17
Mike raste nach Hause, überfuhr rote Ampeln und Stoppschilder und wählte dabei immer wieder Annabels Festnetznummer. Schließlich nahm sie ab.
»Hi, Schatz«, sagte sie. »Ich bin gerade zur Tür reingekommen. Also, die Küchenspüle wird echt immer schlimmer. Ich weiß, der Schuster hat immer die schlechtesten Schuhe, aber langsam …«
Er fiel ihr ins Wort. »Hast du mir eine SMS geschickt?«
»Wann hätte ich dir jemals eine SMS geschickt? Ich bin doch keine vierzehn.«
»Wo ist dein Handy?«
»Das such ich schon den ganzen Morgen. Ich glaub, das hab ich in der Schule liegen lassen.«
Er brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen, dann sagte er: »Sie haben es geklaut. Ich habe heute eine SMS von dir bekommen, in der du mich fragst, wo der Schlüssel zu unserem Schließfach ist.«
»Auf deinem Nachttisch zwischen den Taschentüchern. Das würde ich doch nicht fragen.«
Er erzählte ihr rasch von der SMS, Williams Besuch auf der Baustelle und dem Einbruch im Büro. Düsteres Schweigen in der Leitung, während sie versuchte, die Informationen zu verdauen. »Okay … sie wollen also an das Schließfach, weil Leute an so einem Ort private Dinge verwahren, die sie nicht zu Hause verstecken wollen.« Ihre Stimme zitterte ganz leicht. »Was bedeutet, dass sie das Haus durchsucht haben.«
»Sie haben mein Büro durchsucht.« Er bog in ihre Straße. »Ich bin gleich da.«
Jetzt wurde sie wütend. »Woher wissen die denn überhaupt, dass wir ein Schließfach haben? So was hat doch nicht jeder. Außerdem gibt es doch das Bankgehei …« Sie hielt inne. Er hörte, wie sie laut atmete, als ihr klar wurde, was sie da gerade sagte.
»Die Deputys«, sagte er. »Die Polizei könnte solche Dinge einsehen und herausfinden, ob es bei der Bank ein Schließfach auf meinen Namen gibt.«
Sie kam ihm mit dem Schlüssel in der Hand entgegen, als er in die Auffahrt bog. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, eine Sekunde bevor die Worte an sein Ohr drangen. »Glaubst du, dass die zusammenarbeiten? Diese Typen und die Deputys?«
»Irgendjemand schnüffelt da auf hohem Niveau, sei es offiziell oder inoffiziell.« Er sprach immer noch ins Telefon, obwohl sie nur ein paar Schritte von ihm entfernt war.
Er ließ das Fenster herunter und sie beugte sich vor, ließ den Schließfachschlüssel in seinen Schoß fallen und küsste ihn fest auf den Mund.
Als sie sich wieder aufrichtete, war ihr Blick intensiv und ängstlich. »Was immer das ist – wie kommen wir da raus?«
»Kommt drauf an, was sie wollen«, meinte er.
»Sieht so aus, als wollten sie wissen, woher du kommst.«
Er schloss die Faust um den Schlüssel und legte den Rückwärtsgang ein. »Wollen wir das nicht alle?«
Unter den Blicken seines liebsten Bankangestellten, dem mit dem verkniffenen Mund, authentifizierte sich Mike und betrat die kleine Kabine, um sein Schließfach ungestört durchgehen zu können. Er atmete einmal tief durch, bevor er den dünnen Metalldeckel hob.
Ein wildes Durcheinander aus Fotos und Dokumenten. Ein Polizeibericht über ein ausgesetztes Kind. Das drei Jahrzehnte alte Formular, mit dem ihm ein neuer Name zugewiesen wurde. Grundschulzeugnisse. Sein alter Sozialversicherungsausweis. Die Todesanzeige der Couch-Mutter. Ein paar abgegriffene Fotos von ihm und den anderen Jungs aus der Shady Lane. Der Brief mit der Zusage vom College, der ihn so stolz gemacht und den er immer in Ehren gehalten hatte. Der Haftführungsbericht, in dem seine Gefängnisstrafe dokumentiert wurde.
Eine Chronik der lückenhaften Geschichte des Mike Doe.
Die nostalgische Flutwelle erstickte ihn beinahe. Hier lag alles, was von seinem alten Ich geblieben war.
Er wühlte im Inhalt des Schließfachs, bis seine Finger ganz unten auf etwas Hartes stießen. Er hob es vorsichtig heraus. Eine Smith&Wesson 357. Schlicht und einfach in der Handhabe – das einzige Waffenmodell, mit dem er sich jemals wohl gefühlt hatte. Shep hatte es ihm zu Verteidigungszwecken geschenkt, als Mike seine erste eigene Wohnung bezog. Jahrelang hatte er die Waffe in der Schublade seines Nachttisches verwahrt, bis er sie nach Kats Geburt auf Annabels Geheiß hier deponiert hatte. Außerhalb des Schießstandes hatte er die Waffe kein einziges Mal abgefeuert, und er hoffte auch, dass das so blieb. Der Kolben in seiner Hand fühlte sich vertraut und gefährlich an.
Vorsichtig legte er sie auf die Tischplatte.
Dann zog er die leere Plastiktüte aus dem Papierkorb unter dem Tisch und schüttete den Inhalt seines Schließfachs hinein. Nachdem er sich die Tasche über die Schulter geworfen hatte, starrte er einen Moment lang auf den Revolver. Auf dem Weg nach draußen schob er ihn in seine Hosentasche.
Mike kauerte in einer verlassenen Gasse. In der Abenddämmerung wurden die Schatten immer länger, das Heulen des Straßenverkehrs wurde von den Ziegelwänden zurückgeworfen. Die Tür zu seinem Ford stand offen und warf ein Dreieck aus Licht auf den Boden. Die Glasscherben knirschten unter seinen Füßen, als er sich vorbeugte und ein angerissenes Streichholz an eine Ecke der Abfalltüte hielt. Mit glasigen Augen sah er zu, wie die Tüte Feuer fing und kurz aufloderte, wie die Flammen erst das Plastik wegschmolzen und sich dann durch die ganzen Fotos und Dokumente fraßen.
Es gibt keine Vergangenheit.
Aber ganz offensichtlich schien es ja doch eine zu geben.
Am Ende war nur noch ein trauriges kleines Aschehäufchen übrig, das er mit der Schuhspitze in die Luft kickte. Er trat die letzte Glut aus, dann stieg er in sein Auto und fuhr davon.
Annabel ließ die Vorbereitungen fürs Abendessen ruhen, setzte sich auf die Arbeitsplatte und starrte auf die Smith&Wesson in ihrer Hand, die sie auf den Schoß gelegt hatte.
»Es ist ein Revolver«, sagte Mike. »Ganz einfach zu bedienen.«
»Ich hab kein gutes Gefühl dabei, in Kats unmittelbarer Nähe eine Waffe zu haben.« Sie sprach mit gedämpfter Stimme, damit Kat, die in ihrem Zimmer Hausaufgaben machte, sie nicht hörte.
»Komm, ich zeig dir, wie man sie benutzt.« Während das Nudelwasser zu kochen begann, legte er die schlanken Hände seiner Frau um den Kolben, doch sie wich zurück und ließ ihn mit dem Revolver in der Hand stehen.
»Ich fühl mich total unwohl dabei.«
»Wohlfühlen ist jetzt leider nicht mehr drin.«
Kat kam in die Küche geschlendert, ohne den Blick von ihrem Arbeitsheft zu heben. »Oh Mann, diese Divisionen sind so was von nervig! Wenn die wollen, dass wir so schlau werden, dann wäre es doch viel schlauer, gleich einen Taschenrechner …«
Sie blickte auf und ihre Augen waren ganz groß hinter den Gläsern der roten Brille. »Warum habt ihr da eine Waffe? Das ist doch eine Waffe, oder? Hey – eine Waffe in unserer Küche! Was ist denn passiert? Habt ihr schon mal mit der geschossen? Darf ich die auch mal in die Hand nehmen?«
»Geh wieder in dein Zimmer«, brachte Annabel hervor. »Lass uns mal kurz allein, ja?«
Kat wich zurück, ohne die Smith&Wesson aus den Augen zu lassen.
Annabel wandte sich an Mike. »Da hast du’s.« Sie glitt von der Tischplatte, drehte die Herdplatte herunter und warf einen Blick auf das aufgeschlagene Kochbuch, dessen Ränder mit ihrer zierlichen Handschrift bedeckt waren.
Das Telefon klingelte und Mike griff nach dem schnurlosen Apparat.
Hank klang erschöpft. »Ich hab nichts über einen Dodge oder William auf der Preisverleihung rausfinden können, aber das war ja nicht anders zu erwarten.« Er räusperte sich, was in einen Hustenanfall mündete. »Hör zu, ich muss dir jetzt mal kurz was erklären …«
Mike fand die Pause so nervenaufreibend wie die hörbare Anspannung in Hanks Stimme. »Was?«
Annabel drehte sich um, und er zog sie zu sich und hielt den Hörer ein wenig vom Ohr weg, damit sie mithören konnte.
»Tja, ich weiß auch nicht«, sagte Hank. »Noch nicht. Ich hab meinen Informanten im Sheriffbüro angerufen, und es sieht so aus, als wären die Männer zu besonderer Wachsamkeit angehalten worden, was deine Person angeht.«
»Zu besonderer Wachsamkeit angehalten? Was soll das denn heißen?«
»Keine Ahnung. Aber dein Name wurde mit dieser Empfehlung an alle Polizeistationen rausgegeben.«
»Aber weswegen denn?« Mike wurde laut.
»Ich sag dir doch, ich kann diese Fragen noch nicht beantworten.« Ein tiefer, rasselnder Atemzug. »Hör zu, das könnte eine lokale Geschichte sein, die sich auf die L.A. County Sheriffs beschränkt. Oder es könnte sein, dass irgendeine andere staatliche Stelle etwas überwacht, womit dein Name in Verbindung steht, und dass sie darum gebeten haben, informiert zu werden, wenn mit dir irgendwas los ist.«
Mike musste an Elzeys und Markovics gedämpfte Unterhaltung im Hinterzimmer denken, nachdem sie ihr Telefonat beendet hatte, und wie sie zurückgekommen und auf ihn losgegangen waren. »Zum Beispiel? Das FBI? Die CIA?« Mike würgte ein trockenes Lachen hervor. »Wie weitreichend muss ich mir das denn vorstellen? Ist diese Warnung an alle Polizeistationen rausgegangen?«
»Bis jetzt hab ich noch nicht mehr rausfinden können«, sagte Hank. »Die Leute halten sich alle seltsam bedeckt. Scheint ganz so, als wäre das mit Geheimhaltung belegt. Ich muss die Sache ganz behutsam weiterverfolgen und warten, bis ich sie von der richtigen Seite angehen kann. Gib mir noch einen oder zwei Tage.«
»Gibt es irgendeine Stelle, an die mein Name nicht rausgegeben wurde?«, fragte Mike.
»Ich bin sicher, da gibt es jede Menge. Die Behörden – und die einzelnen Polizeistationen – sind unterbesetzt und überarbeitet. Wenn du nicht gerade deinen nächsten Urlaub in Nordwestpakistan verbringst, wirst du ihre Prioritätenliste garantiert nicht anführen. Wir wissen nichts vom Ausmaß dieser Sache, aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass du jetzt plötzlich Staatsfeind numero uno geworden wärst.«
»Und was, wenn wir Hilfe brauchen?«
»Tja, das ist das Problem, nicht wahr? Solange wir nicht herausgefunden haben, wie weit sich die Warnung erstreckt und wer sie ausgegeben hat – wie willst du da wissen, wem du trauen kannst?«
Mike schluckte mit trockener Kehle. »Und wenn Dodge und William in der Zwischenzeit wieder zuschlagen?«
»Nach allem, was ich bis jetzt so eruiert habe, würde ich nicht drauf zählen, dass die Behörden ein offenes Ohr für dich haben würden.«
Er legte auf, und Mike und Annabel starrten sich an.
Annabel griff nach unten und nahm Mike den Revolver aus der Hand. Sie hob ihn ungelenk hoch und wartete mit festem Blick, bis er tief ausatmete und ihre Hände abermals in der richtigen Haltung um den Kolben legte.