20
»Wir wissen, wer du bist.«
Mike bewegte sich im Bett, als er die heiser flüsternde Stimme hörte. Er spürte die Wärme von Kats Körper in seiner Nierengegend.
Seine Augen öffneten sich. Das Babyphone, das in Augenhöhe auf seinem Nachttischchen stand, starrte ihm ins Gesicht.
Wieder loderten die roten Balken auf, stiegen und fielen wie ein geschminkter Mund.
»Fragt sich nur – weißt du es auch?«
Dann riss ein ohrenbetäubendes Kreischen Mike vollends aus dem Schlaf. Das war der Ton, der entstand, wenn der Empfänger in Kats Zimmer ausgesteckt wurde, aber so unerwartet in der Dunkelheit klang es einfach nur nach einem Schrei.
Er sprang aus dem Bett, wühlte in seiner Schublade nach dem Revolver und den Patronen. Kat drehte sich mit einem Schrei um, stieß dabei gegen Annabel, und die beiden setzten sich ruckartig auf und saßen panisch zwischen den Decken. Das Babyphone heulte immer noch, bis Annabel es packte und das Kabel aus der Wand riss. Mike sprintete den Flur hinunter, und stieß dabei mehrfach gegen die Wände, weil er gleichzeitig die Patronen einlegte, einige fallen ließ und ein paar andere im Rennen wegkickte, dass sie wie Flipperbälle über die Dielen schossen.
Mit der Waffe im vorgestreckten Arm bog er in Kats Zimmer. Stille – ein gemachtes Bett, ordentlich aufgereihte Bücher, ein von Staubsaugerspuren gestreifter Teppich. Die einzige Bewegung kam von der Gardine, die sich im leichten Wind bauschte. Auf tauben Beinen ging er zum Fenster und riss den Vorhang beiseite.
Beide Schlösser geöffnet. Das Fenster stand mehrere Zentimeter offen. Ein schwarzes Viereck aus Nacht starrte ihn durch die Scheibe an.
Er schob das Fenster komplett auf und drückte dabei das gelockerte Fliegengitter heraus, das es sich in den feuchten Büschen unter dem Fenster gemütlich machte. Er lehnte sich hinaus, zielte erst nach links, um dann nach rechts zu schwingen, aber ihm schlug nur Stille entgegen und das schwache Zischeln der Rasensprenger.
Annabel rief mit zittriger Stimme vom Flur: »Mike?«
»Ich geh raus. Nimm Kat und schließt euch im Badezimmer ein. Nimm das schnurlose Telefon mit, und wenn ihr Schüsse hört, ruf 911.«
Er sprang aus dem Fenster und rannte um die Hausecke. Als er ein paar Schritte über den Pfad aus Betonplatten getan hatte, sah er auch schon das hölzerne Gartentor, das offen stand und in der Brise leicht hin und her schwang. Als ihn der kalte Wind traf, wurde ihm bewusst, dass er barfuß war und nichts als Boxershorts und ein T-Shirt anhatte.
Er lief zum Tor, machte sich innerlich auf alles gefasst und bretterte mit voller Kraft gegen das Gartentor, um mit einem Satz auf der Auffahrt zu landen. Während er die Smith&Wesson mit beiden Händen umklammerte, sah er sich um. Niemand.
Mit dem Revolver in der Hand trabte er über den Rasen vorm Haus, der sich kalt unter seinen Füßen anfühlte. Am Rand des Grundstücks blieb er stehen. Die Insektenlampe auf der Veranda der Martins gegenüber summte und verbreitete ein diffuses oranges Licht. Die Zypressen an der Grundstücksgrenze, die wie spitze Hexenhüte aufragten, wippten im Wind. Er horchte angestrengt, aber der starke Wind ließ rundum die Zweige und Blätter rascheln.
»Wo bist du?« Es fühlte sich komisch an, mit einer leeren Straße zu sprechen. »Willst du dich verstecken?« Er war so wütend, dass seine Stimme ihre Festigkeit zurückgewann. »Ich hab keine Angst. Ich bin hier. Hier, schau her!« Es rauschte noch ein bisschen, aber sonst war nichts zu hören. Er fuhr herum und rief nach rechts: »Wer bin ich denn? Wer bin ich?«
Bei seinen Nachbarn, den Epsteins, ging das Licht im Schlafzimmer an. Im Haus hörte er Kat weinen. Grillen krabbelten über die Grashalme an seinen Fußknöcheln. Nach einer Weile setzte ihr Zirpen wieder ein.
Er hörte Autoreifen und fuhr erneut herum, um vom einmaligen Aufheulen einer Polizeisirene begrüßt zu werden. Ein Deputy-Fahrzeug hielt vor seinem Briefkasten, und er legte den Arm auf den Rücken, um den Revolver zu verstecken. Das Fenster glitt herunter und Elzeys dunkles Gesicht erschien. Sie sprang aus dem Auto und warf die Tür zu.
»Was haben Sie da in der Hand?«
Mike drehte sich weg und schob die Smith&Wesson unter den Gummibund seiner Boxershorts, wobei er betete, dass ihr Gewicht sie nicht nach unten durchrutschen und durch ein Hosenbein herausfallen ließ. Dann hob er die leeren Hände hoch.
»Ich weiß, was Sie sich da hinten reingeschoben haben, Wingate.« Elzey, die eine Hand auf dem Griff ihrer Pistole im Hüfthalfter ruhen ließ, überquerte den Bürgersteig. »Auf Ihren Namen ist keine Waffe gemeldet. Wenn Sie da also eine Waffe haben, dann haben Sie jetzt ein ernsthaftes Problem.«
»Ich habe Ihnen nicht erlaubt, mein Grundstück zu betreten.«
Sie blieb jäh stehen. Der Garten war dunkel, und die Schatten auf ihrem Gesicht verliehen ihr ein hartes, grobknochiges Aussehen. Markovic war jetzt auch ausgestiegen und starrte ihn über das weiße Autodach an. Mike spürte einen starken Geschmack von Herbst in der Kehle – verrottende Blätter, Torf, Tau. Eine schmale Mondsichel warf ihr spärliches Licht auf die Szenerie.
»Gehen Sie von meinem Grundstück«, sagte Mike. »Oder zeigen Sie mir Ihren Durchsuchungsbefehl.«
»Sind Sie sicher, dass Sie es auf die Tour machen wollen?«, frage Elzey.
»Warum sind Sie hier?«, fragte Mike.
»Nachdem Sie die Polizeistation verlassen hatten, haben wir uns Sorgen gemacht«, behauptete Markovic.
»So große Sorgen, dass Sie gleich mal draußen rumgefahren sind, um unser Haus im Auge zu behalten«, ergänzte Mike.
»Genau«, sagte Markovic. »Wir sind vorbeigefahren und haben einen Blick auf ihr Haus geworfen.«
»Sie haben nicht zufällig auch einen Blick auf den Garten hinterm Haus geworfen? Auf das Fenster meiner Tochter? Und in ihr Schlafzimmer?«
Die Gesichter der Deputys leuchteten ihm aus der Dunkelheit entgegen. Markovic tippte mit dem Finger auf die kleine Kamera, die am Rückspiegel des Wagens befestigt war »Wir haben Aufnahmen mit automatischer Zeitanzeige und GPS, und beides kann unsere gesamte Streifenroute von heute Nacht belegen. Sie sollten also lieber ein bisschen aufpassen, was für Anschuldigungen Sie da vorbringen.«
»Es ist gerade jemand ins Zimmer meiner Tochter eingebrochen.«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht irgendwelche Dinge hören?«, meinte Elzey. »Ich meine, wenn Sie um ein Uhr morgens halb nackt mit einer Waffe in der Unterhose durch Ihren Garten springen, mildert das unseren Verdacht nicht unbedingt.«
»Halb nackt ja. Aber ohne Waffe.«
»Okay«, sagte Elzey. »Wenn es also einen Einbruch gegeben hat, dann müssen wir Ihr Grundstück betreten, wenn Sie wollen, dass wir einen Bericht aufnehmen.«
»Noch einen Bericht?«, fragte Mike. »Nein danke. Warten wir doch erst mal ab, was für Erfolge Sie mit Ihrem ersten erzielen.«
Elzey zuckte mit den Schultern. »Bitte, wie Sie wollen.«
Mike ging rückwärts zum Gartentor, um sie im Auge behalten zu können und die Waffe weiterhin zu verbergen. Sie beobachtete ihn amüsiert. Als er durch das Tor ging, setzte sie sich auf den Beifahrersitz, und ihre Tür knallte im selben Moment zu, in dem das Gartentor ins Schloss fiel.
Der Motor sprang an, und der Streifenwagen glitt davon.
Auf dem Rasen vorm Haus war es ganz still.
In den gesprenkelten Schatten der schweren Farnwedel am anderen Ende des Hauses lehnte sich William gegen das taufeuchte Fensterbrett des Küchenfensters. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit und schwebte in der Dunkelheit wie der Bogen einer Sichel.