22
Fünf Stunden und siebenundfünfzig Minuten später klingelte es an der Tür.
Die Familie hatte sich im Elternschlafzimmer zusammengekuschelt, und die ersten Streifen des Morgenlichts verbanden ihre Körper. Mike und Annabel hatten bis fünf Uhr nicht einschlafen können, aber dann fiel ihr Adrenalinspiegel schließlich und hinterließ nur wachsende Angst und blanke Erschöpfung. Er war voll bekleidet weggedöst, in der einen Hand den Revolver, in der anderen ein Paar Patronen.
Mikes Augenlider flatterten, und er hob den Kopf, der über Nacht ein ganzes Stück schwerer geworden zu sein schien. Auf dem Wecker stand 7.47 Uhr – zu spät für Schule und Arbeit. Nicht, dass das an diesem Tag irgendwie wichtig gewesen wäre. Ohne den Revolver aus der Hand zu legen, ging er durch den Flur. Da sie keinen Türspion hatten, öffnete er die Haustür mit vorgelegter Kette und zuckte überrascht zusammen.
Reno war über fünfhundert Meilen entfernt – was ungefähr einer achtstündigen Fahrt entsprach. Nach Mikes Anruf musste Shep aufgelegt haben, direkt zu seinem Auto marschiert und die ganze Strecke mit strammen hundertdreißig Stundenkilometern durchgefahren sein.
Zum ersten Mal seit ein paar Tagen spürte Mike Erleichterung. Er legte die Smith&Wesson neben die leere Vase auf das Tischchen, löste die Sicherheitskette und machte die Tür weit auf. Sheps massive Gestalt verdeckte die aufgehende Sonne. Hinter ihm stand ein 67er Mustang in der Auffahrt und dampfte wie ein eingeseiftes Pferd. Die Luft über der Motorhaube waberte von der Hitze. Ein mitternachtsblaues Auto mit zwei weißen Streifen vom Dach bis über den Kühler.
Shep bewegte sich leicht zur Seite, so dass ihm ein Sonnenstrahl über die rechte Schulter fiel und die rechte Hälfte seines Gesichts streifte. Er hatte eine neue Narbe, ein knotiger Hautstreifen direkt unter dem Ohr – vielleicht eine zerbrochene Bierflasche. Aber Mike wusste, dass sie über so etwas niemals reden würden. Shep hatte immer noch kurze Haare, nur wenig mehr als Stoppellänge, genau die richtige Frisur, um Pflegeheimläuse zu vermeiden. Er trug ein Unterhemd mit V-Ausschnitt, den Anhänger mit St. Jerome, dessen Gesicht vom vielen Tragen schon abgerieben war wie der Kopf auf einer alten Münze. Die Muskeln auf Sheps Brustkorb waren so deutlich definiert wie noch vor einem Jahrzehnt bei Mike. Obwohl Mike für sein Alter immer noch gut in Form war, zeigte dieser Kontrast sehr deutlich, dass er weicher geworden war.
Der vertraute Anblick von Sheps leicht übereinandergeschobenen Schneidezähnen hatte etwas Tröstliches. Es fühlte sich an, als wäre er zu Hause. Aber natürlich gab es abgesehen von der violett geränderten Narbe noch weitere Unterschiede zu früher. Die Muskeln in Sheps Genick waren hart geworden und hatten mit fortschreitendem Alter etwas Sehniges bekommen. Seine Gesichtszüge wirkten ausgeprägter, sie hatten eine magere, hungrige Intensität, der fast etwas Wölfisches anhaftete. Während er seinen alten Freund an der Schwelle musterte, wurden Mike die versäumten Jahre nur zu bewusst.
»Na?«, fragte Shep.
»Hast du keine Sachen dabei?«, fragte Mike.
»Nö.«
Hinter Mike hörte man Kats leicht patschende Schritte auf den Fliesen. Shep ging an ihm vorbei und ging vor ihr in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein. »Die Augen«, sagte er.
»Du bist aber groß«, sagte Kat, und dann zu Mike: »Der ist aber groß.«
»Kat, das ist Shep.«
Kats Hand sah winzig aus, als sie seine Pranke schüttelte. Annabel kam um die Ecke und strich sich gerade das T-Shirt glatt. Sie erstarrte, als sie Shep sah.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Ich brauchte dringend jemand Neues, mit dem ich streiten kann.«
Shep sah sie verständnislos an.
»Das war ein Scherz«, sagte sie. »Bloß das Dankeschön nicht, das war ernst gemeint.«
Sie gingen in die Küche. Gähnend nahm Annabel die Omelette-Pfanne vom Regal, musterte sie müde und stellte sie dann auf die Arbeitsplatte, um erst mal Kaffee für die Erwachsenen einzugießen und Kat eine Schüssel Cornflakes hinzustellen. »Bitte schnell essen, mein Schatz, wir müssen dich in die Schule bringen.«
»Ich weiß nicht, ob ich möchte, dass sie heute in die Schule geht«, meinte Mike.
»Glaubst du denn, die Typen sind hinter mir her?« Kats Wangen sahen hohl aus, dunkle Fingerabdrücke unter ihren Augen. Sie hatten ihr erklärt, was passiert war, obwohl sie die Details so vage wie möglich gehalten hatten. Sie musste wissen, dass gefährliche Männer sie im Visier hatten. Aber sie musste nicht wissen, dass sie sich in ihr Schlafzimmer geschlichen hatten, während sie schlief.
»Nein, mein Schatz«, sagte Mike. »Die wollen auf mich los. Aber ich bin lieber ein bisschen übervorsichtig, wenn es um dich geht.«
»Die Lehrer sind informiert«, sagte Annabel. »Der Pausenhof ist eingezäunt, sie haben ständig drei Aufsichten draußen, und außerdem scheint es ihnen ja leichter zu fallen, in unser Haus einzubr…« Sie brach ab und warf einen raschen Blick auf Kat, aber die war vollauf damit beschäftigt, Shep anzustarren. Mit einem gewissen Bedauern wurde Mike bewusst, dass Kat noch nie jemand wie ihn gesehen hatte. »Außerdem«, fuhr Annabel fort, »müssen auch Babysitter und Verwandte, die auf der offiziellen Liste stehen, einen Ausweis vorlegen, wenn sie ein Kind abholen wollen. In der Schule ist sie wahrscheinlich sicherer als hier.«
»Wieso, ist es hier denn nicht sicher?«, fragte Kat.
Shep nippte an seinem Kaffee, starrte geradeaus und schob ganz bewusst seine Taubheit vor. Wenn es strategisch notwendig war oder es ihm einfach besser in den Kram passte, konnte er sich auf diese Art völlig zurückziehen. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, konnte Mike ihm alles erklären, aber bis dahin scherte er sich um nichts.
»Du bist hier sicher«, sagte Mike. »Wir werden dafür sorgen, dass du hier sicher bist. Und die Schule ist auch sicher.«
Annabel nahm Kat bei den Schultern und steuerte sie Richtung Flur. Auf dem Weg nach draußen fiel Annabels Blick auf ihr Lehrbuch – Erfahrung und Erziehung – und stöhnte auf: »Oh, nein, ich sollte für heute einen fiktiven Stundenplan schreiben. Dr. Skolnick wird sauer auf mich sein.«
»Wir kriegen das alles schon wieder hin«, sagte Mike.
Annabel warf einen Blick auf Shep, der immer noch stur geradeaus stierte und bedächtig Schlückchen für Schlückchen von seinem Kaffee nahm. »Versprochen?«
Das Telefon klingelte. Mike rieb sich den Schlaf aus den Augen und nahm ab.
»Spreche ich mit Michael Wingate?«, fragte eine Frauenstimme.
»Ja.«
»Mein Name ist Dana Riverton«, sagte sie. »Ich kannte Ihre Eltern.«
Dana Riverton hatte ihm keine weiteren Informationen gegeben oder ihm verraten, warum sie ihn treffen wollte. Sie hatte nur gesagt, dass sie die Angelegenheit lieber persönlich regeln wollte. Mike hatte ein nahe gelegenes Café ausgesucht und sich mittags dort mit ihr verabredet. Shep würde im Hintergrund zusehen und die Frau nach Hause verfolgen, um ihre Adresse festzustellen.
Mike hatte Sheila gebeten, sämtliche Termine für diesen Tag abzusagen. Er hatte Hank angerufen, weil er unbedingt herausfinden wollte, wer dafür gesorgt hatte, dass ihn die Polizei im Visier hatte, und welche Behörden ihn nicht auf ihrer Liste hatten. Hank mühte sich ab, lief aber überall vor Wände und fand die Sache von Stunde zu Stunde ominöser. Er erwartete mehrere Rückrufe und versprach, dass er sich sofort melden würde, wenn er irgendwelche Informationen bekam. Bevor er auflegte, hatte Mike ihn noch gebeten, nach Möglichkeit etwas über Dana Riverton herauszufinden.
In den paar Stunden, die seitdem vergangen waren, hatte Mike Shep alles erklärt. Der hatte aufmerksam gelauscht und ihn ab und zu unterbrochen, um sehr detaillierte Fragen zu stellen, die Mike nicht immer beantworten konnte: »Haben diese Typen irgendwelche Knast-Tattoos?« »Hat Dodge sich wie ein Boxer hingestellt oder wie einer, der auf der Straße kämpft?« »Wer ist ranghöher, Markovic oder Elzey?« Dann gingen sie zu zweit das ganze Haus ab, wobei sie besonders viel Zeit an Kats Fenster verbrachten. »Du brauchst ein stabile Schiene mit einem Rahmenschloss, sonst kann da jemand einen beweglichen Haken einführen und das Schloss aufmachen. Siehst du die Kratzspuren hier? Die stammen nicht von einem Hühnchen.«
Jetzt saßen sie im Wohnzimmer, und Shep begann mit seinem Kommentar zur Sicherheit im gesamten Haus. »Eure Schlösser sind Scheiße«, sagte er. »Das Schlage-Schloss in der Waschküche könntest du mit einer gekochten Nudel knacken. Wir werden die nötigen Schlösser austauschen, sobald wir mit dieser Riverton-Tante fertig sind. Die seitlichen Gartentore brauchen auch Vorhängeschlösser. Ich hab einen Freund, der in Fort Lauderdale Rottweiler trainiert, scharfe Wachhunde. Gib mir zwei Tage, und ich beschaff dir einen.«
»Einen scharfen Rottweiler? Und was ist mit Kat?«
»An Kat denke ich ja gerade. Deswegen brauchen wir einen Wachhund. Denn kannst du im Garten hinterm Haus rumlaufen lassen.«
»Und wie machen wir das mit …«
»Ich kümmer mich schon um ihn.« Shep zog zwei schmale schwarze Handys aus der Tasche und legte eins vor Mike auf den Sofatisch. »Die sind nur für uns zwei. Benutz es für keine anderen Zwecke. Ich wiederhole: Benutz es für keine anderen Zwecke. In beiden ist jeweils die Nummer des anderen einprogrammiert.«
»Kann ich Annabel deine Nummer geben? Für den Fall, dass …«
»Ihr schon, aber sonst keinem. Trag dieses Handy die ganze Zeit bei dir. Und wenn möglich, schick mir SMS. Ich sprech nicht gern am Telefon.«
Mike wusste, dass das Problem nicht das Sprechen, sondern das Hören war. Er lehnte sich zurück und zupfte an seinem Schuh herum. Es war 10.45 Uhr, und je näher das Treffen mit Dana Riverton rückte, umso stärker wurden seine unguten Vorahnungen.
Erst Dodge und William, und jetzt tauchte auf einmal diese Frau auf? Ganz schöner Zufall. Ihre Behauptung, dass sie seine Eltern gekannt hatte, musste ein mieser Trick sein. Er verachtete sich für seine Hoffnung, dass vielleicht doch noch etwas anderes dahinterstecken könnte.
Doch dann konzentrierte er sich wieder auf das Gespräch mit Shep und steckte das Handy ein. Shep beugte sich vor, so dass der Anhänger vor seiner Brust baumelte, und faltete die rauhen Hände.
Die erste Ruhepause seit seiner Ankunft.
Es verstrich eine verlegene Minute, dann fragte Mike: »Was hast du eigentlich in der Zwischenzeit so getrieben?«
Shep zuckte mit den Schultern. »Meistens Brüche. In Reno ist ’ne Menge Bargeld in Umlauf, du weißt schon, Glücksspiel halt. Einmal hab ich auch ’ne Bank überfallen, aber ohne Waffen. Wir sind einfach am Abend durch die Rückwand eingebrochen. Den Lärm haben wir mit einem Presslufthammer von einem falschen Bauarbeiterteam vor der Bank übertönt.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das war ’ne einmalige Geschichte.«
»Ich wette, du bist mittlerweile echt der Hammer«, sagte Mike. »Beim Tresorknacken, meine ich.«
»Du würdest deinen Augen nicht trauen.« Shep lehnte sich zurück und legte die ausgestreckten Arme rechts und links auf die Rückenlehne.
Mike dachte an die anderen. Charlie Dubronski, der seine Strafe für bewaffneten Raubüberfall absaß. Tony Moreno, der sich auf einer Autobahntoilette eine Überdosis Heroin gespritzt hatte. Lauter falsche Abzweigungen, lauter Sackgassen. Und hier saß Mike Wingate mit seinem Ford F-450 und dem Grundstückserschließungsvertrag, seiner reinherzigen Frau und seiner aufgeweckten Tochter. Er hatte ein Riesenglück gehabt. Bis jetzt.
»Okay, was kommt als Nächstes?«, fragte Mike.
»Hol mir mal dein Handy. Dein eigenes, meine ich.«
Als Mike es ihm gegeben hatte, klickte Shep sich ein bisschen durch die Menüs, dann hielt er ihm das Display hin. Der gekennzeichnete Eintrag lautete A.s Handy. »Ist das die Nummer, die sie haben?«
»Ja, das ist ihre.«
Shep schaltete auf Lautsprecher und wählte. Er landete direkt auf der Mailbox. »Hallo, hier ist Annabel. Wahrscheinlich suche ich mein Handy gerade in dem Spalt zwischen …« Shep legte auf. Mike stieg die Hitze ins Gesicht. Der Gedanke, dass sie auch noch eine Aufnahme ihrer Stimme besaßen, machte ihn zornig. Er stellte sich ihr Handy in Williams schwitziger Hand vor, in Dodges riesiger Tasche, auf dem Armaturenbrett des zerbeulten weißen Vans.
»Sag ihr, dass sie das Handy nicht gestohlen melden soll«, bat Shep. »Wir wollen, dass das Ding aktiv bleibt.«
»Warum?«, fragte Mike.
Shep drückte immer noch auf den Tasten herum, also stand Mike noch einmal auf, ging zum Sofa gegenüber und blickte seinem Kumpel über die Schulter. Er hatte gerade eine SMS geschrieben: WAS WOLLT IHR?
Er sah Mike an, und der nickte. Shep drückte auf »Senden«, holte einen Block heraus und notierte sich die Zeit. Dann legte er das Handy auf die Glasplatte des Wohnzimmertischs.
»Sie schalten ihr Handy nur in Abständen ein«, sagte er. »Auf die Art ist ihre Position schwerer zu bestimmen.«
»Unmöglich?«
»Schwerer.«
Sie setzten sich hin. Shep, der generell nichts von Smalltalk bei der Arbeit hielt, starrte geradeaus in die Luft. Mike musste sich beherrschen, nicht die ganze Zeit an seinen Händen herumzufummeln. Zehn Minuten vergingen. Zwanzig. Jetzt mussten sie schon bald daran denken, zu dem Café aufzubrechen. Mike warf einen Blick auf seine Armbanduhr und räusperte sich, um Aufbruch vorzuschlagen.
Als plötzlich das Handy auf dem Glastisch losratterte, hielt er vor Schreck die Luft an. Es war so laut, dass er die Vibrationen bis in die Zähne spürte, aber Shep blinzelte kaum.
Mike beugte sich vor, nahm es in die Hand und las mit zitternden Händen die neue SMS.
DU HAST ECHT KEINEN SCHIMMER, ODER?
Ein kalter Schauder kroch Mike den Rücken hoch. Er wollte gerade etwas sagen, da wedelte Shep mit einem Finger, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er warf einen Blick auf seine Uhr, notierte wieder die Zeit, dann deutete er auf das Telefon.
Mike tippte: NEIN.
Er legte das Telefon wieder auf den Tisch und lehnte sich zurück. Die Männer starrten das Handy eine geraume Weile an. Diesmal war Mike auf ein Vibrieren gefasst, aber die Erwartung ließ ihn nur noch heftiger zusammenfahren, als es dann tatsächlich summte.
Er klappte es auf. Seine Hände zitterten noch stärker, aber es war ihm inzwischen egal, was Shep von ihm dachte. Die Nachricht ließ sie beide erstarren – es kam ihm vor, als wäre sein ganzer Körper, sein Herz in einem Augenblick aufgeschobener Angst eingefroren.
WARTE EINFACH AB.