29

Kat hatte sich auf dem Rücksitz in ein kleines Knäuel aus Angst und Abwehrhaltung verwandelt. Er musste mit ihr irgendwohin fahren, wo sie in aller Ruhe sprechen konnten, damit er ihr erklären konnte, was mit ihrer Mutter geschehen war. Zumindest redete er sich das so ein. Vielleicht hatte er auch einfach nur keine Ahnung, wie er ihr die Tatsache überhaupt beibringen sollte. Während er fuhr, gab er sich alle Mühe, weiterzureden und Kat zu beruhigen, aber sie war klug genug, um seine Beschwichtigungsversuche als schlechtes Zeichen zu deuten, also verstummte er irgendwann und hielt sein Innerstes eisern unter Verschluss, um nicht vor Kummer zu explodieren.

Als er an einer Tankstelle hielt, quälte ihn eine dunkle Stimme: Das letzte Mal, als ich getankt habe, hatte ich noch eine Frau. Er ging ein paar Schritte vom Auto weg und klappte sein Handy auf, um Shep anzurufen. Prompt erschien Annabel auf dem Display – das Foto, das er in der Küche geschossen hatte, als er herausgefunden hatte, was in »Green Valley« schiefgelaufen war. Er konnte sich noch an die Wärme der Sonne auf seinen Schultern erinnern, und wie sie ihre frisch eingecremten Hände an seinen abgewischt hatte.

Was ist denn?

Deine Haare. Deine Augen.

Der letzte ruhige Moment, den sie miteinander geteilt hatten, bevor die Bombe mit den PVC-Rohren hochging. Vor seiner Entscheidung, die Lüge des Gouverneurs mitzutragen, indem er selbst log, und vor dem Inferno, das er damit über seine Familie gebracht hatte.

Meinen Sie, Sie können vierzig Familien zuliebe in ein paar Kameras lächeln?

Dieses Lächeln hatte ihn Annabel gekostet.

Sein Daumen zuckte, weil er sie reflexartig anrufen wollte. Es war die Hölle, nach diesem ersten Reflex von der grausamen Realität eingeholt zu werden. Das konnte nicht wahr sein. Er konnte nicht ohne sie – diese bedrohliche Situation durchstehen, den Vater für Kat spielen, leben.

Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Achtjährigen zu, die auf ihn wartete und seine Zuwendung brauchte. Shep. Ein neuer Plan. Ihm fiel ein, dass er das schnittige schwarze Batphone benutzen musste, also wechselte er das Handy, bevor er wählte.

Shep nahm sofort beim ersten Klingeln ab.

»Meine Frau ist tot.« Als Mike die Worte aussprach, verzog sich sein Gesicht. Er drehte sich vom Auto weg und musste sich verzweifelt anstrengen, um nicht zusammenzusacken.

»Was?«, sagte Shep.

Mike warf einen Blick über seine Schulter, aber Kat saß immer noch angeschnallt auf ihrem Platz und starrte ins Leere. Er zwang sich, die Worte zu sagen: »Sie ist tot. William und Dodge haben Kat bedroht, und ich hab den Köder geschluckt. Ich bin zu Kat gerast und hab Annabel schutzlos zu Hause gelassen. Ich hab sie allein gelassen.«

»Wer war es?«

»Ein Typ. Williams Bruder oder Cousin. Ich hab ihn umgebracht.«

Bei der Erinnerung daran knirschte Mike mit den Zähnen. Von der Vibration dieses Schädels, die er über die Omelette-Pfanne gespürt hatte, hatte sein Arm gepocht – die Art von Schmerz, die einem bis ins Mark geht, wie wenn man von einem superhart geschlagenen Ball getroffen wird. Dieses unmenschliche Geräusch. Ein Geräusch wie auf der Baustelle, ein Geräusch, als würden irgendwelche Baumaterialien widerwillig nachgeben. Er hatte einen Mann getötet. Er spürte keine Reue und er würde es wieder tun, ohne mit der Wimper zu zucken, aber die blanke Tatsache erstickte irgendetwas in seiner Brust.

Shep hatte noch eine Frage gestellt – »Woher weißt du, dass der mit William verwandt war?« – und Mike brauchte einen Moment, bis er die Frage wirklich aufgenommen hatte.

Er dachte an das körnige Kodakfoto von seinem Vater, das aufgenommen worden war, als dieser so alt war wie Mike jetzt. Und daran, wie Dana Riverton das Bild neben das Zeitungsfoto gelegt hatte, durch das Mike für die Person sichtbar geworden war, die hinter ihm her war. »Ähnlichkeit.«

»Hat er Annabel vorsätzlich umgebracht?«

»Sie hat sich gewehrt.« Die Worte des Mannes hallten in Mikes Kopf nach. Hättest du nicht einfach auf mich hören können, dich auf die Couch setzen und auf ihn warten? »Er wollte mich töten, nicht sie.«

»Warum hat er dich dann vorher mit einem blinden Alarm zu Kat gelockt?«

»Damit er … ich weiß nicht … damit er Zeit hatte, in unser Haus einzubrechen und sich vorzubereiten. Damit es ruhig war und keiner was mitkriegte. Vielleicht wollte er sie dabei haben, damit sie mich zum Sprechen bringen.«

»Worüber?«

»Keine Ahnung.«

»Was ist passiert, nachdem du ihn umgebracht hattest?«

»Ein Bulle ist aufgetaucht – Rick Graham. Die steckten unter einer Decke. Graham hat ihn angerufen, um ihn zu warnen, dass ich gleich komme.« Mike erzählte von dem Anruf und wie er zurückgerufen hatte. »Graham ist ins Haus gekommen, um mich zu töten, glaube ich. Um aufzuräumen. Ich hab mir Kat geschnappt und bin geflohen. Jetzt werde ich also wahrscheinlich auch von den nicht korrupten Behörden gesucht, weil ich mich so aus dem Staub gemacht habe. Ich weiß nicht mehr, wem ich noch vertrauen kann.«

»Geld«, sagte Shep.

»Für so was hab ich jetzt keinen Kopf. Ich hab Kat noch nicht mal erzählt, was eigentlich passiert ist. Wir können später …«

»Es wird kein Später geben«, widersprach Shep.

»Okay. Okay.«

»Hast du deine Waffe dabei?«

»Nein. Das ist die, die Annabel …«

Shep fiel ihm ins Wort. »Du musst dein Handy ausstellen – nicht dieses, dein normales. Es läuft auf deinen Namen, und wenn du das Ding zu lange anlässt, können sie dich darüber orten.«

Mike schaltete es aus und sah sich um. Auf der belebten Kreuzung schossen die Autos vorbei. Zwei minderjährige Jugendliche saßen neben der Waschstraße und rauchten. Eine Frau stieg an der Zapfsäule hinter ihm aus ihrem VW-Käfer und watschelte in den Tankstellenshop.

Shep redete immer noch. »… und dein Auto.«

»Mein Auto?«

»Du hast doch GPS, oder? Das bedeutet, dass sie sich über dein eigenes Navi orten können. Du musst das Ding sofort loswerden.«

Sein Auto zurückzulassen fühlte sich für ihn an, als würde er einen letzten wichtigen Teil seiner selbst aufgeben. Der Beifahrersitz war immer noch so eingestellt, wie Annabel es am liebsten mochte – der Sitz ganz weit vorn am Armaturenbrett, die Rückenlehne leicht zurück, die Kopfstütze ganz tief. In einer Naht des Lederbezugs hingen immer noch Krümel von einem Müsliriegel, den sie auf dem Weg zur Preisverleihung gegessen hatte.

»Jetzt sofort?« Die Benzinpumpe schaltete sich mit einem Klicken aus, und Mike nahm den Stutzen aus dem Tank.

»Sie müssen bei einer privaten Firma nachfragen, um dich aufzuspüren. Es wird eine Weile dauern, bis sie den nötigen Durchsuchungsbefehl kriegen. Als Erstes kümmerst du dich jetzt um die Geldfrage. Los.«

Shep legte auf.

 

Mike stand in einem Privatbüro in der Bank und stapelte die Bündel aus Hundertdollarscheinen in eine schwarze Kunststofftasche, die ihm der Filialleiter mit einem missbilligenden Zug um den Mund zur Verfügung gestellt hatte. Kat wartete auf dem Parkplatz vor der Bank; sie saß auf dem Fahrersitz, hatte sich eingesperrt, und ihre Hand lag einsatzbereit auf der Hupe.

»Können wir nicht irgendetwas anderes für Sie tun, Mr. Wingate, damit Sie es sich noch einmal überlegen?«

»Diese Entscheidung hat nichts mit Ihren Dienstleistungen zu tun.«

»Ich finde es nur schade, gerade in Anbetracht ihrer Einnahmen in letzter Zeit, dass Sie …«

»Warum kann ich nicht noch mehr abheben?«

»Ich glaube, dass es unter den gegebenen Umständen schon eine ganz schöne Leistung ist, wenn wir Ihnen ohne jede Vorankündigung dreihunderttausend Dollar in bar auszahlen können. Da heute so viel über Online-Banking abgewickelt wird, haben wir einfach nicht mehr so viel Bargeld im Tresorraum wie früher. Und wie gesagt, ich werde Ihnen gerne den gewünschten Betrag auf jedes Konto Ihrer Wahl über …«

Ein diskretes Klopfen, dann öffnete eine attraktive Frau in einem makellosen Hosenanzug die Tür einen Spaltbreit. »Entschuldigen Sie, Sir. Ein Anruf für Sie …«

»Sie wissen sehr gut, Jolene, wenn die Tür zu diesem Büro geschlossen ist, heißt das, dass …«

»Angeblich ist es aber sehr dringend.«

Auf dem Telefon auf seinem Schreibtisch blinkte ein rotes Licht.

Der Filialleiter erstarrte. Er nickte Mike zu und wandte sich zu seinem Tisch.

Mike warf die letzten Geldbündel in die Tasche und marschierte aus der Bank.

 

»Daddy, warum sind wir hier? Diese Leute machen mir Angst.«

»Nicht mehr lange, Kat, dann fahren wir weg von hier.«

»Willst du mir nicht verraten, was eigentlich los ist?«

»Doch. Doch, auf jeden Fall. Bald.«

Südlich von Devonshire in Chatsworth. Die kürzeste Entfernung, die mieseste Gegend. Aus den Rissen im Asphalt der Gehwege spross das Unkraut und kletterte durch alte Maschendrahtzäune. Eingetretene Haustüren waren mit blutroten und neongrünen Graffiti verziert: Immigración, rot durchgestrichen wie auf einem Verbotsschild. Bandenzeichen, der Ich-sehe-nichts-Böses-Affe mit seinen zwei Kumpanen. In Hausaufgängen vibrierten Amphetaminschädel, skelettartige Arme ragten aus Bomberjacken, schwarze Finger stocherten in zahnlosen Mündern. Die anbrechende Abenddämmerung verlieh den schäbigen Gebäuden das Flair von Spukhäusern.

Mike graute vor dem Ort, an den er seine Tochter gebracht hatte. Aber noch mehr graute ihm davor, was ihr passieren konnte, wenn er ihren Verfolgern – wer immer das sein mochte – die Chance gab, sie aufzuspüren.

Der blitzblanke Ford rollte durch die Straße und zog alle Blicke auf sich. Ein paar Leute riefen ihnen irgendetwas hinterher, aber ihre Worte wurden vom Schnurren des Motors bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Als jemand an die Heckscheibe klopfte, schrie Kat vor Schreck laut auf. Ein knochiges Gesicht erschien, mit ausgehöhlten Wangen und einem eitrigen Lächeln, und der Griff der verschlossenen Autotür klickte.

Mike gab Gas, so dass das knochige Gesicht entschwand, dann bog er um die nächste Ecke. Ein älterer Mann fuhr gerade rückwärts aus einer Einfahrt, und Mike fuhr hinter ihn, so dass er ihn blockierte. Der Mann stieg wütend aus, um ihn zur Rede zu stellen. Ein schütterer grauer Bart umrahmte seine Hängebacken.

»Mein lieber Junge, bild dir bloß nicht ein, dass du mich auf die Tour einschüchtern kannst. Ich hab hier schon gewohnt, da war dein Vater noch …«

Mike hielt drei Hundertdollarnoten hoch. »Die gehören Ihnen, wenn Sie auf uns warten. Zwei Minuten. Wir kommen zurück. Und dann zahl ich Ihnen noch mal das Doppelte, wenn Sie uns fahren.«

»Hör mal, so blöd bin ich nun auch wieder nicht. Wenn du mir so viel Geld bietest, willst du mehr von mir, als dass ich euch mitnehme.«

Mike schob dem Mann das Geld in die runzlige Hand. »Nur mitnehmen.«

Er fuhr zurück zu dem Straßenabschnitt mit den übelsten Junkie-Höhlen, blieb mitten auf der Straße stehen und stieg aus. Die Fahrertür ließ er offen stehen, den Motor weiterlaufen. Dann warf er sich die schwarze Tasche aus der Bank über die Schulter und hob Kat von der Rückbank, wie er es immer gemacht hatte, als sie noch ein Kind war. Verängstigt vergrub sie ihr Gesicht an seinem Hals. Dann trabte er mit ihr auf dem Arm davon, während er ihren Atem feucht an der Kehle spürte.

Als er die ruhige Kreuzung erreichte, warf er einen Blick zurück. Ein paar zaundürre Gestalten umkreisten den Pick-up, huschten vor den Scheinwerfern vorbei und legten neugierig den Kopf schräg. Es war nur eine Frage der Zeit. Dodge oder William oder Graham konnten dann die Nacht darauf verwenden, ein von Junkies geklautes Auto aufzuspüren, während Mike Kat an einen sicheren Ort bringen konnte.

Er drehte sich um und eilte weiter zu der Stelle, an der der ältere Mann stand und auf sie wartete.

 

Kat und er liefen quer über Jimmys ungepflegten Vorgarten, wobei sie Autoteilen und einem rostigen Rasenmäher ausweichen mussten, die im braunen Gras verrotteten. Mike hatte den alten Mann gebeten, sie ein paar Straßen weiter abzusetzen, und sie waren das letzte Stück gelaufen.

Kat versteckte sich hinter Mikes Rücken, als er an Jimmys Tür klingelte.

Jimmy machte die Tür auf, warf aber noch einen Blick über die Schulter ins Hausinnere. »… hol den verdammten Sessel aus dem Garten.«

Eine körperlose Frauenstimme: »Was geht dich das denn plötzlich an?«

»Weil ich keinen mit Klebeband geflickten Lehnstuhl in meinem Vorgarten stehen haben will, basta.«

Shelly tauchte im Flur auf. Ihre schlanken, blassen Finger hielten eine Zigarette, die dringend abgeäschert werden musste. »Du machst deiner Rasse echt alle Ehre.« Ihr Blick wanderte zu Mike, bevor Jimmy ihn sah, und sie raffte ihren Bademantel vor der Brust zusammen und verzog sich aus dem Blickfeld.

Jimmy drehte sich um. »Wingate? Was zur Hölle treibst du denn hier?«

»Ich brauch Hilfe.«

»Streit mit deiner Frau gehabt? Verdammt, ich kann dir keinen Vorwurf draus machen. Seit Shelly und ich wieder zusammen sind …« Jimmy stieß ein frustriertes leises Knurren aus. »Weißt du, wann sie Sex haben will? Morgen. Morgen will sie.«

Kat lugte hinter Mike hervor und Jimmy sagte: »Sch … eibenkleister. Hallo, mein Schätzchen. Hab dich gar nicht gesehen.«

»Ich brauch einen fahrbaren Untersatz«, sagte Mike.

»Willst du dein Auto zurückhaben?«

»Ich steck echt in Schwierigkeiten, Jimmy.«

Jimmy sah von Mike zu Kat und schien die Ernsthaftigkeit der Situation zu spüren.

Eine Minute später waren sie in Jimmys stiller Garage. Mike setzte Kat auf den Beifahrersitz des Toyota. Der vertraute Geruch seines alten Pick-up war ein dringend benötigtes Quentchen Trost. Er deutete auf den kleinen Werkzeugkasten über dem Radlauf. »Wollen wir das noch leer machen?«

»Nee«, sagte Jimmy. »Ist doch sowieso alles deins.«

»Kann ich die Nummernschilder tauschen?«, bat Mike. »Mit denen vom Mazda?«

»Ist zwar Shels Auto, aber scheiß drauf, zahlen tu’s ja doch ich.«

Er half Mike beim Austauschen der Kennzeichen, dann drückte Mike ihm die Hand. »Danke, Jimmy. Das werd ich wieder gutmachen.«

»Vergiss es. Du hast schon so viel für mich getan.«

Jimmy blieb in der Garage stehen, während Mike rückwärts hinausfuhr. »Fahrt ihr Nur-John suchen?«

Und im Davonfahren dachte Mike: Ja, wahrscheinlich.

 

Im Days Inn verlangten sie eine Kreditkarte, also landeten sie weiter in Stadtnähe in einem der heruntergekommenen Motels gegenüber der Universal Studios. Nach dem, was Mike auf den ersten Blick sah, beherbergte das Motel sparsame Touristen und Leute, die sich stundenweise ein Bett mieteten. Ein einstöckiges Gebäude neben einem engen Parkplatz, wie das Bates Motel aus Alfred Hitchcocks Psycho. Autoabgase und die Motoren- und Reifengeräusche vom Ventura Boulevard zwei Blöcke weiter stürmten auf die Sinne ein. Der Mann an der Rezeption, eine Tattoo-Sammlung in Menschengestalt, nahm nur zu gern Mikes Barzahlung entgegen.

Auf dem Formular für den Parkplatz musste man das Kennzeichen des Autos eintragen. Mike war froh, dass er die Schilder in Jimmys Garage ausgetauscht hatte. Als sie in ihrem Zimmer waren, hatte er die Tasche mit dem Bargeld in die Ecke gestellt und seine Taschen auf dem Bettüberwurf ausgeleert. Zwei Handys, Wechselgeld, ein Fettstift für die Lippen, den er für Kat mitgenommen hatte. Er ließ die Jalousien herunter. Eine Zwischentür führte ins Nebenzimmer, das er mitgemietet hatte, damit Kat einen Schlafplatz hatte, während er sich in der Nacht den düsteren Geschäften widmete, die ihm bevorstanden.

Kay lag in Embryonalhaltung auf dem Bett, und er setzte sich zu ihr, um ihr den Kopf zu streicheln. Sie machte ein leises Geräusch und drehte sich so, dass sie ihm die Arme um den Bauch schlingen konnte. Er beugte sich vor und umarmte sie ungeschickt, schnupperte an ihrem Haar und versuchte sie ganz wahrzunehmen. Ihre Wärme. Die winzigen Finger. Den zerbrechlichen Hals. Diese glatte, weiche Haut. Er schaute schnell an die Decke, um die Tränen zurückzuhalten und versuchte, seinen Brustkorb gewaltsam festzuhalten, damit sie nicht merkte, wie sich seine Atmung veränderte.

Er war ihr eine Erklärung schuldig – jetzt.

Er ging ins Badezimmer, um sich vorzubereiten. Als er sich über das ramponierte Waschbecken beugte, betrachtete er kurz sein Spiegelbild. Er war fast nicht wiederzuerkennen. Rot geränderte Augen, teigige Haut, schweißdunkles Haar, das ihm in allen Richtungen vom Kopf abstand. Kein Wunder, dass Kat solche Angst hatte.

Mit Grauen bemerkte er, dass er eingetrocknetes Blut unter den Fingernägeln der linken Hand hatte. Er pulte die schwarzen Halbmonde mit den Fingernägeln der Rechten hervor und hielt seine Finger dann unter das brühheiße Wasser, doch die Blutreste blieben hartnäckig unter seinen Nägeln hängen. Auf einmal hielt er inne. Seine Wangen wurden feucht von dem Wasserdampf, der aus dem Waschbecken aufstieg. Dieses getrocknete Blut unter seinen Fingernägeln, war das letzte bisschen, was ihm von Annabel geblieben war.

Eine Erinnerung überkam ihn, und sie war so lebhaft und deutlich, dass er das Gefühl hatte, durch Zeit und Raum wieder hineinfallen zu können: das letzte Mal, als sie sich geliebt hatten und Annabel ihre Arme hinter seinem Nacken verschränkt hatte.

Ich möchte, dass du mich anschaust dabei. Die ganze Zeit.

Er weinte so leise er konnte, und schlug dabei vorsichtig mit der Faust aufs Waschbecken. Dann atmete er tief ein und zwang seinem Gesicht eine Alltagsmiene auf. Während er sein Spiegelbild anstarrte, murmelte er: »Reiß dich zusammen. Sprich mit ihr.«

Er spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Was er im Spiegel sah, wollte ihm immer noch nicht gefallen, aber jetzt ging es eben nicht besser.

Als er aus dem Bad kam, saß Kat auf dem Bett. Sie lehnte am Kopfteil und hatte die Knie bis ans Kinn gezogen. Mit angstverzerrtem Gesicht starrte sie auf Mikes Handy.

Er rannte zu ihr. »Das dürfen wir auf keinen Fall anmachen.«

»Ich hab Mom angerufen und … und …« Sie fing an zu weinen.

Er riss ihr das Telefon aus der Hand. Die Blockbuchstaben der SMS auf dem Display.

DU BIST ALS NÄCHSTES DRAN.

In seinem Bauch wurde es eiskalt. Er warf das Handy auf den Boden und zertrat es mit der Ferse.

Sie rutschte noch ein Stück zurück, als wollte sie sich der giftigen Wirkung des Handys entziehen. »Was bedeutet das alles? Ich will mit Mommy reden.«

Er kauerte sich neben das Bett und fasste ihre Hände. »Du kannst jetzt nicht mit Mommy reden, mein Schatz.«

»Warum nicht? Warum nicht?«

»Sie kann … sie kann jetzt nicht reden.«

»Das ist keine Antwort. Dad! Das ist keine Antwort

»Hör zu, Schätzchen. Mommy …« Er holte tief Luft und atmete so gleichmäßig aus, wie er konnte. Das letzte Foto seiner Frau war auf dem Handy, das er gerade auf dem Teppich zertreten hatte. »Mommy ist …«

Da klingelte das andere Handy, das elegante Batphone. Mike griff hastig danach. »Shep?«

»Ja«, sagte Shep. »Ich bin’s …« Zögerlichkeit sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich.

»Was?«, fragte Mike. »Was ist los?«

Und Shep sagte: »Sie lebt.«