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Der erste Gedanke, der durch Mikes Delirium der Erleichterung drang, war der, dass Dodge und William sie aufgespürt und zu diesem Anruf gezwungen hatten. Er wusste nicht, was er sagte, aber zwischen seinen hervorsprudelnden Worten und dem Pochen seiner Gedanken hörte er seine Frau antworten: »Ja, ich lebe. Ich lebe. Ich bin hier, Schatz.«

Und: »… brauche dich. Ich brauche dich hier. Ich hab solche Angst.«

Und: »Nein, niemand hat mich entführt. Ich bin in Sicherheit. Ich bin kaputt und total wund und ich stinke wie ein ganzes Altenpflegeheim, aber ich bin in Sicherheit.«

Irgendwann drang es in sein Gehirn durch, wie ein einzelner Fanfarenton, der den Lärm ihrer Stimmen übertönte: Sie lebt.

Sie schluchzte, ihre Stimme war gebrochen und schmerzverzerrt. »… hatte solche Angst, als ich gestern aufgewacht bin. Ich dachte, du bist …«

Sie lebt.

Und: »… fast vierundzwanzig Stunden, bis ich endlich sprechen konnte. Ich hatte Sheps Nummer, die eine, die du mir damals gegeben hast …«

Sie lebt.

Und: »Nein, ich hab sonst niemand angerufen. Sie haben mir gesagt, dass mein Vater Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hat, um mich zu finden, aber ich wusste, dass ich warten muss und nur mit dir reden darf. Shep hat mir total verrücktes Zeug erzählt – von einem Indianerstamm …? – und dass niemand wissen darf, wo ich bin. Und dass ihr zwei auf der Flucht seid.«

Ihre nächste Frage holte ihn schmerzlich in seinen Körper zurück und ließ das Hintergrundgeräusch seiner eigenen Worte verstummen. Er fiel in eine Art umgekehrten Schock, seine Sinne waren schmerzhaft geschärft.

Sie wiederholte ihre Frage: »Wie geht es meinem kleinen Schatz?«

Er empfand nichts außer seinen ungefilterten Sinneswahrnehmungen. Die Plastikhubbel des Lenkrads unter seinen Fingern. Das Kondenswasser am Rand der Windschutzscheibe, das die Ränder des gelben Leuchtschildes von Hanks Motel verzerrte. Die Falten seines Hemdes, die ihn am Rücken scheuerten.

Mike räusperte sich energisch. »Hat Shep dir das nicht erzählt?«

»Was erzählt?« Alle Wärme war aus ihrer Stimme verschwunden.

Er zwang die Worte aus sich heraus: »Ich musste sie verlassen.«

»Verlassen? Verlassen? Wie lange ist das her?«

Fünf Tage, vierzehn Stunden und siebzehn Minuten.

»Ein paar Tage«, sagte er brüsk.

»Ein paar Tage? Hast du gerade gesagt …«

»Annabel, ich verspreche dir …«

»Hast du dich in der Zwischenzeit vergewissert, dass es ihr gutgeht?«

»Das … Das ging nicht. Das geht nicht. Da waren …«

»Sie war allein? Ohne dich?« Ihre Worte verschwammen und wurden unverständlich. Ihr Atem kam stoßweise. »Aber du weißt, dass es ihr gutgeht? In diesem Moment?«

Er merkte selbst, dass er eine Sekunde zu lange gezögert hatte. »… Ja.«

»Nein.« Ihre Stimme klang jetzt zerbrechlich, winzig, flehend. »Nein, du weißt es nicht. Wo ist sie?«

»Äh …«, mischte sich Shep ein.

Mike hatte ganz vergessen, dass sie zu dritt in der Leitung waren. Der Klang von Annabels Stimme hatte alles andere ausgeblendet, aber Sheps Einwurf holte ihn in die rauhe Wirklichkeit zurück.

»Das … das kann ich dir nicht verraten«, sagte Mike.

Annabel atmete schwer, vielleicht hyperventilierte sie sogar. Im Hintergrund hörte er das Piepsen eines medizinischen Überwachungsgeräts. »Was soll das heißen?«, fragte sie.

»Du rufst von einem Krankenhaustelefon an«, sagte er.

»Ich kann noch nicht gehen, Mike.« Ihre Stimme klang jetzt völlig tonlos. »Wo sollte ich bitte hingehen, um zu telefonieren?«

»Sie sind immer noch hinter uns her. Hinter dir auch. Sie haben dich überfallen, um Kat und mich dranzukriegen. Wir wissen nicht, ob sie deinen Anschluss auch schon wieder angezapft haben. Auf diesem Telefon kann ich es dir nicht sagen.«

»Wo ist meine Tochter?«

»Sie könnten uns hören. In diesem Moment könnten sie uns zuhören.«

»Weiß Shep, wo sie ist?«

»Niemand weiß es.«

»Außer dir.«

»Ich hol sie morgen ab, Annabel. Wir haben es fast überstanden. Wir sind kurz davor, diese Typen zu überführen, und dann können wir auch unser Leben wieder aufnehmen. Es handelt sich höchstens noch um Stunden, mein Schatz. Stunden

Jetzt weinte sie. Es klang, als hätte sie jede Hoffnung verloren. Mike sah sie vor sich, wie sie mit ihren ganzen Verletzungen in einem fremden Zimmer ans Bett gefesselt war, voller Medikamente und voller Angst.

Ohne es zu merken, war er auf einen Parkplatz vor Hanks Tür gefahren und hatte den Automatikhebel auf Parken gestellt. »Ich hol sie morgen ab«, sagte er, »und dann bring ich sie dir.«

»Bitte sag mir, wo sie … dass sie …«

Er musste seine ganze Kraft zusammennehmen, um sein Herz gegen sie zu verhärten.

Kein Ehemann.

»Morgen«, wiederholte er. »Dann ist alles wieder gut.«

»Ich muss es wissen.« Die Worte drangen nur mühsam durch ihr Schluchzen. »Ich muss einfach die Stimme von meinem kleinen Schatz hören.«

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich liebe dich.«

Er klappte das Telefon zu. »Es tut mir leid«, sagte er zu seinem Handy. »Es tut mir leid. Es tut mir leid.« Die Hitze stieg ihm vom Hals ins Gesicht, und er drosch mit der Hand aufs Lenkrad. Einmal, zweimal, dreimal. Seine Knöchel brüllten.

Dann saß er schwer atmend da und sagte sich immer wieder vor: Nur noch Stunden. Stunden.

Annabel lebte. Kaum zu glauben, aber nun stand noch mehr für ihn auf dem Spiel als vorher. Als er anklopfte, rief Hank: »Ja, komm rein.«

Die Tür war unverschlossen und Mike trat ein. Er trat auf den kurzen Vorflur. Das Zimmer war dunkel und wurde nur von dem Laptop erleuchtet, der aufgeklappt auf dem winzigen Tisch stand und seinen buntwirbelnden Bildschirmschoner abspielte. Hank saß mit zusammengesackten Schultern auf dem Bett und drehte ihm den Rücken zu. »Ja, komm rein«, wiederholte Hank. Der Bildschirmschoner warf sein flackerndes Licht auf seine eine Körperhälfte, bevor der Schein zur Decke weiterwanderte.

Mike trat an die Schwelle und fühlte, wie ihm ein Lächeln auf die Lippen trat. »Wir haben’s geschafft, Hank.«

Ein Miau kam aus dem Dunkel, und Hanks dicke Tigerkatze trat aus der Schwärze, um sich an Mikes Bein zu reiben. Sie setzte sich auf seinen Fuß und begann sich emsig die Pfote zu lecken.

Mike hielt das Kuvert hoch. »Hier ist alles drin.«

Der Bildschirmschoner wirbelte immer weiter, warf Lichtstreifen auf die Wand, auf den Lampenschirm, auf Mikes Schuhe. Er sah ein paar verzogene Bodendielen. Eine Reihe von winzigen Pfotenabdrücken, schwarz verschmiert, führte vom Bett zu der Katze, die zu Mikes Füßen saß.

Eiskalte Gänsehaut kroch Mikes Arme hoch und über seine Schulterblätter.

Er ließ das Kuvert fallen, griff nach der Smith&Wesson, die im Bund seiner Jeans steckte. Der Umschlag fiel auf den Boden, und die Katze schoss erschrocken davon, wobei sie weitere blutige Abdrücke hinterließ.

Mike hob den Revolver, zielte und wirbelte herum, um ins Halbdunkel hinter sich zu spähen. Hank saß immer noch so still da wie eine Marmorstatue. Erst jetzt sah Mike das Diktiergerät, das neben ihm auf dem Bettüberwurf lag. Und wieder tönte Hanks Stimme aus den kleinen Lautsprechern: »Ja, komm rein

Mike stellte sich mit dem Rücken zur Wand und hörte nur noch seine Gedanken und das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren. Ein leises Rascheln kam aus dem dunklen Badezimmer, das zwischen ihm und der Eingangstür lag. Er stand auf dem Flur.

Während er sich Zentimeter für Zentimeter ins Zimmer bewegte, verbreitete der Bildschirmschoner weiter seine Disco-Effekte und ließ den Eindruck entstehen, dass Wände und Decke lebten, sich ausdehnten und wieder zusammenzogen wie Lungenflügel. Im wässrigen Licht bemerkte Mike das Internetkabel, das vom Laptop zur Steckdose unter dem Schreibtisch führte, und er wusste mit zerstreuter, aber dennoch glasklarer Sicherheit, dass sie Hank zum Motel zurückverfolgt hatten, sowie er sich ins Internet eingeloggt hatte.

Die Katze schoss in sein Blickfeld, ein Flüstern an den seitlich herabhängenden Rüschen des Bettüberwurfs, und Mike fuhr zusammen. Aus den Augenwinkeln sah er gleichzeitig eine Bewegung neben den Vorhängen. Er machte eine Vierteldrehung und zog den Abzug. Das Mündungsfeuer beleuchtete den Wandspiegel, als diesen bereits das spinnwebartige Muster rund um das Einschussloch überzog.

Zu spät hörte Mike, wie hinter ihm etwas durch die Luft pfiff, dann schnellten die verzogenen Bodendielen nach oben und trafen ihn ins Gesicht.