, vor sieben Minuten – als der Kerl in Mikes Wohnzimmer angerufen worden war.

Mit dem Daumen drückte Mike auf »Rückruf«, wobei ein dunkelroter Ring unter seinem Fingernagel sichtbar wurde.

Er hörte den Klingelton im Handy. Einmal. Zweimal.

Und schließlich antwortete aus dem Inneren seines eigenen Hauses eine digitale Version der »Schönen Blauen Donau.«

Rick Grahams Stimme kam simultan durch die Wände und aus dem Handy an Mikes Ohr. »Hallo?«

Graham war nicht ins Haus gegangen, um es zu sichern, sondern um eventuelle Zeugen zu beseitigen.

Mike warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Revolver, der neben Annabels wächsernem Arm lag, aber Grahams Schritte kamen bereits über den Flur in seine Richtung. Rasch bewegte sich Mike zur Hintertür und riss sie so schwungvoll auf, dass sie gegen die Hauswand knallte. Aus der Ferne trug ihm die leichte Brise das Heulen von Sirenen zu. Er zog sich schnell wieder zurück, versteckte sich hinter der Kochinsel und sah zu, wie Graham ins Wohnzimmer schoss. Er nahm gerade ein Handy vom Ohr – das Gegenstück zu dem Wegwerfapparat, von dem aus Mike ihn gerade angerufen hatte.

Das Weiß von Grahams Fingern war im ersten Moment erschreckend, bis Mike merkte, dass der Mann Latexhandschuhe übergestreift hatte. In der Rechten hielt Graham nicht die Dienstwaffe, die er in der Hand gehabt hatte, als er über den Flur verschwand, sondern eher etwas, was nach einer billigen 22er aussah. Ein Teil des Saums seines rechten Hosenbeins steckte im Bund seiner schwarzen Socke. So konnte man das Halfter an seinem Knöchel sehen, aus dem er seine nicht zurückverfolgbare Wegwerfwaffe geholt hatte.

Graham stieg über die Leichen und blieb auf der Schwelle zur Küche stehen. Als er die offene Hintertür sah, stieß er einen unterdrückten Fluch aus.

Die Besorgnis in seinem Tonfall passte nicht zu der Sachlichkeit, mit der er auf die Türöffnung zielte. »Mike? Geht es Ihnen gut?«

Mike hatte ihm seinen Namen nie genannt.

Jetzt wurden die Sirenen immer lauter. In der Garage hörte man, wie sich eine Autotür öffnete und schloss, auch wenn das Geräusch im immer lauter werdenden Sirenengeheul fast unterging. Mike biss sich auf die Lippe, dass es blutete, aber wie es aussah, hatte Graham nichts gehört. Die Stelle, an der Mike kauerte, war näher an der Garage, und er wusste, wie und wo dieses Haus vibrierte, wenn sich jemand darin bewegte. Jetzt nahm er die näher kommenden Schritte von Kat wahr, und er machte sich zum Sprung bereit, als Graham erneut fluchte und in den Garten hinterm Haus rannte.

Mike drückte noch einmal auf Wiederwahl und legte das Telefon offen auf die Küchenarbeitsplatte. Dann sprang er zur Garagentür, hielt sie fest, als sie von außen geöffnet wurde, und schob Kat sanft wieder zurück.

»Komm, Schätzchen. Steig wieder ins Auto, wir müssen fahren.« Er drehte sie um und dirigierte sie ins Dämmerlicht der Garage.

»Was ist …«

»Hör auf mich, Kat. Steig wieder ein. Wir müssen fahren.«

Sie stieg ein. »Daddy?« So nannte sie ihn nur, wenn sie Angst hatte. »Du hast dich umgezogen.«

»Ja, mein Hemd hat einen Fleck gekriegt.«

»Was für einen Fleck?«

Als er auf den Schalter drückte, der das Garagentor öffnete, bemerkte er die Blutspur, die sich von seinem kleinen Finger bis zum Ellbogen zog. Licht fiel in die Garage, es war, als würde sich ein Schleier heben. Er griff sich einen Lappen von einem Regal und drehte sich weg, um heimlich seinen Arm abzuwischen.

Ließ er tatsächlich gerade den Körper seiner toten Frau zurück? Der Gedanke daran, wie sie reglos und kühl wie Alabaster dort drinnen auf dem Boden lag, hätte ihn beinahe zum Umkehren bewegt. Er musste sie wiedersehen.

Ein Echo von Annabels Stimme. Fahr weg … mit ihr … jetzt. Versprich es mir.

Kat spähte aus dem Jeep und rief ihn mit zittriger, dünner Stimme. »Daddy? Daddy?«

»Kleinen Moment, mein Schatz.« Er stolperte rückwärts zur Fahrertür und rieb weiter an seinem Arm herum. Das Timbre seiner Stimme war ihm völlig fremd. »Bin schon da.«

Er ließ den Lappen fallen und warf sich auf den Fahrersitz. Den Schlüssel hatte er im Zündschloss stecken lassen, damit der Fernseher weiterlief, und jetzt drehte er ihn energisch und setzte rückwärts aus der Garage, wobei er mit dem Dach um ein Haar die noch nicht ganz geöffnete Tür geschrammt hätte. Er trat auf die Bremse, dass die Reifen quietschten, und schoss aus der Ausfahrt.

Die Sirenen heulten jetzt in allernächster Nähe. Sie konnten nur noch wenige Straßen entfernt sein.

Hinter den Zypressen am Rande ihres Grundstücks stand Grahams Auto verborgen.

Ein verbeulter schwarzer Mercury Grand Marquis. Genau wie das Auto, das ihm gefolgt war, als er die Promenade verlassen hatte.

Mike brachte seinen Wagen neben Grahams Wagen zum Stehen, nahm sein Leatherman-Multitool aus dem Handschuhfach und zog die längste Klinge heraus. Er ging in die Hocke, damit Kat ihn nicht beobachten konnte, dann rammte er die Klinge in den Vorderreifen und stieß sie nach vorn. Heiße Luft zischte ihm über die Fingerknöchel.

Aus dem Garten hörte er die Melodie der »Schönen Blauen Donau«. Jetzt kam sie näher.

Rasch stopfte er das Vielzweckmesser wieder in die Tasche und lief noch einmal hinters Auto, um sich das hintere Nummernschild anzusehen. Sofort fiel ihm das von einem Achteck eingerahmte »E« ins Auge – das Zeichen, das man nur auf Polizeifahrzeugen und Fahrzeugen der Regierung sah. Hinter den Zypressen sah er, wie das seitliche Gartentor aufflog, und Mike sprang zurück in sein Auto, bevor er sich die Nummer merken konnte.

Er trat das Gaspedal durch, bevor seine Tür richtig zu war, und die ganze Zeit zischte das »E« in seinem Kopf wie ein Brandzeichen. Rick Graham war ein Polizist oder ein Agent des FBI. Er hatte etwas mit dem Mord an Annabel zu tun. Er wollte Mike töten und war bereit, auch noch ein achtjähriges Mädchen aus dem Weg zu räumen, um keine Zeugen zu hinterlassen. Wie viele andere Polizisten waren noch in diese Sache verwickelt? Wie tief ging diese Sache? Und wo gab es einen sicheren Ort, an den Mike seine Tochter bringen konnte?

Kats Gesicht erschien im Rückspiegel. »Was hast du da grade gemacht?«

Durch die Heckscheibe sah er, wie Graham auf die Straße lief und dann neben dem zerstochenen Vorderreifen in die Hocke ging. Er zog sich die Handschuhe von den Fingern, trat ein paar Schritte zurück, stemmte die Hände in die Hüften und starrte Mikes Wagen nach. Er war zu weit weg, als dass Mike seinen Gesichtsausdruck hätte erkennen können, aber seine Haltung verriet eine Mischung aus Amüsement und Ärger.

Kein Puls.

»Ich musste … was an diesem Auto machen.«

Er bog um die Ecke, ein Krankenwagen und eine ganze Reihe von Polizeiautos kamen ihnen entgegen, mit Blaulicht und durchdringend lautem Sirenengeheul. Mike blickte durchs Fenster und in den Außenspiegel, um die vorbeischießenden Autos im Auge zu behalten.

Kat saß kerzengerade da, statt wie sonst auf der Rückbank herumzulümmeln. Ihre Stimme war vor Angst ganz heiser. »Wo ist Mom?«

Wieder der alptraumhafte Satz, aber diesmal kam er nicht aus dem Munde seines Vaters, sondern aus seinem eigenen: »Sie ist nicht … hier.«

Er versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, das Lenkrad ruhig zu halten und nicht zusammenzubrechen. Das verlangte ihm das Äußerste ab, und selbst das reichte kaum.

»Daddy«, sagte sie. »Was ist mit deiner Stimme?«

»Daddy«, sagte sie. »Die Ampel ist grün.«

»Daddy«, sagte sie. »Warum atmest du so komisch?«