38
Das Batphone, das zum Aufladen auf dem Nachttischchen lag, weckte Mike mit seinem Rattern, das perfekt zum Pochen in seinem Schädel passte. Seine Lider fühlten sich an wie Gummi, sein Mund kam ihm vor wie mit Sand gefüllt. Er zwang sich, die Augen aufzuschlagen, und löste sich von Kats Seite. Langsam sickerte die Realität in sein Gehirn ein. Ein Motel. Irgendwo in Glendale.
Als er das Gespräch annahm, klang seine Stimme so heiser, als wäre er hoffnungslos verkatert.
»Dodge hat versucht, zu Annabel vorzudringen«, sagte Shep.
Mike fühlte einen jähen Temperaturabsturz, einen arktischen Wind, der durch das schäbige Zimmer blies. »Und?«
»Er ist nicht zu ihr vorgedrungen.«
»Er wollte sie …«
»Kann sein. Er hat einen Elektrodraht fallen lassen. Vielleicht wollte er eine Wanze anbringen, damit sie dich überfallen können, für den Fall, dass du sie besuchen kommst. So oder so beobachten sie sie.«
Mike setzte sich abrupt auf. Die bleischwere Kat rutschte von seinem Arm, ohne aufzuwachen. Snowball II schaute unter ihrer Schulter hervor und bot mit seinen vorquellenden Augen ein Bild der Angst.
»Geht es ihr gut?«
»Ja. Ich meine, dafür, dass sie bewusstlos ist.«
»Sie wollen sie also benutzen, um mich zu kriegen, wenn ich aus dem Untergrund komme?«, fragte Mike. »Glaubst du, das bedeutet, dass sie sie nicht töten werden?«
»Sie könnten immer noch hoffen, dass du dann zu ihrer Beerdigung auftauchst«, meinte Shep.
Die Leitung summte in der Stille.
»Morgen früh gibt es eine Anhörung wegen deiner Vorsorgevollmacht«, fuhr Shep fort. »Bis dahin müssen wir sie verlegt haben, solange du noch die Verantwortung trägst. Du musst ein Fax an Dr. Cha schicken, in dem du verlangst, dass Annabel verlegt wird. Hol dir mal schnell einen Stift und schreib diese Formulierung mit.«
Mike stolperte herum, fiel über seine Schuhe, bis er schließlich einen Stift und ein Stück von einer Papiereinkaufstüte fand, auf der er etwas notieren konnte. Dann nahm er Sheps Diktat auf.
»Okay«, meinte er dann, »aber wie soll ich einen Ort finden, an den sie verlegt werden …«
»Darum werde ich mich kümmern. Du schick mir das Fax. Jetzt.«
Mike bemühte sich, Kat zu wecken, aber sie war völlig weggetreten. Er schüttelte sie sanft, zog sie an den Armen, schob ihr sogar mit dem Daumen die Augenlider nach oben. Schließlich trug er sie zusammen mit ihren Taschen, dem Rucksack und einer herausgerissenen Telefonbuchseite zu ihrem Honda und legte sie auf den Rücksitz. Als sie nur noch ein paar Straßen vom FedEx-Copyshop entfernt waren, wachte sie gereizt auf.
»Was für ein Tag ist heute?«
Frühmorgendliches Grau. Nur wenige Autos auf der Straße. Rauchende Leute an Bushaltestellen. Autofahrer, die aus Starbucks-Bechern schlürften.
»Freitag«, sagte Mike. »Ich glaube, heute ist Freitag.«
»Wo sind wir?«
»Ich muss ein Fax schicken.«
»Und wohin fahren wir danach?«
Mike blinzelte angestrengt und versuchte das Bild seines eigenen Vaters zu verdrängen, der hinter einem anderen Lenkrad saß, unbestimmte Antworten gab und nervös in den Rückspiegel blickte. Eine ganz neue Feindseligkeit machte sich schmerzlich in seiner Brust bemerkbar. In den letzten dreißig Jahren hatte er es gerade mal vom Rücksitz auf den Fahrersitz geschafft.
»Wann können wir endlich wieder nach Hause fahren?«, fragte Kat.
»Ich weiß nicht.« Seine Stimme klang halb erstickt und niedergeschlagen.
Sie ließ sich ans Fenster sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus. Mit neuer Dringlichkeit wurde ihm bewusst, dass sie dieses Nomadenleben nicht mehr allzu lange weiterführen konnten. Irgendwann würde ihnen die Zeit ausgehen. Die Geduld. Und das Glück.
Im Copyshop bereitete er an einem Computer das Fax vor. Kat saß neben ihm auf einem Drehstuhl und schaute zur Decke, um zu beobachten, wie sich die Decke über ihr im Kreis drehte. Bevor er das Dokument ausdruckte, zögerte er mit dem Cursor über dem Explorer-Icon. Er warf einen Blick auf Kat, die sich murmelnd auf ihrem Stuhl drehte. Irgendetwas zerbrach in seiner Brust, und er schaute schnell weg, damit sie nicht sah, wie ihm das Wasser in die Augen stieg.
Über die American Airlines Webseite bucht er ein einfaches Flugticket für Kat nach St. Louis, Abflug um 17.30 Uhr. Annabels Bruder, den Mike in der ganzen Familie immer am liebsten gemocht hatte, hatte gerade geheiratet und sich ein Häuschen in der Vorstadt gekauft. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Fenster mit der Option, ein zweites Ticket dazuzukaufen, und es kostete ihn seine ganze Kraft, auf Nein zu klicken. Schließlich schloss er die Bezahlung über Annabels PayPal-Seite ab. Dann kaufte er ihr noch ein Ticket für dieselbe Strecke, auf dem 23.45 Uhr-Flug, und druckte beide Bordkarten aus.
Er reichte der Dame am Tresen sein Fax – »Ich, Michael Wingate, beantrage hiermit, dass meine Frau, Annabel Wingate, entlassen wird, um zu einem Team von Spezialisten verlegt zu werden, die ich ausgewählt habe auf Grund ihrer Fähigkeit, meiner Frau qualitativ höherwertige Pflege angedeihen zu lassen …« und verließ den Copyshop.
Er lenkte den Honda zur nächsten Auffahrt auf den Freeway und trat kräftig aufs Gaspedal, um möglichst viel Abstand zwischen sich und dem Faxgerät des FedEx-Copyshops zu legen – dessen Nummer groß und breit auf dem Papier stehen würde, wenn sie es im Los Robles Medical Center noch warm aus ihrem Gerät zogen.
»Mom geht mit mir jeden Freitag nach der Schule ein Eis essen«, sagte Kat.
Mike fädelte sich zwischen zwei Sattelschleppern ein und wechselte auf die linke Spur. Hinter der nächsten Kurve wurden sie von einer Wand aus Bremslichtern begrüßt. Mike schwenkte kurz auf den Standstreifen, um die Distanz bis zur nächsten Ausfahrt abzuschätzen.
»Heute ist Freitag«, fuhr sie fort. »Ich weiß, dass Mom nicht … sie kann nicht … Aber vielleicht könnten du und ich ja …«
»Nicht jetzt.« Er musste sich beherrschen, um seine Gereiztheit zu verbergen. Doch sein Ton verriet mehr, als ihm lieb war.
»Warum nicht?«
»Darum!« Er warf einen Seitenblick auf Kat. »Ach, komm schon. Was ist denn?«
»Du hast mich angeschrien.«
»Ich hab dich nicht angeschrien.«
Fahrzeuge verstopften die Ausfahrt. Zwei, drei Ampelphasen würden reichen, um sie wieder in ein Wohngebiet zu bringen. Dann konnte er eine Weile herumkurven, ein neues Motel suchen und sich verstecken, bis … ja, bis was?
Er riskierte noch einen Seitenblick. Kats Gesicht war rot angelaufen, die Haut neben ihrem Nasenrücken war ganz aufgequollen, wie immer, wenn sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. Was sollte er tun? Die meiste Zeit verhielt sie sich reifer als er, aber in diesem Moment war sie acht Jahre alt und vermisste ihre Mutter und wollte Eisessen gehen.
Fünfzehn Minuten und zwanzig verstopfte Straßen später fand er eine Eisdiele. Kat saß auf einem Liliputaner-Stuhl am Tresen und aß Schokoeis mit Nüssen und Marshmallows, ohne den Blick von ihrer Waffel zu heben.
Sie hatte ihm nicht verziehen.
Während er ihr zusah, wie sie an ihrer Kugel herumknabberte und jeden Bissen mit geradezu schwermütiger Konzentration genoss, merkte er, dass das Bild auf ihn den Eindruck einer Henkersmahlzeit machte.
Als sie wieder im Auto saßen, verflog Kats Ärger unter der Zuckerwirkung. Sie legte sich auf die Rückbank und sang: »Miiiss Suzy was a ki-iid, a ki-iid, a ki-iid, Miss Suzy was a ki-iid, and this is what she said.«
Mike fummelte nervös am Lenkrad herum, während er das Handy ans Ohr hielt. »Hat die Ärztin das Fax bekommen?«
»Eben grade«, bestätigte Shep.
»Waah waah, suck my thumb, gimme a piece o’ bubble gum …«
»Und jetzt?«
»Keine Ahnung«, sagte Shep. »Aber wo auch immer Annabel hingebracht wird, wir können sie nicht mehr im Auge behalten. Wir müssen jeden Kontakt zu ihr abbrechen. Das ist der einzige Weg, wie wir ihre Sicherheit garantieren können.«
»Und wenn sie …«
»Du musst sie jetzt loslassen.«
»… was a tee-nager, a tee-nager, a tee-nager, Miss Suzy was a teenager, and this is what …«
»Das kann ich nicht. Sie ist meine Frau. Ich muss wissen, wie es ihr geht.«
»Auch, wenn du sie damit umbringst?«
Mike rang um Beherrschung und bekam sein Gesicht wieder unter Kontrolle. Er atmete ein paar Mal tief durch. »Irgendwas von Kiki Dupleshney gehört?«, fragte er.
»Ich hab erst vor zwölf Stunden angefragt.«
»… piece of bubble gum, go to your room, oooo aah, lost my bra …«
»Ich weiß, Shep, aber …« Mike warf einen Blick zu Kat und brachte seinen Gedanken stumm zu Ende: Aber ich weiß nicht, wie lange meine kleine Tochter das alles noch aushält.
Snowball II begann jetzt zu singen und zu tanzen. Kat ließ seine Stofftierbeine in einer polaren Vegas-Revue hüpfen. Sie war wie benommen und stand kurz davor, die Nerven zu verlieren.
»Katz-und-Maus-Spielchen erfordern eine Menge Warten, Mike. Das weißt du selbst«, sagte Shep.
Der Verkehr hatte sich etwas aufgelockert. Mike hatte einen vollen Tank, wusste aber nicht, wohin er als Nächstes fahren sollte.
Miss Suzys Lebenszyklus hatte sich inzwischen geschlossen: »… to hea-ven, to hea-ven, Miss Suzy went to hea-ven, and this is what she said.«
Er legte das Handy auf den Schoß und beobachtete, wie die Straßenlaternen über sie hinwegzogen. All die Leute auf den Gehwegen, die einkaufen gingen und Kinderwagen vor sich herschoben und ihr ganz normales Leben führten.
Noch sieben Stunden, bis der erste Flug nach St. Louis ging.
»… oooo aah, lost my bra, help me, choke choke, choke, tra-laaaaa!«
Eine Nanosekunde Stille.
Mike atmete erleichtert aus.
»Miiiiiiiss Suzy was a ba-by, a ba-by, a ba-by …«
Sie fuhren an einer öffentlichen Parkanlage mit grasbewachsenen Hügeln, Picknicktischen und Klettergerüsten vorbei. Mitten in der dritten Strophe fuhr Mike an den Straßenrand und sie gingen beide auf die Toilette. Nervös wartete er vor den Damentoiletten, bis Kat wieder herauskam. Dann setzten sie sich an einen der Picknicktische. Mike trug den Rucksack und wühlte in ihren Einkaufstüten nach etwas Essbarem. Er ertappte sich dabei, wie er den Parkplatz abscannte, die Bäume am Wiesenrand, den Typ mit der Sonnenbrille, der seinen Hund spazieren führte. Kat stocherte in ihrem Essen herum. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, schließlich war das schon ihre fünfte Erdnussbutter-Mahlzeit, und das Brot schmeckte definitiv nicht mehr frisch.
»Das Sandwich wird sich nicht von alleine essen«, sagte er.
»Wäre aber supercool, wenn es das könnte«, antwortete Kat.
»Soll ich dir irgendwo ein warmes Mittagessen besorgen?«
»Nein. Wirklich, passt schon.« Kat biss von ihrem Brot ab und kaute übertrieben darauf herum, um zu zeigen, was ihr hier zugemutet wurde. Er nahm den Anblick seiner altklugen Tochter in sich auf und genoss jede Sekunde.
Am Himmel zogen Wolken auf und dimmten das Licht im Park ein paar Watt herunter. Mike dachte an ein einfaches Flugticket ohne Begleitung nach St. Louis. 17.30 Uhr. Ihre Bordkarte zerknitterte gerade in seiner Hosentasche. Er fummelte an seinen Fingern herum, dann räusperte er sich. »Als deine Mutter und ich geheiratet hatten … oh, Mann, wir wollten unbedingt ein Baby. Wir wollten dich mehr als alles andere auf der Welt. Weißt du das?«
Kat nickte ungeduldig, ohne die Augen von dem eingezäunten Klettergerüst zu nehmen. »Darf ich spielen gehen?«
Er bemühte sich, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. »Natürlich, mein Schatz«, brachte er hervor.
Sie schoss den Abhang hinunter und ließ ihr Brot auf dem Tisch liegen. Er räumte auf und folgte ihr, um sich an den Zaun zu stellen und ihr zuzuschauen. Einen Augenblick lang gab er sich einer Phantasie hin: Sie schaukelte in einem großen Garten in St. Louis, während Annabels Bruder und seine frisch Angetraute mit Limonade auf der Terrasse warteten.
Er dachte an den Spielplatz seiner Kindheit, an den Ton der fernen Glocke, und wie er aus dem gelben Tunnel gekrochen war, um die leeren Parkplätze am Bordstein zu sehen. Kannst du mir wohl sagen, zu wem du gehörst?
Sein Herz raste. Er spürte das Bedürfnis, näher bei ihr zu sein, also ging er in den eingezäunten Bereich und schubste sie an. Eine Weile nahm er nichts wahr außer dem Sand unter seinen Füßen, der angenehmen Brise und seiner Tochter, die hin und her schwang, hin und her. Ihr lockiges Haar war hoffnungslos zerzaust und roch nach Früchtebowle. Diese Szene änderte sich nie. Sie hätte genauso gut zwei oder fünf sein können. Er hätte genauso gut neunundzwanzig oder dreiunddreißig sein können.
Er stieß sie an, legte die Hände ganz leicht auf ihren Rücken und ließ sie los, fing sie wieder auf und ließ sie wieder los.